51

Es wird wieder Abend und wir sitzen immer noch auf unseren Rädern.

Ich habe aufgegeben zu zählen, wie oft wir abgesprungen sind, um den Tieffliegern zu entkommen. Damit lebe ich besser, habe das Fieber unter Kontrolle. Es schüttelt mich vor Kälte in den nassen Sachen. Jedes Mal, wenn wir wieder aufs Fahrrad steigen, muss ich dir helfen, über die Querstange zu klettern, dich anschieben und dir dann nachkommen. Es wird dunkel, und ich reibe mir beim Fahren die Augen. Die brennen so sehr vom Fahrtwind, das halte ich kaum noch aus. In einem Dorf gibt uns eine Frau Brot und Milchkraut, sie schaut auf meinen Verband, durch den wieder das Blut dringt, aber sie tut nichts, sie sagt, sie könnte kein Blut sehen. Ich müsste fragen, ob sie Verbandszeug hat, und selber den alten Verband abmachen und einen neuen anlegen, aber ich bin zu erschöpft, ich kann kaum denken. Wo sind die Amerikaner, kommen die wirklich? Oder war das eine Falle, um zu sehen, was wir tun werden?

Aber dann wird im Radio gemeldet, dass der Führer auf dem Feld der Ehre gefallen ist. Wir sehen uns an, alle drei. Keine sagt ein Wort.

Lisa und ich, wir wollen weiter. Die Frau sagt, seid’s vorsichtig, Dirndln, draußen treibt sich allerhand Gesindel herum. Wollt’s net bleiben, hier bei mir? Aber wir wollen nur nach Hause.

Es beginnt zu regnen, als wir das Dorf verlassen.

Irgendwann, gegen Morgen, kommen wir auf Landshut zu. Ich erkenne vertraute Biegungen der Straße, Feldwege, die abzweigen, in den Wald führen. Ich lehne mich zurück, will dir zurufen, bald sind wir da, Lisa, da knallt ein Schuss, so laut, so nah, dass sogar meine dröhnenden Ohren schmerzen.

Die Fahrräder hinschmeißen, von der Straße runter und in Deckung gehen ist eins.

Wir kauern im Graben. Sehen uns um, nichts passiert. Wir wagen es, die Köpfe in die Luft zu strecken. Hörst du was, frage ich dich, aber du sagst nichts, schaust verängstigt, und dann zeigst du auf die Straße hinauf. Da kommt jemand. Du wackelst mit den Fingern, trip trap. Ich kneife die Augen zu schmalen Schlitzen. Da läuft einer, ein Mann, der trägt eine Mütze und schultert ein Gewehr, und ich kann nicht mehr, ich will endlich heim.

Der Mann sieht unsere Räder, er bückt sich und späht in den Graben, das Gewehr locker im Anschlag.

Dann sieht er unsere weißen Gesichter.

»Wer ist da?«, ruft er halblaut.

Die Stimme kenne ich. Verzerrt kommt sie in meinen Ohren an, aber ich kenne sie.

»Gustav«, antworte ich ihm. Er stutzt.

»Irma?«

Aber er sieht dich an. Ihr kennt euch. Klar, wenn du bei mir zu Besuch warst, haben wir auch den Gustav getroffen. Der Gustav ist der Nachbarsjunge, der meiner Mutter manchmal im Garten hilft. Nur ein halbes Jahr jünger als ich. Immer haben wir zusammengesteckt.

Gustav klettert zu uns in den Graben.

Du schaust ihn voller Angst an.

Der Gustav, Lisa, ist ungefährlich. Du kennst ihn doch!

»Was tust du hier, Gustav?«, frage ich.

»Und was machst du hier?« Er schaut auf dich, Lisa, mit Augen, die im Dunkeln leuchten. Spricht mit mir und schaut dich an. Das kennen wir zur Genüge, oder?

»Hast du geschossen?«, frage ich. Bekomme Angst, denn wenn nicht der Gustav geschossen hat, wer dann?

»Kaninchen«, sagt er kurz.

Ich bin überrascht. Habe den Eindruck, der Schuss sei aus der anderen Richtung gekommen. Nicht von der Straße, auf der Gustav entlangkam, sondern aus dem Wald, hinter uns. Aber ich kann meinen Ohren nicht trauen. Und so nicke ich nur.

»Dann lass uns weiterfahren, Irma«, bettelst du mich mit furchtsamem Blick an.

»Die haben uns heimgeschickt«, sage ich zu Gustav. »Wir sind seit Tagen unterwegs. Erst mussten wir Dienstpost aus dem Lager in Aidenbach nach München bringen, dann kamen wir zurück, und die Maidenführerin hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.«

»Ja, es stürzt alles ein«, nickt Gustav, sieht nur dich an. Wir sind beide ziemlich ramponiert, du, Lisa, und ich auch. Wie ausgehungert müssen die Männer sein, dass sie an solchen Jammergestalten Gefallen finden.

Ich rappele mich hoch und reiche dir die Hand. Du ergreifst sie, flehend beinahe.

Da kommt der nächste Schuss.

Gustav reißt uns zu Boden.

Kaninchen, was?

»Haltet den Schnabel!«

Ich lande mit dem Gesicht neben einer Pfütze. Du fällst neben mich, Lisa, ich sehe dich heute noch da ausgestreckt, wie du den Kopf hebst und anfangen willst zu schreien. Ich sehe, wie deine Lippen sich öffnen, und ich presse deinen Kopf auf den Boden. Sei nur still, du Verrückte, sei still! Irgendwas stimmt hier nicht, besser, die finden uns nicht. Denn was die im Schilde führen, das wird mir schlagartig klar, während ich Gustavs Gesicht mustere. Er liegt an deiner anderen Seite. Ich drücke immer noch meine Hand auf deinen Kopf. Spüre dein weiches, seidiges Haar zwischen meinen schmutzigen Fingern. Schrei nicht, sei ruhig. Ich brauche deine Ohren, ich höre zu schlecht, kann keine Schritte ausmachen, keine Stimmen, mein Kopf will platzen vom Fieber, und ich zittere vor Kälte.

Die Henkertrupps ziehen durch den Wald, um alles zu erschießen, was sich entfernt von dort, wo es dem Führer noch nützlich sein könnte. Aber dem ist niemand mehr nützlich, der lebt nicht mehr, und ob ich das mit dem Feld der Ehre glauben soll … vielleicht hat endlich einer von den Leuten um ihn den Mut gefunden … ein General, ein Diener, eine Sekretärin, eine Köchin.

Der Schüttelfrost bringt mich um. Mit aller Kraft bäumst du dich auf, Lisa, aber ich halte deinen Kopf. Sei still. Sei nur still. Die sollen uns nicht finden, sonst bringen die uns auch noch um, und wer weiß, zu wem der Gustav gehört. Man kann nie wissen, und so kurz vor dem Ende noch weniger als sonst.

Dann kommt ein weißes Licht auf mich zu, und ich stürze ab, in eine zärtliche, wunderbare Ohnmacht.

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