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Sie vermisst Julika. Beinahe panisch zeichnet Irma alle Telefonnummern auf ihrem Unterarm mit einem schwarzen Edding nach. Sie hat den ganzen Vormittag telefoniert. Alle ihre Freundinnen gefragt, ob sie wissen, wo Julika ist. Sie hat keine genauen Auskünfte bekommen. Irma rotiert. Sie läuft durch die Wohnung, trinkt Wasser aus dem Hahn. Sie muss dringend ihre Haare waschen, doch dabei muss Julika ihr helfen. Niemand anderen lässt sie mehr an sich heran. Wenn Julika sie in den Arm nimmt, wird die Schuld leichter. Diese schreckliche Schuld, dieses dunkle Gebilde aus Angst. Ich habe es nicht gewollt. Wenn ich sterbe, werde ich dafür geradestehen müssen. Doch in Julikas Arm, da kommt es Irma vor, als könnte sie sich verlieren. Aber sie kann ja nicht verloren gehen, solange Julika sie hält, die große, schöne, blonde Julika, die so nordisch aussieht, dass sie damals, in der schlimmen Zeit … daran will Irma nicht denken. Glücklich ist, wer vergisst.
Irma möchte in eine andere Zeit wechseln. Sie sieht sich gern den Landshuter Hochzeitszug an. Eine ihrer Freundinnen sorgt dafür, dass sie einen Platz auf einer Tribüne in der Altstadt bekommt. Dann denkt sie oft, sie könnte als Edeldame, nein, besser als Marketenderin leben. Sie will zurück, 500 Jahre zurück in die Vergangenheit, im Dunkel der Kostümfalten verschwinden, in einer Zeit, als es noch keine Lisa gab, als sie nicht schuldig war. Eine Zeit ohne Schmerz. Irma atmet schwer. Sie ist nicht mehr jung. Aber das ist ihr egal. Wenn sie es nur wieder gutmachen könnte. Sie liebt Julika so sehr. Dass sie Julika in dieser Intensität vermisst, das ist die Strafe. Die Strafe für die Sache mit Lisa.