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»Das Lagerleben«, sagte Irma Schwand, strich sich durch das weiße Haar und nickte versonnen, »war mir von jeher die liebste Veranstaltung auf der Landshuter Hochzeit. Gaukler und Spielleute. Spaßvögel und Schalke. Haben Sie den Palisadenzaun an der Isar gesehen? Man glaubt ja manchmal an einen Zeitsprung. Gegenüber steht Karstadt und auf der anderen Seite marschieren die Landsknechte auf.« Sie lachte frech und sah mich mit ihren dunklen Augen an, als erwarte sie Widerspruch, als brüte sie noch eine hintergründige Bemerkung aus. Doch dann schwieg sie. Sehr lange. Ihr Blick verlor sich.

Mein Aufnahmegerät schaltete ab, wenn kein Input kam. Es besaß mehr Geduld als ich. Viel mehr. Ich durchlief gerade keine allzu geduldige Phase. Die Nervosität krabbelte meine Beine hinauf bis zum Becken. Ich schlug ein Bein über das andere. Das Kribbeln wanderte durch meinen Bauch, die Wirbelsäule hinauf. Meine Finger spielten Klavier auf dem Notizbuch, das ich auf dem Schoß hielt.

Ich hatte eine Menge über die Landshuter Hochzeit im Internet nachgelesen. Typischerweise entwickelte sich daraus in meinem Kopf sofort eine Geschichte. Ich stellte mir vor, wie die fürstlichen Boten die Hochzeitseinladungen zur Verwandtschaft brachten, wie die herzoglichen Einkäufer Schmuckstücke und allerlei andere Kostbarkeiten als Geschenke für wichtige Gäste kauften und dafür eigens nach Köln und Straßburg reisten. Das heftigste Herzklopfen jedoch hatte wahrscheinlich die einwöchige Verspätung des Brautzuges ausgelöst.

»Wussten Sie, dass der Kaiser nichts schenken wollte?« Wieder trug Irma das geblümte Kleid und den Schmuck. Ihre Füße steckten in schweinchenrosa Pantöffelchen. »Peinlich! Der Markgraf musste ihm beibringen, dass ihm das ziemlich ungünstig ausgelegt werden würde, daraufhin rückte der Kaiser eine Brosche heraus. Er schätzte sie auf 1.000 Gulden, aber angeblich war sie nur die Hälfte wert.«

»War er ein Geizhals? Oder bloß pleite?«, fragte ich.

Lange Stille.

»Sie wollten mir etwas erzählen, Frau Schwand«, half ich nach einer Weile nach. Mir war heiß. Die stickige Luft konnte ich kaum ertragen. Von der Straße klang der Lärm von Aufbauarbeiten herauf. Ich hatte mich getäuscht. Ich würde sehr viel mehr Abende hier verbringen als jene zwei, die Irma vorgesehen hatte.

»Ich habe meinen Amerikaner geheiratet«, sagte sie lachend. »Ich hieß Powell. Irma Powell. Aber dann starb mein armer Robert, und ich kehrte nach Deutschland zurück, mit meiner Tochter. Das war eine schwere Zeit damals. Mein Vater führte ein Friseurgeschäft, in dem ich gelernt hatte, als junges Mädchen. Da blieb mir nun, weil ich jung verwitwet war, nichts anderes übrig als wieder Haare zu waschen und zu legen und zu schneiden und mir das Getratsche anzuhören, diese vielen kleinen Geschichten und Sticheleien, verstehen Sie? Denn wenn man aus der großen weiten Welt zurückkehrt … Ich habe später, erst mit fast 60 Jahren, wieder geheiratet. Den Heinrich, einen netten Kerl, den habe ich mehr geliebt als meinen ersten Mann.«

Ich sah auf Irmas Beine. Sie waren durchsetzt von Krampfadern, die sich wie fleischige Würmer unter der Haut krümmten. So sehe ich irgendwann auch aus, dachte ich. Wenn ich überhaupt so alt werde. Aber Juliane sah nicht so aus. Was bedeutete es schon, wie man aussah.

»Manche in der Stadt haben mir nicht einmal geglaubt, dass ich als Witwe aus Amerika zurückkehrte. Die dachten, ich hätte dort drüben mit den Männern meinen Spaß getrieben und mir ein Kind machen lassen. Die Leute denken immer das Schlechteste.« Irmas dunkle Augen funkelten. »Jedenfalls kehrte meine Tochter zum Studium in die USA zurück, lernte einen Mann kennen, und so hat sich die Familie nach Übersee verlegt. Ich habe gerne dort gelebt.«

»Warum ist Ihre Enkelin zurück nach Landshut gekommen?«

»Julika?« Irma strahlte. »Julika ist ein ganz besonderer Mensch. Sie ist nicht wie die anderen. Sie ist … sie besitzt …«

Ich wartete. Dass Irma ihre Enkelin über alles liebte, war mit Händen zu greifen. »Sie wollten mir etwas erzählen«, setzte ich nach einer Weile wieder an.

»Ja. Da haben Sie recht.« Irma streifte die Plüschpantoffeln ab, zog die Beine mit unerwarteter Gelenkigkeit an und begann, ihre Zehen zu massieren.

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