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»Nein, die Landshuter Hochzeit hat noch nicht angefangen«, rief ich ins Telefon, während ich staunend die Schaufensterdekorationen der Läden betrachtete. Braut und Bräutigam als Knetfiguren, Handpuppen, Marionetten. Birken neben allen Eingängen. Die Mutigeren hatten Bambus aufgestellt. Unerträgliche Schwüle unter grauem Himmel. »Aber ich habe die Schnauze voll von Ratgebern, deswegen bin ich hier.«
Das Fest der Landshuter Hochzeit inszenierte die Eheschließung zwischen dem bayerischen Herzog Georg dem Reichen und der polnischen Fürstentochter Hedwig, die 1475 als politische Ehe arrangiert wurde. Zwei christliche Fürstenhäuser vereint gegen die Bedrohung durch die Türken. Einem ganzen Heer von Chronisten hatte es die Nachwelt zu verdanken, dass die Umstände dieses mehrtägigen Spektakels in allen Einzelheiten überliefert waren. Besonders gut gefiel mir der Gedanke, als Landshuter Bürger eine Woche lang zechfrei aus der herzoglichen Küche versorgt zu werden. Ich dagegen hatte mir eine Portion Kasnudeln im ›Hofreiter‹ einverleibt, die mir bei der Schwüle im Magen lagen wie rostige Nägel.
Nero antwortete irgendwas, das ich nicht verstand, weil ein Pulk Schülerinnen kreischend an mir vorbeistöckelte. In letzter Sekunde wich ich einem Schild aus, das auf die Tribünenzugänge in der Altstadt hinwies. Obwohl in drei Tagen Landshuts größtes Fest steigen würde, wirkte alles noch sehr dezent. Das mochte auch an dem seit Tagen andauernden Regenwetter liegen. Ich bog in die Altstadt ein und sagte: »Ich rufe dich später zurück!«
Beinahe erleichtert legte ich auf. Nero Keller, mein Gefährte seit letztem Herbst, um nicht zu sagen mein Freund, das klang so pubertär, Nero hatte eine Menge gute Seiten, aber eine fehlte ihm: Er verstand mich nicht. Konnte sich in meinen Beruf nicht hineinversetzen. Ihm fehlte der Bezug zum Schreiben, obwohl er Literatur und Kunst mochte. Nein, Nero war kein Proll oder verknitterter Bürokrat, aber er schrieb nicht und so kannte er auch nicht das beruhigende, erdende Gefühl, wenn die Hand in Bewegung geriet und schrieb. Schreibend vergewisserte ich mich, dass die Welt einen Sinn hatte. Anders gelang mir das nicht.
Irma Schwand wohnte in der Spiegelgasse, gleich hinter der Sankt-Martin-Kirche. Ich klingelte.
Die Frau, die mir öffnete, war etwa in Julianes Alter. Allerdings weniger unkonventionell. Wo Juliane mit ihrer knabenhaften Figur Jeans trug, mit frechen Sprüchen bedruckte T-Shirts und das Haar als fransenkurzen Raspelschnitt, stand nun eine Dame vor mir: geblümtes Kleid, hochgeschlossen, mit weißem Kragen und Gemme. Perlenkette, passende Ohrstecker. Sie stand ein wenig gebeugt da, kleiner als ich, von den Jahren niedergedrückt, und lächelte mich an.
»Frau Laverde, schätze ich? Kommen Sie herein.« Sie führte mich in eine enge, ungelüftete Wohnung mit altmodischen Möbel aus Chintz. »Es freut mich, dass Sie kommen konnten. Setzen Sie sich.« Sie machte eine energische Handbewegung, erinnerte mich dabei an eine Lehrerin, die Generationen von Kindern das Fürchten gelehrt hatte. »Befassen wir uns gleich mit dem Geschäftlichen. Ich nehme an, meine Geschichte wird Sie zwei Abende hier festhalten. Insgesamt wird sie vielleicht 50 Buchseiten in Anspruch nehmen. Die Bedingungen habe ich Ihnen ja genannt. Wie viel verlangen Sie?«
»700 Euro pauschal«, sagte ich. »50 Prozent sind sofort zahlbar. Der Rest nach Fertigstellung.«
»Gut.« Irma Schwand strich sich über das gewellte, sorgfältig gekämmte weiße Haar und ging zu einer Kommode, deren oberster Schublade sie einen Umschlag entnahm. »Bitte. Hier sind 1.000 Euro. Rechnen Sie den Rest als Spesen.«
Ich nahm die nagelneuen Hunderteuroscheine heraus und sagte: »Fahrtkosten, Materialkosten und so weiter sind in die 700 eingerechnet, Frau Schwand.« Ich legte 300 auf den Tisch, den Rest steckte ich in meine Schultertasche und packte meine Geisterausrüstung aus. Ein Sony-Aufnahmegerät, digital natürlich, meinen Clairefontaine-Notizblock, einen Satz grüne Bleistifte, Stärke HB, einen Lamy-Kugelschreiber, und sah Irma Schwand an. »Erzählen Sie einfach drauflos!«, forderte ich sie auf.
»Möchten Sie was trinken? Es ist ja mächtig warm.« Sie stand auf und ging davon. In der Küche hörte ich sie rumoren, dann kam sie mit einer Flasche Prosecco und zwei Gläsern zurück.
Sehnsüchtig sah ich zum Fenster. »Macht es Ihnen was aus, wenn wir ein bisschen frische Luft reinlassen?« Mir klebte das T-Shirt am Leib.
»Aber absolut nicht.« Irma Schwand lächelte. »Ja, mit dieser Diagnose muss ich nun leben. Ich bin dabei, meine Sachen zu ordnen. Muss mir überlegen, was noch getan sein will und was nicht. Aber diese Geschichte will ich noch loswerden. Es ist eine alte Geschichte. Ich bin Jahrgang 1927, das war eine ganz dumme Zeit, um geboren zu werden. Infiltriert von dem ganzen Nazimist schleppten wir uns durch unsere Jugend. Als es vorüber war, war ich 18, und alles war kaputt.« Sie seufzte. »Zum Wohl, trinken wir!«
Ich hob mein Glas. Die Stimmung musste passen, die Kundin sich entspannen, Zunge und Gedächtnis mussten gleichermaßen gelöst ihre Arbeit verrichten. Um Irma Schwand nicht am Warmwerden zu hindern, schwieg ich und sah ihr zu. Ihre von dicken Adern durchzogenen kleinen Hände konnten nicht stillhalten. Unaufhörlich tasteten sie über das Kleid, die Tischplatte, zupften an dem Etikett auf der Proseccoflasche. Alzheimer. Wie zurechnungsfähig war sie?
»Dass etwas mit meinem Gedächtnis nicht stimmt, merkte ich, weil ich immer wieder Dinge vergesse, die ich mir gerade noch vorgenommen habe«, sagte Irma. »Inzwischen habe ich mich in einem Seniorenheim angemeldet, für den Fall, dass ich zu schnell abbaue und nicht mehr zurechtkomme. Meine Tochter lebt in den USA mit einer meiner Enkelinnen. Die zweite, Julika, wohnt in Landshut. Für sie ist diese Geschichte, die ich Ihnen nun erzählen will.«
Ich nickte.
»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.«
»Habe ich Angst vor Ihnen?«
»Es ist nicht so, dass ich unzurechnungsfähig bin. Es ist nur … ich verliere leicht den Faden. Werde nervös, so wie jetzt, aber das liegt an Ihnen und Ihrem Gerät da.« Sie lachte. »Immerzu suche ich meinen Schlüssel. Deswegen habe ich ihn nun ständig in der Tasche.« Sie tastete über ihr Kleid. »Aber er ist nicht da!«
Das Erschrecken in ihrem Gesicht entsetzte mich. »Sollen wir Ihren Schlüssel suchen?«
»Ach, ich weiß.« Sie streifte den Ärmel hoch. Auf ihrem bläulich schimmernden Unterarm standen Wörter, Zahlen, einzelne Buchstaben. Der ganze Arm war beschrieben. »Julikas Telefonnummer«, sie deutete auf eine Kolonne Ziffern, »die meiner Hausärztin. Was war noch mal …« Ihr rechter Zeigefinger fuhr zögernd über eine andere Notiz.
»Frau Schwand«, sagte ich halblaut, »wir wollten doch über diese Geschichte sprechen, für die Sie mich bezahlt haben.«
Irmas Blick kehrte zu mir zurück und verwandelte sich von Ratlosigkeit in ein überschwängliches Lächeln. Ich bekam das Gefühl, sie spielte mir etwas vor. Sie nahm die Flasche, wollte mir eingießen, stutzte, als sie sah, dass mein Glas noch fast voll war.
»Sie trinken ja nichts.«
Mir klebte die Zunge am Gaumen, und die Kasnudeln bildeten einen Klumpen in meinem Magen. Aber darauf kam es nicht an. Ich nahm einen Bleistift in die Hand, setzte ihn aufs Papier, schrieb ›Irma Schwands Geschichte‹, lehnte mich zurück und wartete.