22

Fliegeralarm. Der Abend bricht herein. Die Stadt ist geisterhaft still, nur die Sirene heult.

Deine Augen sehen mich an. Ich soll sagen, wohin, richtig, Lisa? Mich auf die neue Lage einstellen, in Sekunden. Ich nehme deine Hand und wir laufen die Straße entlang. Irgendwo muss ein Luftschutzraum sein, aber die meisten Häuser sind zerstört und in der zunehmenden Dunkelheit sehen wir keine Hinweisschilder. Wir rennen. Ich stolpere über einen toten Hund, und du hältst mich, damit ich nicht falle. Weiter. Die Sirene jagt uns. Hörst du auch das Brummen der Flugzeuge, Lisa? Mir zittern die Knie. Nicht sterben. Ich habe mir fest vorgenommen, zu überleben. Neben mir höre ich dich murmeln. Betest du, Lisa, während wir über die dunkle Straße hetzen, Löchern und Hindernissen in letzter Sekunde ausweichen, in die Ferne lauschen? Betest du?

Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen.

Ein Psalm, Lisa? Du betest einen Psalm?

Dann kommen sie. Flugzeuge. Hunderte, wahrscheinlich. Zu Hause in Landshut haben wir die Geschwader oft über den Himmel ziehen sehen. Hoch oben haben sie ihre Todesfracht an ihr Ziel gebracht.

Wir biegen in einen Innenhof, rennen an Trümmern entlang, einem ausgebrannten Autowrack, sehen einen Schatten an einer Mauer entlanghuschen. Ein Tier rast vor unseren Füßen davon, in die Schatten.

»Ein Marder«, flüsterst du.

Der hat es gut, der Marder. Er ist schnell, er sieht besser in der Dunkelheit als wir, er ist kleiner, er findet leichter ein Versteck, und im Zweifel kommt er da auch wieder raus. Hat schon mal jemand etwas über verschüttete Marder gehört? Im Ernst, Lisa. Und zu deinem Entsetzen lache ich über den Gedanken mit dem Marder wie über einen Witz, den ich mir gerade selbst erzählt habe.

»Was ist denn?«, wisperst du.

»Marder«, sage ich und pruste los.

Da sagst du etwas, das ich nie vergessen werde.

»Du bist genauso!«, sagst du, vorwurfsvoll beinahe. »Wie ein Marder. Du entkommst immer.«

Ich weiß nicht, was du meinst. Ich entkomme immer? Wie kannst du sicher sein, Lisa?

»Und furchtlos bist du, wie eine Katze«, flüsterst du, während wir uns aneinander festhalten, um über das Geröll vor uns zu klettern. »Marderkatze!«

»Mädchen!«, ruft jemand.

Die Bomben fallen, irgendwo am Stadtrand. Wir hören die Detonationen, spüren den Boden unter unseren Sohlen vibrieren.

»Mädchen!« Ein Mann tritt aus dem Schatten. Ein Soldat, der ein Streichholz anreißt. »Hier rüber!« Sein Gesicht, das ich im Schein des Streichholzes kurz sehen kann, ist völlig entstellt. Narben überall. Sein linkes Auge ist hinter einer Binde verborgen. »Kommt hier rüber, verdammt! Was macht ihr denn!«

Du faselst von Dienstpost, aber er sieht uns ohnehin an, wer wir sind. Wir sind die Mädchen, die man für Todeskommandos der Bürokratie einsetzen kann. In einem Land, wo alles auf Listen steht, mit einer Kennziffer versehen.

Die Detonationen kommen näher, und ein rötlicher Schein leuchtet von Westen her in die Stadt, als würde es auf der falschen Seite Morgen.

Der Soldat streckt die Hand aus und hilft uns über den Schuttberg. Ich reiße mir das Knie auf, aber dich, Lisa, hebt er hoch. Er hebt dich mit zwei starken Armen über den Hügel aus Dreck, Trümmern, Staub und Steinen. Ich krieche hinterher, auf allen vieren, dann packt er mein Handgelenk und zerrt mich in einen Hauseingang. Wir stolpern die Treppe zum Keller hinunter. Du zuerst, dann ich, dann der einäugige Soldat.

Der Luftschutzkeller ist voller Soldaten. Sie sitzen da, schweigen, starren uns an. Starren dich an, Lisa, und dein Haar leuchtet rot wie ein Fliegenpilz im Schein der Karbidlampe.

Die Bomben krachen. Die Männer rücken zusammen, wir setzen uns auf die Holzbank. Die ist einfach an die Wand genagelt. Die Wände zittern. Ich denke an den Marder. Der wird sein Stübchen gefunden haben, wo er ausharrt, und wenn alles vorbei ist, findet er genug zum Fressen. Mein Magen knurrt.

Die Soldaten haben Brot und teilen mit uns. Sie wirken nicht freundlich, aber das hat nichts mit uns zu tun. Sie können einfach nicht mehr. Sie sitzen da in ihren schmutzigen Mänteln und warten nur noch ab, dass sie in Gefangenschaft geführt werden. Lieber zu den Amis, nicht zu den Russen. Wir sind in Bayern, zu uns kommen die Amerikaner, die Nachrichten verbreiten sich ja doch, und selbst du, Lisa, kennst die Geschichten, die überall ans Licht kriechen. Deutschland ist bald nicht mehr. Ein Land, das es nicht mehr gibt, das einfach von der Landkarte verschwindet, aber mir ist das egal, ich kaue an dem trockenen Brot, das der Einäugige mir hinhält, und als ich noch ein Stück nehmen darf, streift meine Hand kurz seine Finger und mir ist, als wenn etwas ganz Neues passiert. Ich sehe ihn an, er sieht mich an. Mich, die Kleine, die Dunkle. Ja, kuschle dich nur an meine Schulter, Lisa, wie du es immer tust. Und ich lege meinen Arm um dich, das machen wir so, um uns zu trösten, in dem bedrückten Schweigen. Du suchst Trost bei mir, und ich finde ihn, indem ich dich tröste. Aber diesmal spüre ich nicht dein Zittern, ich höre dich nicht leise weinen, ich sehe nur dem Soldaten in sein eines Auge, das ist weit aufgerissen und gerötet. Er sieht mich an, und irgendetwas verbindet uns. Die Todesgefahr, die Angst, der Wahnsinn. Das kennen wir alle, die wir diese Bombennächte durchgestanden haben. Die wir die Wellen an Detonationen gespürt haben, die die Wände erschüttern, die fernen Schreie aus anderen Kellern gehört haben. Manche von uns saßen gleichgültig da, andere brüllten wie Vieh. Das Auge des Soldaten zieht mich durch diese Stunde, in der die Bomben auf uns niedergehen. Wir hören etwas bersten. Die Wände beben. Die Karbidlampe flackert. Ein Auge. Ein Mann, der mich ansieht und nicht dich, Lisa.

In meinem Kopf brummt etwas, und ich höre in meinen Ohren das vertraute Sausen, diesen hohen Ton, der mich verfolgt, wenn ich Angst habe. Wenn ich raus will, mit aller Kraft raus, laufen, nur weg, aber meine Vernunft mich hält. Sein Auge. Sein eines Auge.

Dann rütteln die Wände, die Karbidlampe kippt um und erlischt.

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