18

Nero rief gerne früh vor der Arbeit an. Dies tat er auch am Samstagmorgen. Samstags arbeitete er selbstverständlich auch, wenn Not am Mann war und die Welt der Kriminaler seiner bedurfte. Meine Hand tastete nach dem Telefon auf dem Bettvorleger.

»Hallo?«, krächzte ich.

»Habe ich dich geweckt?«

»Ich bin gerade erst eingeschlafen.«

»Entschuldige. Du wirst es nicht glauben. Ich war gestern auch in Landshut.«

»Ach!« Ich richtete mich auf. Vor meiner Nase baumelte ein Haiku von Onitsura, das ich erst vor Kurzem auf Architektenpapier getuscht hatte: Mit Kormoranen / taucht meine Seele unter / und auf im Wasser. Ich liebte die japanischen Dreizeiler und klammerte die Papierfähnchen mit meinen Lieblingsversen an die Wäscheleine über meinem Bett. Unbeholfen schob ich den Bogen beiseite und fragte: »Ist es wegen dem Mord? An der jungen Frau?«

»Woher weißt du das?«

Neros Stimme schnitt wie ein frisch geschliffenes Fleischmesser durch die Leitung. Blitzschnell überschlug ich meine Chancen.

»Ich habe gestern nach dem Interview bei meiner Auftraggeberin einen Journalisten getroffen. Der hat mir davon erzählt.«

»Ach so.« Nero atmete tief durch.

Seit der Sache mit der Gräfin, einem ziemlich stressigen Auftrag, bei dem ich angefahren worden war und außerdem ein Irrer seinen Bluthund auf mich gehetzt hatte, war Nero reichlich dünnhäutig.

»Die Landshuter haben eine obskure Software bei dem Mordopfer entdeckt«, sagte er. »Das behältst du aber für dich.«

»Klar.« Gähnend rieb ich mir das Gesicht. Wenigstens vertraute er mir.

»Wann sehen wir uns?«, wollte er wissen.

»Ich … muss heute noch mal nach Landshut.«

»Tja, dann … willst du heute Abend bei mir in der Nordendstraße vorbeikommen?«

»Gute Idee.«

»Bis dahin.«

»Ciao!«

Wir legten auf. Nero wohnte in einer Wohnung mitten in Schwabing, günstig gelegen für alle kulturellen Unternehmungen in München. Ich persönlich würde mich dort nicht wohlfühlen. Die Straßenbahn ratterte förmlich durchs Wohnzimmer, und der ganze Stress und Verkehr der Großstadt würde mich in die Psychose treiben. Pro forma hielt ich noch ein WG-Zimmer ganz in der Nähe, dachte aber darüber nach, es aufzugeben und das Geld zu sparen. Ab und zu übernachtete ich bei Nero, wenn wir in die Oper oder ins Kabarett gingen. Ich hatte den Eindruck, er erwog, bei mir einzuziehen. Doch dazu war ich noch nicht bereit. Zwar war es Neros Kindheitstraum gewesen, in der Metropole zu ankern. Gleichzeitig hielt er aber nichts von einer Beziehung, die auf getrennten Wohnungen beruhte. Ich dagegen kam damit gut zurecht. Ich hatte Nero als meinen Geliebten und meinen Beschützer. Aber ich war auch frei. Obwohl ich seit dem vergangenen Herbst mit keinem anderen Mann mehr geschlafen hatte, geisterte manchmal das Begehren nach Abwechslung durch meinen Körper, machte sich als Kribbeln, als konfuse Sehnsucht, als süßsaurer Geschmack auf meiner Zunge bemerkbar.

Einschlafen konnte ich nicht mehr. Nach mehreren sinnlosen Versuchen stand ich auf, duschte und cremte mich mit Lotion für die reife Haut ein. Juliane würde sich kaputtlachen.

Trotz aller Kosmetik sah ich mit meinen knappen 40 aus wie eine geschmolzene Blutwurst. Ich setzte Kaffee auf, schmierte mir ein Honigbrot und ging hinaus zu meinen Gänsen. Seit ich vor über einem Jahr ein Snuff-Video von einem unbekannten Geflügelmörder erhalten hatte, schloss ich Waterloo und Austerlitz nachts in den Stall. Nun trollten sich die beiden Grauen über die Wiese zu ihrem Teich.

Mein Haus schmiegte sich an einen weitläufigen Hügel. Etwas oberhalb meines Grundstücks erstreckte sich ein lichter Wald. In die andere Richtung sah ich über die Landstraße nach Ohlkirchen, den nächstgrößeren Ort. Der Kirchturm leuchtete warm in der Morgensonne. Weiter westlich lagen Pferdekoppeln, auf denen sich den Sommer über eine ganze Sippschaft Islandponys herumtrieb. Ich atmete tief durch. Was für ein herrlicher Fleck Erde. Nero konnte sich auf den Kopf stellen: Hier würde ich nicht weggehen. Die paar Nachteile, die das Landleben mit sich brachte, konnte ich leicht akzeptieren. Auf das Auto angewiesen zu sein, zum Beispiel. Auch dass mein Haus nicht gerade preisverdächtig war, machte mir nicht viel aus. Ich erhob die Schäbigkeit dieses 60er-Jahre-Bungalows einfach zur Philosophie. Mittlerweile hatte er innen wie außen an Ansehnlichkeit zugelegt, was vor allem Neros Akkuratesse zu verdanken war und seiner geradezu kindlichen Begeisterung für Baumärkte. Wir hatten im Frühjahr den Garten auf Vordermann gebracht, und Nero hatte mich überzeugt, endlich die Auffahrt pflastern zu lassen, damit wir an Regentagen nicht mehr durch den Morast waten mussten.

Ich ging ins Haus, goss mir Kaffee ein, kaute mein Brot und rief meinen Landshuter Kollegen an.

»Kreuzkamp?«, rief er aufgeräumt in den Hörer.

»Ich höre, Sie sind Frühaufsteher«, sagte ich.

Nach einer knappen Sekunde hatte er sich gefangen.

»Frau Laverde?«

»Genau. Haben Sie zwei Minuten?«

»Für Sie immer.«

Schmeichler! Kein Wunder, wenn man wie Cary Grant aussah.

»Sie haben von Ihrem Projekt erzählt«, sagte ich. »Die Sache mit den Kindern des Krieges.«

Er schwieg. Wollte mich weichkochen.

»Sagt Ihnen der Name Lisa etwas? Oder Elisabeth?«

»Wissen Sie auch den Nachnamen?«

»Eben nicht.«

»Jemand aus Landshut?«

»Möglich, aber nicht sicher.«

Kreuzkamp lachte leise. »Sie haben den Namen von Irma. Nun werden Sie nicht knurrig. Warum kommen Sie nicht her und wir plaudern von Angesicht zu Angesicht?«

»Wie sieht es mit der Mordermittlung aus?«

»Wenn Sie hier sind, bringe ich Ihnen die heutige Ausgabe der Landshuter Zeitung mit.«

»Sie haben Erfahrung im Auswerfen von Ködern.«

»Wir von der Journaille wissen, wie so was funktioniert. Kupfern schon als Volontäre die Tricks von den Großen ab.«

»Ich komme«, sagte ich. »Wo finde ich Sie?«

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