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Unheimlich! Kreuzkamp durchschaute mich bis ins Mark. Er hatte mir einen saftigen Knochen hingeworfen und wusste nur zu genau, dass ich dem nicht widerstehen konnte. Mistkerl. Ebenso machte er mir durch seine großzügige Geste begreiflich, dass ich viel besser als er in der Lage sei, aus dem launischen Kirchler die eine oder andere Kostbarkeit herauszukitzeln. Komplimente standen mittlerweile unter Artenschutz. Also nahm ich, was ich kriegen konnte. 20 Minuten später fuhr ich auf den Kirchler’schen Hof. Ein Schlepper stand quer vor der Haustür. Kirchler kletterte gewandt herunter.
»Was wollen Sie schon wieder?« Er belastete sich wirklich nicht mit Höflichkeit.
»Helfen Sie mir?«
»Erbenermittlerin!« Er lachte ein graues, freudloses Lachen. »Sie schreiben eine Geschichte. So wie der Preuße, der Kreuzkamp. Euch Schmierfinken rieche ich gegen den Wind, auf Kilometer, wenn es sein muss.«
»Wir versuchen die Gunst der Stunde zu nutzen und Zeitzeugen zu sprechen, solange sie uns noch einen Einblick in eine Zeit geben können, die meiner Generation und denen nach uns auf ewig verschlossen sein wird.« Meine Fresse, solche Sätze kriegte ich sonst nur zustande, wenn ich ein Glas Rotwein intus hatte.
»Sie schmieren mir ganz schön Honig ums Maul.« Er wischte sich die Hände an den Arbeitshosen ab. »Also, zehn Minuten. Kommen Sie rein.«
Teilsieg Nummer eins. Ich folgte ihm in eine niedrige Küche, wo er sich an einen langen Tisch setzte. Ich ließ mich ihm gegenüber nieder. Nebenan lief ein Fernseher in voller Lautstärke.
»Meine Gerda hört nicht mehr so gut«, kommentierte Kirchler. Er griff nach einem halb vollen Bierglas. Mir bot er nichts an.
»Man hört des Öfteren, dass gegen Ende des Krieges eine Reihe von Leuten auf mysteriöse Weise umgekommen wären«, begann ich.
»Den ganzen verdammten Krieg über sind Leute abgekratzt. Da wurde gestorben wie im Rausch!«
»Aber es ist korrekt, dass gerade in den letzten Kriegswochen ab und zu mal einer an einem Baum aufgeknüpft wurde!«
Seine hellen Augen sahen mich aufmerksam an. »Ja. Das ist passiert. Bei uns im Gymnasium, da war ich vor ein paar Jahren mal als Zeitzeuge eingeladen. Die Kinder stellten die gleichen Fragen wie Sie.« Er nickte düster. »Ich selbst habe nur einen baumeln sehen. Ich war 18. Eigentlich hatte ich Glück. Ich habe nicht viele Tote gesehen.«
»Wie war das eigentlich, in den letzten Kriegstagen, bevor die Amerikaner kamen?«
»Wie das war?« Er musterte seine rissigen Hände. Dieser Mann hatte richtig geschuftet in seinem Leben, keine Frage. »Ab und zu hat mal einer von unseren Leuten eine Bemerkung fallen lassen. Wir sollten uns überlegen, wo wir uns in Sicherheit bringen, wenn … na, wenn wir schnell weg müssen.«
»Hatten Sie Angst?« Manchen Kunden musste man die schwierigsten Fragen ganz direkt stellen. Angst gehörte zu den wirklich großen Themen. Wer wollte schon zugeben, dass er Angst gehabt hatte, egal in welchen Situationen. Aber bei vielen löste die Frage dasselbe aus, wie bei Kirchler: eine gewisse Erleichterung, gefragt worden zu sein, und deswegen endlich reden zu können.
»Klar hatten wir Angst. Wir wussten ja nicht, was die mit uns machen würden. Die Nazis, die kannte man. Auch diejenigen, mit denen man am liebsten nichts zu tun hatte.«
Ich wartete.
»Nachher, als sie uns die Bilder von Auschwitz zeigten, da hatte ich das Gefühl, betrogen worden zu sein. Um meine Jugend, mein ganzes Leben.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »War’s das?«
»Wie hat man gelebt in jenen Tagen?«, fragte ich.
»In Unsicherheit. Wir mussten später, als die Amis da waren, aus unserem Haus raus. Da kamen drei Offiziere, Quartiermacher. Aber bis dahin … eigentlich war uns fast alles egal. Hauptsache, wir lebten noch. Mir war damals definitiv alles gleichgültig. Ich wollte am liebsten nichts mehr mitkriegen. Hatte mir die Tage vorher damit vertrieben, im Wald auf Kaninchenjagd zu gehen.« Er biss sich auf die Lippen.
»Kaninchenjagd?«
»Wir hatten Hunger. Es gab ja nichts! Nichts! Buchstäblich nichts. Meine Mutter war schwach, die brauchte was zum Essen, aber woher sollten wir das nehmen? Meine Schwester hat bei Bauern um Mehl gebettelt und Brot gebacken. Ich habe ab und zu Kaninchen geschossen. Nachts, im Wald, wie gesagt. Und dabei ist meine Mutter jedes Mal irre geworden vor Sorge, dass mir was zustößt. Damals sind Leute durch die Nacht gezogen, um Deserteure aufzuknüpfen.« Er schob sein leeres Glas weg. Seine Hände zitterten.
»Wie muss man sich das vorstellen? Wer ist da durch den Wald gezogen? Um Deserteure einzufangen?«
»Ich weiß nicht.« Er räusperte sich.
Sehr unwahrscheinlich, dachte ich. Im Gegenteil. Wem bist du begegnet, als du im Wald Kaninchen geschossen hast? Die Menschen denken, wenn sie so tun, als wüssten sie gar nichts, wären sie aus dem Schneider. Sind sie aber nicht.
»Ich frage mich, ob Lisa vielleicht einer politischen Rachetat zum Opfer gefallen ist«, wagte ich mich vor.
»Lisa? Fangen Sie damit wieder an? Von Lisa weiß ich nichts.«
»Aber Sie waren doch befreundet. Sie und Irma. Oder?« Ich dachte an das Foto, auf dem die drei als Kinder zu sehen waren. »Auch Lisa gehörte dazu. Sie wohnte ja eine ganze Weile bei Irma.«
Sein Blick wurde dunkel. »Sie müssen jetzt gehen.«
Nebenan dröhnte der Tagesschau-Jingle.
»Schade.« Ich erhob mich.
»Und Sie brauchen auch gar nicht wiederzukommen«, rief er mir nach, während ich durch den langen Flur zur Haustür ging. »Ich weiß nichts.«