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Die Lehre des Karma besagt, dass die Biografie eines Menschen seine Leiden und seine Not determiniert. Ich persönlich hing dieser Theorie nicht an. Aber ich hatte ein wenig darüber gelesen, im Zusammenhang mit der Buddha-Diät. Weil das Primatenhirn komplex gestrickt war, raste mir der Gedanke an das Karma als Erstes durch die Synapsen, als ich zu mir zurückfand. Der Morgen dämmerte schon, kein Wunder, wir hatten ja Sommer, Anfang Juli, da wurde es gar nicht richtig dunkel.
Ich wollte mich auf den Rücken wälzen. Würgte, spuckte. Mein Mund war trocken wie Pergament. Es gelang mir, das Taschentuch auszuspucken. Mein Rücken schmerzte brutal. Ich versuchte mich aufzurichten, aber das ging nicht. Meine Hände waren fest mit meinen Fußknöcheln verschnürt. Ich lag da wie ein Embryo. Bewegungsunfähig. Die letzten Tage im Bauch der Mutter. Bevor du ausgestoßen wirst, um ein für alle Mal mit dir selbst zurechtzukommen. Mit deinem Kummer und den beschissenen Fehlern, die du nie wieder gutmachen kannst. Mit dieser ganzen verdammten Sehnsucht nach Liebe, die du nie bekommen wirst. Dein ganzes Leben nicht. Alle Befriedigungen sind nur Trostpflästerchen. Alibis. Bonbons, um dich bei Laune zu halten, bis alles zu Ende ist.
Meine Jeans hing auf Halbmast. Ich keuchte. Durst. Zuallererst hatte ich Durst. Die schlimmste Panik, die mich sofort überfiel und mir den Schweiß über den Körper trieb, war diese: Ich verdurste. Ich stellte keine Fragen. Nicht wer, warum, warum ich. Da war nur Angst.
Große Gefahren waren eine Chance, wieder auf die alten Instinkte unserer Ahnen und nahen Artverwandten zurückzugreifen. Auszuprobieren, wohin es einen führte, wenn man sich nicht auf den Verstand verließ, sondern den Eingebungen aus den ältesten Teilen unseres Hirns lauschte. Die hatten ihre Bewährungsprobe längst bestanden, was von den entwicklungsgeschichtlich jüngeren Komponenten nicht behauptet werden konnte.
Stunden, in denen das Licht klarer, transparenter wurde, trieben vorüber. Wo die Nacht an den Tag stößt, so hatte ich gelesen, kann der Mensch die Ewigkeit fühlen. Deshalb stehen sie in den Klöstern so früh zum Morgengebet auf. Weil ein Geheimnis in der Luft liegt. Ein Geheimnis, wenn das Leben neu erwacht. Weil unser ganzes Dasein ein Rhythmus ist. Eine Musik, vielleicht. Oder weil die Finsternis und das Licht nur zwei Seiten derselben Sache sind. Und wir im Morgengrauen merken, dass auch Leben und Tod nichts anderes sind als zwei Seiten derselben Sache.
Hoffnung. Ich lag Stunden, bis die Sonne durch die Fenster strahlte und ich endlich, endlich die Versuche aufgegeben hatte, zu meinem Telefon zu robben, um es irgendwie zu bedienen. Ich lebte allein, und ich tat es aus Überzeugung. Deswegen würde ich auch aus Überzeugung sterben. Zuerst würden meine Nieren versagen. Aus Flüssigkeitsmangel. Wie es dann weiterging, wusste ich nicht. Nur, dass ich irgendwann zu stinken anfangen würde. Niemand würde sich darüber beschweren, denn niemand würde es riechen. Dumm nur, dass auch meine beiden Gänse nicht allzu lang durchhalten würden, eingesperrt in ihrem Stall.
Ich döste ein, bis Motorengeräusch mich aus dem Halbschlaf riss. Es klingelte. Und ich schrie aus Leibeskräften.
Zehn Minuten später hatte die Paketbotin den Ersatzhausschlüssel aus meinem Schuppen geholt und schlitzte die Kabelbinder mit einem Schweizer Taschenmesser auf. Ich kannte sie nicht, aber sie erschien mir wie eine Lichtgestalt aus der anderen Welt.
»Sie sind neu hier?«, keuchte ich, während ich versuchte, meine schmerzenden Glieder auszustrecken. Mein Hals tat weh, so ausgetrocknet war ich.
Sie goss Wasser in ein Bierglas und hielt es mir hin. »Chrissie Brehm.«
Ich schüttete das Wasser in mich hinein. Sie schenkte sofort nach. Nachdem ich anderthalb Liter getrunken hatte, warf mein Körper seine wichtigsten Funktionen wieder an. Wie ein Außenborder, der nach etlichen vergeblichen Startversuchen endlich ansprang. Ich hockte immer noch auf dem Boden. Sah hoch in Chrissie Brehms freundliches Gesicht. Bestimmt musste sie weiter. Die Paketdienste knechteten ihre Angestellten mit surrealen Zeitplänen.
»Soll ich jemanden anrufen? Polizei? Arzt?« Sie sah mich unsicher an. Eine kompakte, kleine, runde Frau mit kurzen Beinen, einem dicken Hintern und wuscheligem, schwarzem Haar.
»Ich glaube nicht«, antwortete ich. Bleib bei mir, wollte ich sagen. Nimm mich in deine Arme, drücke mich an deinen runden Körper, und ich fresse dir aus der Hand.
Natürlich sagte ich das nicht. In unserem Kulturkreis wurde nicht geweint. Man stürzte sich einer Fremden nicht in die Arme. Auch nicht, wenn sie ein Ausbund an Mütterlichkeit war. Man riss sich am Riemen. War grausam zu sich selbst. Am Riemen reißen, die Zähne zusammenbeißen, alles brutale Bilder. Eingeschnürt in einen Riemen. Ausgerechnet eingeschnürt. Mir sprangen die Tränen aus den Augen.
Chrissie Brehm, die Paketbotin, setzte sich neben mich auf die Küchenfliesen und nahm mich in ihre Arme. Presste mich an ihren weichen Busen, an ihre dümmliche Paketbotenuniform, die nach Waschmittel roch und nach Schweiß, nach Sommertag.
Ich hatte nie eine wirkliche Mutter gehabt. Eine biologische Mutter, das schon. Die hatten wir alle. Die war die Eintrittskarte. Aber die Vorstellung, die wir mit diesem Ticket besuchten, konnte ganz unterschiedlich sein. Meine Mutter war keine warmherzige Frau. Sie war kein Monster, aber sie hatte auch nichts Mütterliches an sich. Sie hatte sich nie dafür interessiert, wie es mir ging. War ihren eigenen Weg gegangen, der gesellschaftlichen Propaganda folgend. Ich hatte nebenbei mitleben dürfen. Als Kind, als Jugendliche. Ich hatte den Vater verloren, der daran zugrunde gegangen war, dass seine Frau ihn nicht liebte. Ich hatte meinen Bruder geliebt, aber in den letzten Jahren hatten wir immer weniger voneinander gehabt. Ich war erwachsen. Ich liebte Nero, aber ich war allein.
Nun Chrissie Brehm. Unerwartet, geschenkt. Außergewöhnlich. Und so wunderbar weich und rund, wie meine Mutter nie sein wollte. Sie zog eine Diät nach der anderen durch, um athletisch auszusehen. Joggte, stemmte Hanteln. Hungerte sich durch ihre einsamen Abende mit Selleriestangen und Vollkornknäckebrot. Eingepfercht war sie im Kerker ihrer Forderungen an sich selbst.
Chrissie Brehm besaß ein Stofftaschentuch, das sie aus ihren unvorteilhaft sitzenden Uniformhosen herausnahm. Ich wollte danach greifen, aber sie tupfte mir die Tränen ab. Sie tat das.
Ich hielt still.
Unbegreiflich.