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Irma sieht der Frau nach, die ihren Pferdeschwanz energisch in den Nacken wirft. Sie schleppt eine schwere Tasche mit sich herum. Langsam tastet Irma über ihren Unterarm. Sie schiebt den Ärmel des Kleides hoch und besieht sich ihre Notizen. Hört ihren Lateinlehrer. ›Irma, repetiere Lektion 3!‹ Sie lächelt. Warum fällt ihr das jetzt ein? ›Irma, repetiere!‹ Automatisch sondert ihr Gedächtnis den Beginn von Cäsars ›De bello Gallico‹ ab. Gallia omnis divisa est in partes tres. Also funktioniert es doch noch. Sogar das ungeliebte Latein ist in ihrem Gehirn hängen geblieben! Sie glaubt der Diagnose ihres Arztes nicht. Julika hat ihr Bücher über Demenz besorgt, aber Irma rührt sie nicht an. Als könne sich die Krankheit aus den Büchern heraus auf sie übertragen.

Es gibt viel zu vergessen. Aber sie schafft es nicht, das eigentlich Schlimme aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie geht vom Fenster weg und räumt die Gläser und die Flasche in die Küche. Gießt den warm gewordenen Prosecco in die Spüle.

Wo Julika nur bleibt.

Ohne Julika fühlt sie sich leer und einsam. Obwohl sie all die Jahre allein gelebt hat – seit Julika in Landshut aufgetaucht ist, schmerzt jede Stunde der Einsamkeit, die sie in ihrer Wohnung verbringt.

Irma nimmt ihr Handy. Sie hat es zur Vorsicht, nur um nicht verloren zu gehen. Die einzige gespeicherte Nummer ist Julikas. Sie könnte bei ihren Freundinnen vorbeischauen. Wie weit wohl die Vorbereitungen gediehen sind? Seit sie vor langer Zeit aus den USA zurückgekehrt ist, hat sie bei den Förderern der Landshuter Hochzeit mitgewirkt. Die Aufgabe, das Fest mitzutragen, Verantwortung zu übernehmen, war ihr mehr Heimat als die Stadt selbst.

Was ist Erinnerung?, denkt Irma. Ich bin so alt geworden. So alt. Und andere sind so jung gestorben. Lisa zum Beispiel. Mit gerade mal 19 Jahren.

Dabei ist Lisa in Irmas Herzen unsterblich. Sie ist stets gegenwärtig. Ewig jung und zart, schön wie ein Sommerabend. Lisa hätte so wie Julika gut zu den Spielleuten gepasst.

Irma konzentriert sich. Sie sucht ihren Schlüssel, findet ihn schließlich innen im Schloss der Haustür stecken. Vielleicht entdeckt sie Julika, wenn sie bei den Spielleuten vorbeischaut. Irma weiß, wo sie sich vor der Hochzeit tummeln, alle ein bisschen aufgeregt, aber fröhlich, heiter, wie Spielleute sein sollen. Sie mag die Vorführungen der Gaukler und Feuerschlucker, die Kampfszenen, die die sangesfreudigen Reisigen und die Reiter vorführen. ›Himmel Landshut – tausend Landshut‹, denkt Irma, als sie die Tür hinter sich zuschließt. Nein, sie vergisst nicht. Sie trägt schwer an ihrer Schuld. Aber die vergisst sie nicht.

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