56

»Spreche ich mit Penelope Cohen?«, fragte Nero auf Deutsch.

»Yes?«, kam die Antwort.

Er wechselte ins Englische.

»Mein Name ist Nero Keller, ich bin Polizist. Landeskriminalamt München.«

»Oh.«

Gegen das Knistern in der Leitung sprach er weiter: »Sind Sie die Schwester von Julika Cohen?«

»Natürlich. Sie ist tot. Ich weiß. Meine Mutter hat mir Bescheid gesagt.«

Das klang mehr als nüchtern. Nero hätte selbst bei zwei Schwestern, die sich verabscheuten, ein wenig mehr Gefühl erwartet. »Ihre Mutter ist mittlerweile in Landshut eingetroffen. Sie berichtete, Sie seien auf einer Südamerikareise. Ist das korrekt?«

»Ja, ich bin in Argentinien. Wenn ich es mir hätte leisten können, wäre ich nach Deutschland geflogen. Wenigstens zur Beerdigung. Aber die Flüge sind verdammt teuer.«

Nero konnte sich nicht vorstellen, dass er zur Beerdigung einer seiner Schwestern nicht kommen würde, und wenn er sich mit dem Hubschrauber aus dem Himalaja ausfliegen lassen müsste. »Julika hat in den letzten Wochen vor ihrem Tod mehrmals mit Ihnen telefoniert. Worum ging es da?«

»Sie hat angerufen, weil sie über unsere Großmutter forschte. Julika mochte Großmutter sehr gern. Viel lieber als Mom.«

Kein Wunder, dachte Nero, der Irma zwar nie kennengelernt hatte, von Elizabeth Cohen aber nicht viel hielt. »Sie und Julika – Sie waren sich nicht grün, nicht wahr?«

»Das hat Mom behauptet, oder?«, erwiderte Penelope. »Aber sie weiß kaum etwas über uns, seit wir ihr Haus verlassen haben. Julika und ich haben uns vor Jahren versöhnt.«

Nero meinte, sie leise weinen zu hören. »Worüber forschte Julika?«

»Sie hat Tagebücher gefunden. Von Großmutter. Eigentlich ging es um eine ganz alte Geschichte«, sagte Penelope. »Großmutter hatte ein Trauma aus dem Krieg. So würde ich das nennen. Sie sprach nie darüber. Julika wollte Psychologie studieren. Deswegen ging sie nach Deutschland. Weil sie … nun, sie fühlte sich nie wohl in den USA. Ich kann das verstehen. Ich habe auch nach jedem Strohhalm gegriffen, um wegzukommen. Dafür hänge ich zurzeit in Südamerika fest.«

»Sprechen Sie kein Deutsch?«, fragte Nero.

»Doch, aber nicht so gut wie Julika. Julika hat mit Mom nur deutsch gesprochen. Obwohl Mom das eigentlich nicht wollte. Zumindest als wir klein waren, fand sie es wichtig, mit uns englisch zu sprechen. Wir sollten ja in den Staaten groß werden.«

Nero beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Yoo Lim mit zwei Kaffeebechern den Raum verließ. Sofort fühlte er sich leichter.

»Als wir älter waren, tat es Mom mit einem Mal leid, dass sie das Deutsche so von sich abgekoppelt hatte«, fuhr Penelope fort. »Und mit der Sprache auch ihre deutsche Kindheit. Immerhin ist sie drüben aufgewachsen.«

»Kann es sein, dass Julika zu ihren Wurzeln zurückwollte?«

»Das war der eine Grund, warum sie nach Landshut zog. Aber der andere war der wichtigere: Sie liebte Großmutter. Eine instinktive und bedingungslose Liebe. Großmutter gab ihr das Mütterliche, Zärtliche, das Mom nie hatte.«

»Erzählen Sie mir mehr über Julikas Recherchen.« Nero dachte an die Telefoneinheiten, die durch den Zähler liefen, und an seine Meinung über die Steuerlast in Deutschland. Egal, dachte er. Das ist eine Mordermittlung.

»Großmutter muss zum Ende des Krieges hin etwas Schlimmes erlebt haben. Sie hat jemanden sterben sehen, haben wir gedacht, Julika und ich. Ich habe mich nie mit der deutschen Geschichte befasst. Julika hatte mehr Interesse. Sie fragte Großmutter oft aus, wenn sie zu Besuch war. Sie kam jedes Jahr zu uns. Julika wich dann nicht von ihrer Seite.«

Yoo Lim kam zurück und stellte einen dampfenden Becher Kaffee vor Nero ab. Er ignorierte sie.

»Dann fanden wir heraus, dass Großmutters beste Freundin die letzten Kriegstage nicht überlebt hatte. Das tat Großmutter noch so weh, dass sie nicht darüber sprechen konnte. Sie fing manchmal an, etwas darüber zu erzählen, aber dann brach sie ab. Ich glaube nicht, dass sie Angst hatte, uns zu viel zuzumuten. Sie brachte die entscheidenden Sätze einfach nicht über die Lippen. Julika wollte rauskriegen, was Großmutter so quälte. Aber vor allem wollte sie bei Großmutter sein. Sie suchte … nun, sie suchte ihre Nähe und ihre Liebe. Um die zu bekommen, war sie zu allem bereit.«

»Was wissen Sie noch über Julikas Nachforschungen? Ihre Schwester hat Sie einen Tag vor ihrem Tod angerufen. Worüber haben Sie gesprochen? Versuchen Sie, sich so genau wie möglich zu erinnern.«

»Sie hat einen Mann kennengelernt. Einen Journalisten. Der behandelt wohl ein ähnliches Thema. Schreibt ein Buch über die Generation, die das Kriegsende als Kinder erlebt hat. Aber Julika meinte, der Typ hätte nicht so den Durchblick und würde sich in zu vielen Einzelheiten verzetteln. Sie wusste, dass mich das interessieren würde, und wollte mir bei Gelegenheit eine Mail mit Texten schicken. Aber dazu kam es nicht mehr«, schluchzte Penelope.

»Warum sollte das Thema Sie interessieren? Sie sagten doch, Sie hätten sich nichts aus deutscher Geschichte gemacht.«

»Aus der journalistischen Perspektive. Mir schwebt etwas Ähnliches vor. Ein Serie über Menschen zu schreiben, die in südamerikanischen Militärdiktaturen aufwuchsen.«

»Hatte Julika eine sexuelle Beziehung zu diesem Mann?«

»Nein! Julika mag keine Männer. Sie liebt Frauen. Aber ich habe manchmal den Eindruck gehabt, das könnte sich noch ändern. Sie ist – war – keine so überzeugte Lesbe.«

»Aber an ihm war sie definitiv nicht interessiert? Als Mann?«

»Nein. Sie fand ihn ziemlich albern. Er sah aus wie Cary Grant. Darüber hat sie Witze gerissen.«

Scheiße, dachte Nero.

»Julika hat ein Forsthaus entdeckt, irgendwo in einem Dorf in der Nähe von Landshut. Dort haben Großmutter und Mom mal für kurze Zeit gewohnt. Julika stellte fest, dass noch Tagebücher, Briefe und alte Fotos unserer Großmutter dort lagerten. Anscheinend ist das Haus am Zusammenfallen und niemand hat sich darum gekümmert, es zu erhalten.«

»Wo genau liegt das Haus?«

»Keine Ahnung.«

»Na gut«, sagte Nero. »Danke für Ihre Zeit. Eventuell melde ich mich noch mal.«

»Egal wann. Ich kann ohnehin nicht schlafen.«

Nero hörte, wie Penelope sich die Nase putzte. Erschrocken dachte er an die Zeitverschiebung.

»Ich habe Sie aus dem Bett geholt.«

»Wie gesagt – seit ich weiß, dass Julika ermordet wurde, kann ich kaum schlafen. Macht nichts. Das geht vorbei.«

Soviel Resignation fand Nero bei einer jungen Frau ungesund.

»Aber noch was fällt mir ein«, sagte Penelope und räusperte sich. »Julika meinte, das Haus würde einen seltsamen Eindruck auf sie machen. Weil das Erdgeschoss komplett verrammelt ist. Mit neuen Schlössern.«

»Danke, Penelope. Bis bald.« Nero dachte allen Ernstes daran, Penelope das Flugticket nach Deutschland vorzustrecken.

»Julika war lesbisch«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Yoo Lim, doch die Kollegin antwortete: »Ach?«

Der spöttische Unterton ging Nero auf den Keks. Er verließ das Büro. Den Kaffee ließ er stehen.

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