20

Kreuzkamp und ich saßen am Isarufer und sahen zu, wie das schlammige Wasser eine Menge Holz mit sich trieb. Nach dem ganzen Regen genoss ich die Sonnenstrahlen, die sich zaghaft durch die Wolkendecke streckten. Ich schlang mein Haar zu einem Knoten und stülpte meinen Panamahut über die dicke, dunkle Pracht. Kreuzkamp lächelte mir amüsiert zu.

»Pressekonferenz«, erinnerte ich ihn. Ich hatte keine Lust, mit ihm über die Hutmode der vergangenen 50 Jahre zu diskutieren.

»Die Kripo schießt sich auf ein Hacker-Szenario ein«, erläuterte er schläfrig.

Ich dachte an Nero. Vermutlich war er bei der Pressekonferenz dabei gewesen. Hing sicherlich länger an diesem Fall. Kreuzkamp wollte ich nicht danach fragen. In seiner Gegenwart fühlte ich mich nackt und hinterfragt. Keine Ahnung, auf welchen Typ Frau er stand, aber meine Rundungen schienen ihm zuzusagen. Ich trug eine enge 7/8-Jeans und ein über der Brust gerafftes, knallrotes Shirt und gefiel mir darin. Vorbei die Zeiten, als ich meine Formen unter wallenden Stoffbahnen verborgen hatte. Ich dachte an die Buddha-Diät, die daheim auf meinem Schreibtisch darauf wartete, gargekocht zu werden, und musste grinsen.

»Was ist so komisch?«

»Ach, nichts. Haben Sie eine andere Theorie?«

Kreuzkamp setzte eine Sonnenbrille auf seine Nase, für die selbst Al Capone einen Waffenschein benötigt hätte. »Theorie ist zu viel gesagt. Ich mache mir meine eigenen Gedanken.«

»Soll gesund sein.«

»Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wer diese Lisa sein könnte, von der Sie sprachen. Haben Sie nicht ein paar Ansatzpunkte mehr?«

»Nein. Lisa war Irmas Freundin, die mit ihr zum Reichsarbeitsdienst musste. Wahrscheinlich in etwa der gleiche Jahrgang.« Vergeblich versuchte ich, seine Augen hinter den pechschwarzen Brillengläsern auszumachen. »Also eine potenzielle Interviewpartnerin für Sie!«

»Ja, das Projekt. Meine Kriegskinder.« Es klang beinahe zärtlich.

Ich blätterte durch die Landshuter Zeitung, die er mitgebracht hatte. Sein Artikel, unterzeichnet mit dem Kürzel MaK, war der Aufhänger.

»Haben Sie die Leiche gefunden?«, fragte ich.

»Ich habe einen Tipp bekommen. Als ich zum Fundort kam, war die Polizei schon da. Weil sie mich kennen, haben sie mich durchgelassen, unter der Bedingung, dass ich Julika nicht fotografiere.«

Ein Kostümierter mit posaunenartigem Blechteil unter dem Arm radelte an uns vorbei.

»Eine Busine«, sagte Kreuzkamp, als hätte er meine Gedanken gehört. »Ein ursprünglich aus dem Orient stammendes Instrument. Sagen wir, eine Blechtrompete. Eine lange.«

Ich wagte einen Schuss ins Blaue. »Julika Cohen hat Sie bei Ihrem Projekt unterstützt, nicht wahr? Jetzt fehlt sie Ihnen für Ihr Buch.« Vielleicht auch privat, fügte ich für mich hinzu.

»Julika kam aus den USA zurück, um sich um ihre Großmutter zu kümmern. Außerdem wollte sie in Deutschland studieren. Aber zuerst plante sie, ein paar Monate bei Irma zu verbringen. Ihre Oma hat ihr viel von früher erzählt. Julika kam es so vor, als würde ihre Großmutter irgendetwas quälen. Als trauerte sie, nun da sie alt und vergesslich wurde, immer noch um etwas. Was das auch sein mag, Julika hatte den Eindruck, es habe mit einem Erlebnis am Kriegsende zu tun.«

»Es ist nicht so selten«, sagte ich, »dass diese Generation zum Lebensende hin feststellt, was sie all die Jahrzehnte in der Seele versenkt hat.«

»Anders wären diese Menschen auch nicht weitergekommen. 1945 konnte man sich nicht bei einem Psychofritzen aufs Sofa legen!« Kreuzkamp lehnte sich zurück, stützte sich auf die Ellenbogen und sah auf den Fluss hinaus. Die Pose war absolut übernatürlich. »Sie haben sich in die Arbeit gestürzt. Vor allem die Frauen mussten alles doppelt machen. Die Kinder groß kriegen, ohne den Vater, ohne Geld, mussten schuften bis zum Umfallen. Irgendwann waren sie dann wer, hatten vielleicht sogar einen neuen Partner gefunden. Sie hatten etwas erreicht. Jahrzehntelang konnten sie wenigstens darauf stolz sein. Aber als sie dann alt wurden, die Kinder aus dem Haus waren, die Pflichten sich dezimierten, die Lebensgefährten und Freunde starben, da stürzten sie erneut ab. Ein neues Trauma ruft ein altes wach. Ist das nicht so eine Binsenweisheit?«

»Mag sein.« Verstohlen legte ich die Hand auf meine rechte Seite. Sie war von einer Bombe zerfetzt worden. Glück oder Gottes Zeigefinger hatten mich überleben lassen. Hatten noch ein paar Zentiliter Blut in meinem Körper aufgespart, damit ich es bis zum Krankenhaus schaffte, wo die ägyptischen Ärzte mich zusammenflickten. Mit einer Sepsis im Körper schwebte ich wochenlang zwischen Leben und Tod. Ein altes Trauma, ständig am Überkochen. Kaum zu verbergen. Weder die körperlichen noch die seelischen Narben würden je unsichtbar werden.

»Irma weiß, was ihr bevorsteht. Alzheimer ist eine schlimme Geschichte. Aber Irma ist eine starke Persönlichkeit, sie lässt sich nicht unterkriegen. Julika war ihr Ein und Alles. Sie war ihr näher als ihre Tochter. Die Großmutter, die an die Enkelin glaubt, mit einer solchen naiven Hartnäckigkeit, als würde alles, was Julika anfasste, zwangsläufig zu Gold.«

»So ein Glaube kann einen durchs Leben tragen.«

Kreuzkamp sah mich an. Sein Blick ruhte einen Moment zu lang auf meinem Busen.

»Hat an Sie niemand geglaubt?«, fragte er. Anzüglich oder mitfühlend. Oder beides. Wieder stahl sich das spöttische Lächeln auf seine Lippen.

»Woher wissen Sie so gut über Irma Bescheid?«

»Ich habe mich einige Male mit Julika getroffen. Um ehrlich zu sein, ich wollte sie als Koautorin für das Buch über die Landshuter Kriegskinder gewinnen.« Er nahm die Brille ab und sah mich durchdringend an. »Frau Laverde, vielleicht halten Sie mich für neurotisch oder … kurz und gut, ich schätze, die Polizei irrt sich. Julika wurde nicht wegen ihres dämlichen Freundes und einer Software umgebracht.«

Ich wandte den Blick ab und sah aufs Wasser. In den Süden fahren, den Sommer auf der Haut fühlen. Mich von Träumereien durch den Tag tragen lassen. Zarten Abendwind und einen Rotwein vor dem Einschlafen genießen. Und jemanden zum Lieben mitnehmen.

»Haben Sie mit Ihren Recherchen in einen Termitenhügel gestochen?«, fragte ich und versuchte, meine Stimme heiter klingen zu lassen.

»Das vermute ich.« Dicke, graue Wolken schoben sich vor die Sonne. »Wollen Sie mitschreiben, Frau Laverde?« Kreuzkamp sah mich an. »An meinem Buch?«

Er schaffte es nicht. War ein Chaot, einer, dem es pressierte, einer, der die Disziplin nicht aufbrachte, um die gute Idee zu gedruckten Seiten zu machen. Das kannte ich zur Genüge.

»Journalisten geben normalerweise keine Leckerbissen ab«, sagte ich.

»Lassen Sie sich doch nicht so bitten! Ich hänge im Tagesgeschäft. Sie könnten sich ein paar Wochen freischaufeln.«

»Ich arbeite nur gegen Bezahlung.«

»Darüber einigen wir uns.«

Ich sah ihn an. Die Fassade gefiel mir. Aber das, was dahinter lag, interessierte mich nicht besonders. Sein Angebot war dermaßen durchsichtig. Kreuzkamp war einer, der nur die kleinen Sachen schaffte. Seine Artikel auf den letzten Drücker fertig bekam und damit nie völlig zufrieden war. Einer, der sein Leben lang im Tagesgeschäft festkleben würde.

»Ich denke darüber nach«, sagte ich und stand auf. Klopfte mir die Jeans sauber. »Man sieht sich.«

»Gehen Sie zu Irma?«

»Machen Sie es gut!«

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