33

»Bist du verrückt? Wie soll ich das machen?« Nero hörte sich ungehalten an.

»Elisabeth Halbwachs«, wiederholte ich geduldig. »Aus München. Geboren 1927 oder 1926. Um den Dreh. Kannst du mir helfen oder nicht?«

»Wo fummelst du da rum?«

»Ich fummle nicht, ich mache meine Arbeit.« Er verstand nicht. Seine Arbeit war in seinen Augen richtige Arbeit. Polizeiarbeit. Meine Arbeit war Spaß und Spannung, Fiktion, nichts Echtes: schreiben.

»Hast du mir sonst etwas zu sagen?«, fragte er.

Ich glaubte, nicht richtig zu hören. »Was meinst du?«

»Hast du eine Affäre?«

Ich musste lachen. »Nein, verdammt!«

»Aber du ziehst mit diesem Schauspielerverschnitt herum.«

Woher er das nun wieder hatte. In Kleinstädten wucherten alle Arten von Gerüchten, aber an diesem war garantiert nichts dran. Das wäre mir aufgefallen, wenn ich was mit Cary Grant hätte.

»Falls du auf den Lokalmatador der Landshuter Zeitung anspielst: Der schreibt ein Buch über Kriegskinder. Die Generation, die 1945 ungefähr 18 war. Sein Hobby. Wir haben in Sachen Recherchen zusammengeschmissen, weil mein neuer Auftrag und sein Projekt artverwandt sind.« Dabei fiel mir ein, dass Nero sich noch mit keiner Silbe nach meinem Landshuter Auftrag erkundigt hatte. Grund genug, auf der Eingeschnappt-Skala ein paar Teilstriche weiter nach oben zu wandern.

Nero grummelte irgendetwas. Diese Angewohnheit regte mich auf: Zwei, drei Sätze vor sich hinzumurmeln, so leise und undeutlich, dass ich sie garantiert nicht verstehen konnte, weil ich sie nicht verstehen sollte.

»Was ist?«, fragte ich ungeduldig.

»Nichts.«

»Aha.«

Das war es, was ich hasste, was ich nie wieder gewollt hatte. Spielchen. Nervereien. Rollenspiele nach dem Beziehungslibretto. Unfähigkeit zu klaren Aussagen.

»Hilfst du mir jetzt?«

»Wenn du mich brauchst …«

Nero fühlte sich nicht gerne übergangen, und dies war seine Art, es zu zeigen.

»Verdammt, Nero, mach es nicht so kompliziert. Können wir uns treffen?« Lass uns reden, dachte ich, aber dieser blöde Satz nervt, den wollte ich nie mehr aussprechen, ich habe genug geredet in diesem Leben. Ich schreibe lieber.

»Ich melde mich.« Drei Worte, und er legte auf.

Hätte ich nun im Supermarkt Regale einräumen müssen, wäre das kein Problem für mich gewesen. Ich hätte mich einfach an die Arbeit gemacht. Aber schreiben, mit Wut und Verwirrung im Bauch, Selbstvorwürfen, die aus alten Tagen stammten, und dem Gefühl, irgendwo einen Fehler gemacht zu haben? Gänzlich unmöglich. Schreiben funktionierte nur, wenn ich auch selbst im Fluss war, im Gleichgewicht wenigstens, und das war mir höllisch durcheinandergeraten. An diesem aufgeblasenen, unprofessionellen Kreuzkamp-Grant lag mir nichts. Er rief nur ein paar körperliche Reaktionen hervor. Wozu hatte man schließlich Hormone! Ich schnappte mir mein Handy, verließ das Haus und legte mich auf meine Gänseweide. Austerlitz und Waterloo interessierten sich nicht für mich. Sie waren am Teich mit gegenseitiger Federpflege beschäftigt. Ich beneidete sie. Sie waren lebenslang treu. Das gehörte zu ihrem genetischen Programm, stand einfach außer Frage. Ich dagegen hatte die freie Wahl, ob ich dem Mann, den ich – keine Ahnung, liebte? – treu sein wollte oder nicht. Freier Wille ist was ganz Blödes, dachte ich und rief Juliane bei ihrer Schwester an.

»Ach, Keachen, wie gut, dass du dich meldest.« Juliane holte tief Luft. »Heute morgen habe ich Dolly zum Neurologen geschleppt. Sieht düster aus. Wahrscheinlich Alzheimer.«

»Woher weiß der das?«

»Sie musste eine Uhr zeichnen.«

»Eine Uhr?« Ich drehte mich auf den Bauch und rupfte ein paar Gänseblümchen aus.

»Das ist ein Test. Wenn du nicht mehr bei Trost bist, ist deine Uhr unnormal«, erläuterte Juliane.

»Ich verstehe kein Wort. Was für eine Uhr? Eine Wanduhr, Kirchturmuhr, Armbanduhr?«

»Du wärest durchgefallen, Schnullerbäckchen.«

»Aber ich hab kein Alzheimer.«

»Die Psycho-Heinis wollen ein genormtes Zifferblatt sehen. Ziemlich einfach, ja? Zahlen von 1 bis 12, 12 muss oben stehen. 6 unten. Dann noch zwei Zeiger. Super.«

»Und?«

»Dolly hat es nicht hingekriegt. Ihr Zifferblatt ging bis 32 und war an der Seite offen. Und sie malte nur einen Zeiger.«

»Würde ich kreativ nennen«, warf ich ein. »Ein Tag mit 32 Stunden, den hätte ich bitter nötig.«

»So habe ich bis heute früh auch gedacht.«

»Scheiße, Juliane. Was wirst du jetzt machen?«

»Nun: Ich bin die einzige Person von mehreren Milliarden Menschen auf dieser runden Kugel, die die Pflicht hat, einzugreifen. Dolly ist nicht mehr imstande, ein selbstständiges Leben zu führen. Alles hängt an mir.«

»Kann ich etwas für dich tun?«

»Schick mir ein anderes Leben. Per Einschreiben.« Juliane legte auf.

Ich blieb eine Weile in der Sonne liegen. Dann rappelte ich mich auf, ging ins Haus, steckte die Gänseblümchen in ein Schnapsglas und hockte mich an den Computer. Das WWW erklärte mir alles, was ich über Alzheimer wissen musste. Ich überflog die einzelnen Informationen, bis ich zur Quintessenz fand: dem Verlust eines Menschen. Sein Körper blieb, sein Ich verschwand. Und irgendwann baute auch der Körper ab. Blieb der Schluckreflex weg, half nur noch die Magensonde.

Vielleicht hätte ich es gar nicht so schlecht getroffen, wenn ich damals auf dem Sinai umgekommen wäre. Trotz der Schwüle überlief mich ein Schauder. Da kam die Sehnsucht nach der Schulter hoch, an der ich mich im Notfall festhalten wollte. Das war ganz gewiss nicht die von Cary Grant. Höchstens die von Juliane, aber ich hatte keine Chance; meine herzgeliebte Adoptivmutter würde den Abgang machen, bevor ich Alzheimer bekam, so viel war klar.

Mein Telefon klingelte. Ich dachte mit Schrecken an die Kundin, die mir die Buddha-Diät anvertraut hatte. Aber es kam noch schlimmer: Nero.

»Elisabeth Halbwachs«, begann er, ohne ein Wort der Begrüßung, »geboren am 27.12.1925 in München. Die Mutter hieß Franzi Halbwachs, geborene Salzacher, der Vater Georg Halbwachs. Vermisst seit 1943. Die Mutter, Jahrgang 1900, starb 1987. Elisabeth starb am 3. April 1945. Sie ist ertrunken.«

»Ertrunken?« Mein Gesicht brannte. Ich hatte zu lange in der Sonne gelegen.

»Steht hier.« Nero schwieg.

»Danke«, sagte ich halbherzig. »Wo sind die beiden begraben?«

»Auf dem Münchner Nordfriedhof, aber das Grab wurde 1997 aufgelassen.«

»Und gibt es Verwandte?«

»Kea, du machst mich wahnsinnig.«

»Aber darauf kommt es mir an! Dass beide tot sind, das weiß ich …«

»Franzi Halbwachs hatte keine weiteren Kinder. Aber eine ältere Schwester namens Sieglinde, und die hatte fünf Kinder, vier Mädchen und einen Jungen. Der Junge kam auch nicht heim. Ist 1939 in Polen gestorben. Von einem Unbekannten mit einem Messer angegriffen und getötet.«

»Lisas Cousinen!« Ich machte mir Notizen. »Wie hast du das rausgekriegt?«

»Ich habe jemanden gebeten, es herauszukriegen. Ich kenne ein paar Leute.«

»Danke! Wie heißen die Cousinen und wo finde ich die?«

»Liebe Kea, die Damen sind alle zwischen 1915 und 1920 geboren.«

»Leben sie noch?«

»Nur eine. Helga Geraldy. Jahrgang 1919. Versuch dein Glück.«

Er gab mir eine Münchner Adresse durch. Ich bedankte mich noch einmal. Wie artig ich war!

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