27

Ich hatte den Sonntag mit Schreiben verbracht. Nero hatte sich nicht mehr gemeldet, und wenn er beleidigte Leberwurst spielen konnte, dann gelang mir das auch. Am Montagmorgen packte ich meine Unterlagen und Irmas Fotos zusammen und fuhr nach Landshut. Kreuzkamp hatte am Wochenende Dienst geschoben und machte den Montag blau. Umso besser für mich.

Er wohnte in einem Ein-Zimmer-Apartment schräg gegenüber des Rathauses mit Blick auf das Treiben der Hochzeiter und die gotischen Prachtfassaden der Giebelhäuser, auf Wimpel und Banner.

»Sie sehen aus, als könnten Sie was Kühles zum Trinken brauchen«, sagte er. »Wie wäre es mit einem Prosecco?«

»Lieber einen Kaffee.« Ich hatte schlecht geschlafen. Neros Abfuhr nagte an mir. Zudem hatte ich erwartet, dass er anrufen oder simsen würde. Zum Teufel mit den psychischen Abstürzen, wenn das Handy nicht piepte.

Kreuzkamp machte sich in seiner Küchenzeile zu schaffen. »Wenn Sie sich nächsten Sonntag den Hochzeitszug anschauen wollen? Bei mir haben Sie einen Logenplatz frei!« Er wies zum Fenster. »Tickets gibt es seit Weihnachten keine mehr. Und wenn Sie sich einfach so an die Straße stellen wollen, müssen Sie im Morgengrauen anrücken und einen Platz besetzen. Natürlich keinen Tribünenplatz. Sondern irgendwo am Straßenrand.«

»Ich denke drüber nach.«

»Wie läuft es mit Irmas Biografie?«

»So lala.«

»Hört sich nach Schreibblockade an.«

»Ich kenne das Wort nicht einmal!«

»Nie eine gehabt?« Er stellte Tassen und eine Zuckerdose auf einen niedrigen Tisch. »Setzen Sie sich. Ich sitze am liebsten auf dem Boden. Archaisch, aber bequem.«

Ich sank auf ein mit einem farbenfrohen indonesischen Tuch überzogenes Sitzkissen.

»Ich bin überzeugt, dass es Schreibblockaden überhaupt nicht gibt. Wer meint, blockiert zu sein, verschiebt nur. Torten backen oder putzen anstatt schreiben, und schon ist man aus dem Rhythmus.«

»Und je weniger man wegschafft, desto mehr kriegt man die Krise und kann immer weniger schreiben«, bestätigte er.

Ich breitete meine Fotos auf dem Tisch aus. »Das ist Lisa.« Ich deutete auf das hoch aufgeschossene, hübsche Mädchen mit dem Band im Haar.

Kreuzkamp hielt sich das Bild dicht vor die Augen. »Genau. Und da haben wir Irma. Klein, dunkel, frech, herausfordernd … so wie ich sie heute kenne.« Er tippte mit seinem schmalen Zeigefinger auf die ältere Frau. »Das ist Irmas Mutter. Sie starb, als Irma gerade in die USA gegangen war. Hatte ziemlich unter ihrem despotischen Ehemann zu leiden.«

»Ach ja?«

»Irmas Mutter, Franzi, die war die gute Seele der Familie. Hat man mir erzählt. Dagegen führte sich der Vater auf wie ein Tyrann. Er zwang Irma zu einer Friseurlehre, und als sie mit ihrer Tochter aus den USA wiederkam, blieb ihr nichts anderes übrig, als im Geschäft mitzuarbeiten.« Kreuzkamp brachte den Kaffee. »Aber auch ihn hat es dahingerafft. Er starb an Krebs. Speiseröhre. Ziemlich schlimm. Irma hat sich um ihn gekümmert, aber sie war erleichtert, als alles vorbei war.«

»Kein einfaches Leben.«

»Aus ihrer Generation hatte keiner ein einfaches Leben«, dozierte Kreuzkamp und gab Zucker in seine Tasse.

»Aber sie wirkt so … positiv«, warf ich ein. »Energiegeladen. Tatkräftig. Trotz der Verwirrtheit.«

»So habe ich sie kennengelernt. Vital und lebhaft. Sie hat die Geschicke dieser beschaulichen Stadt mitbestimmt. Ihr Geheimnis ist, glaube ich, dass sie einfach das Beste aus allem macht.«

»Und Sie? Sie sind nicht aus Landshut. Nicht mal aus Bayern.«

Er grinste. »Wie steht’s mit Ihnen?«

»Aus Bayern.«

»Hört man aber nicht.«

»Also?«

»Ich bin Ostwestfale. Einer von den knöchernen, hölzernen Typen, die hochdeutsch sprechen. Bin zufällig hier gelandet und versuche, auf meine Weise mit dem Kulturschock fertig zu werden.«

»Wer ist der Knabe auf dem Foto?« Ich hielt ihm den Abzug unter die Nase, der Irma, Lisa und den etwa gleichaltrigen Jungen zeigte.

»Keine Ahnung.« Er kniff die Augen zusammen. »Das könnte … warten Sie.« Er ging zum Regal und nahm einen Stapel Papiere heraus. »Meine Recherchen zu meinem Buch. Darüber sollten wir noch sprechen, Frau Laverde. Kea.«

Mir war es lieber, wir blieben beim Nachnamen. Mein Körper machte ohnehin Meldung. Das Kribbeln im Unterleib, das blieb einfach bei einem Exemplar wie Kreuzkamp nicht aus. Obwohl ich mir nie viel aus Cary Grant gemacht hatte. Aber wenn er leibhaftig vor einem stand … was sollte eine junge Frau dann tun? Gegen die Natur aufbegehren? Das funktionierte nie.

Er wühlte in Papieren, Fotos, Aufzeichnungen, Notizzetteln. Das übliche Chaos, das ich von Auftraggebern kannte, die es selbst versucht hatten, bevor sie meine Nummer gewählt hatten.

»Ich habe Fotos von einigen meiner Gesprächspartner bekommen. Kinderfotos.«

Ich sah seinen Händen zu, wie sie die Bilder sortierten, und dachte daran, wie Neros Hände mich von Anfang an betört hatten. Scheiße. Nero.

»Hier. Das könnte er sein.«

Die Aufnahme war nicht besonders gut. Der Junge, der an eine Scheunenwand gelehnt dastand, blinzelte gegen das Licht. Dennoch. Ich war mir sicher, als ich Irmas Aufnahme danebenhielt. »Das ist er.«

»Gustav Kirchler. Ein alter Landshuter.«

»Einer Ihrer Gesprächspartner?«, erkundigte ich mich.

»Nein. Er weigert sich standhaft. Ich habe das Foto von seiner Schwester bekommen. Traudl. Sie ist ein anderes Kaliber als er.«

»Wen können wir nach dieser Lisa fragen?« Ich trank meinen Kaffee aus. Draußen zogen Wolken auf. Ein Gewitter trieb auf die Stadt zu.

»Fragen wir den Kirchler. Vielleicht ist das der richtige Moment, um ihn aufzutauen.«

Leute, die nicht reden wollten, ließen sich nicht einfach auftauen, wie Kreuzkamp es nannte. Viele Menschen hatten sich einfach zu gut im Griff. Es kam darauf an, den richtigen Moment abzupassen und das eine und einzige Thema zu servieren. Eines, das die Seele rührte. Dann sprudelten sie los.

»Gehen wir?« Ich hatte mich aus meiner halb liegenden Position auf Kreuzkamps buntem Kissen aufgerappelt.

»Sie sind wirklich dynamisch«, sagte Kreuzkamp, während er seine Sachen zusammenschob und achtlos unter den Tisch rutschen ließ. So ging ich mit meinen Arbeitsmaterialien nicht um. Bei mir war alles akribisch geordnet. Kein Wunder, dass er mit seinem Projekt nicht vorankam.

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