23

Irma Schwand trug das altbekannte Blümchenkleid. Am Ausschnitt waren ein paar Flecken zu sehen, als habe sie Kaffee verschüttet. Ihre funkelnden Augen sahen mich an. Verstand sie, was passiert war? Ich war mir nicht sicher. Meinte, eine dunkle Traurigkeit in ihrem Blick zu sehen, aber das konnte Einbildung sein. Sie roch nach Schweiß. Endlich wagte ich zu fragen: »Frau Schwand? Wo lebt Lisa heute?«

»Lisa lebt nicht mehr.« Irma tastete über ihr Kleid. Ihre schlanken Finger spielten mit der Gemme.

»Wann ist sie gestorben?«

»Zu früh, mein liebes Kind, viel zu früh.«

»Haben Sie Aufzeichnungen? Tagebücher von damals? Haben Sie ein Foto von Lisa?«

Irma stand auf und suchte lange in ihrem Schrank herum, einem dunklen Monster auf Löwentatzen, aus dem der Geruch strömte, der mich high machte: alte Papiere, lang vergessene Notizbücher, Briefe auf brüchigem Papier. Sie schleppte einen Karton zum Tisch, fuhr mit der Hand hinein und rührte darin herum wie in einer Lostrommel. »Ich wollte die Sachen einordnen, aber ich komme nicht mehr dazu.«

»Nicht mehr?«, fragte ich, bevor ich mich daran hindern konnte.

»Wann sollte ich das tun?« Sie schob mir den Karton zu. »Nehmen Sie ihn mit. Ich brauche ihn nicht mehr.«

»Aber Ihre Tochter will doch sicher …«

»Julika. Julika ist die Richtige. Aber meine Tochter wird das nicht verstehen. Meine Tochter Elizabeth. Elizabeth Cohen.« Sie sprach den Namen englisch aus und lachte verschmitzt. »Eine Amerikanerin durch und durch. Ich darf nie mehr Lisa sagen.«

»Haben Sie Ihrer Tochter den Namen Ihrer Freundin gegeben?«

Irma Schwand lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich bin müde. Lassen Sie mich ein wenig allein, ja? Aber kommen Sie wieder. Wir sind noch nicht fertig.«

Ich klemmte mir den Fotokarton unter den Arm und ging.

In der Altstadt war richtig was los. Ganz im Ernst dachte ich darüber nach, hierher zu ziehen. Der Charme einer kleinen Stadt im Ausnahmezustand fing mich ein. Zwei Moriskentänzer drängten sich an mir vorbei. Von Weitem hörte ich Trommler. Vorsichtig balancierte ich meinen Karton durch das Gedränge. Ein Mann stieß mich an und lächelte mir entschuldigend zu. Er war barfuß und trug Stelzen auf seiner Schulter. Beim Rathaus gaben Jongleure eine kleine Vorführung. Ich blieb eine Weile stehen. Die heitere Stimmung steckte mich an. Irma hatte recht: Die Begegnung mit den Hochzeitern in ihren mittelalterlichen Kostümen war wie ein Sprung in eine andere Zeit. Eine Gruppe Kinder, die Mädchen mit Buchskränzchen auf den Köpfen, die Jungen mit langem Haar unter den Kappen, pflügte durch die Menge, winkte und rief ihr fröhliches »Hallooooo!«

Was ist überhaupt Zeit, dachte ich, als ich zum Parkhaus auf die Mühleninsel abbog.

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