31
Wir besuchten Traudl Niebergall im Altenheim. Ein Bau aus Plastik, wie mir schien, ähnlich einer McDonald’s-Burgerbox, sonnendurchflutet, aber ohne jede individuelle Aussage, wenn man von diversen Zertifikaten zur Qualitätssicherung der Pflege absah, die im Eingangsbereich an einer Pinnwand hafteten.
Traudl Niebergall, die Schwester des borstigen Gustav Kirchler, betrachtete uns neugierig.
»Hier passiert nicht viel«, sagte sie lächelnd. »Wenn man noch bei Trost ist, so wie ich, wird einem schnell langweilig. Zum Basteln hatte ich noch nie Lust. Aber erklären Sie das mal der Ergotherapeutin.«
Sie sah ihrem Bruder nicht ähnlich, war ein paar Jahre älter als er. Zu luftigen, blauen Hosen trug sie ein Shirt im Matrosenstil. Wäre sie nicht so aufgedunsen gewesen, hätte ich sie für gesund und vital gehalten.
Nach der üblichen Vorstellungsrunde fragte Kreuzkamp: »Sagt Ihnen der Name Lisa Halbwachs etwas? Etwa der gleiche Jahrgang wie Ihr Bruder Gustav.«
»Lisa Halbwachs?« Versonnen blinzelte Traudl Niebergall durch das Panoramafenster auf die weite Landschaft hinaus. Der Himmel bezog sich immer mehr, wir hörten vereinzeltes Donnergrollen.
»Es gab eine Menge Lisas damals. In meiner Klasse waren mindestens zwei Elisabeths.«
»Sie stammte aus München«, half ich aus. Wieder hatte ich meine Erbenermittlungsgeschichte aufgetischt. »Lisa Halbwachs war mit Irma Schwand befreundet.«
Traudls Gesicht hellte sich auf. Ihre Lippen kräuselten sich. Feine Schweißperlen rannen ihr über die Stirn in die buschigen, weißen Augenbrauen.
»Ach, die Lisa. Kein Wunder, dass Sie nach Lisa fragen. Alle fragen nach ihr.«
»Warum?«, hakten Kreuzkamp und ich zeitgleich nach.
»Sie bringen mich zum Lachen.« Traudl rückte ihre massige Gestalt auf dem Stuhl zurecht. »Ihnen pressiert’s ja mit Ihrer Lisa.« Sie sah mich aufmerksam an. »Ja, ein Erbe, das will nicht verloren gehen, nicht wahr? Aber die Lisa ist tot. Die ist in den letzten Kriegswochen umgekommen. Das war ganz tragisch, damals. Aber zu der Zeit waren wir alle am Ende und hatten keine Kraft, um irgendjemandem groß nachzuweinen. Zumal die Lisa, die Sie meinen, die Busenfreundin von der Irma, die war gar nicht aus Landshut und wir kannten die gar nicht so gut.«
»Sie war ein paar Jahre jünger als Sie, oder, Frau Niebergall?«
»Damals erschien sie mir als rechtes Baby. Ein Stadtkind, das sich vor jeder Spinne fürchtete. Ich habe kurz nach dem Krieg geheiratet. Ich hatte Glück. Ich war 23, als mein Verlobter zurückkam. Er war halb verhungert, aber er kam heim. Das war im September 1945. Manche von unseren damaligen Freunden, die kamen aus Russland zurück, zehn Jahre nach Kriegsende oder noch später, und die wenigsten von ihnen kannte man noch. Sie waren an all dem Schrecklichen irre geworden. Ziemlich viele kamen gar nicht wieder.« Sie kratzte sich am Kopf. Schuppen rieselten auf ihr Shirt. »Aber für Abwechslung war gesorgt. Die Amis waren ja bei uns. Das war auch eine spannende Zeit, wissen Sie?« Ihr feistes Gesicht sah glücklich aus. »Wir haben was erlebt, und die Irma, die hat ja dann ihren Amerikaner gekriegt!«
Kreuzkamp räusperte sich. Ich streckte die Hand aus und berührte kurz seinen Arm. Ein Stromstoß schoss durch meinen Körper. Egal. Er musste auf alle Fälle die Klappe halten. Traudl Niebergall würde erzählen, was wir wissen wollten.
»Zu uns kamen die Amerikaner, die haben uns aus dem Haus getrieben. Wir hatten ja damals nichts weiter. Haben in der Barackensiedlung gelebt. Bis der Gustav dann die Gerda geheiratet hatte. Die hatte keine Brüder, also hat der Gustav den Hof übernommen und ist Landwirt geworden, obwohl er damals nicht mal wusste, wie er die Kaninchen ausnehmen sollte, die er schoss, um uns am Leben zu erhalten.«
Ich rutschte auf meinem Plastikstuhl näher an sie heran. Stelle Nähe her, und die Kunden reden wie die Wörterbücher.
»Ich konnte Englisch. Ein paar Wörter. Hatte ich in der Schule gelernt. Also, die Amis kamen und haben gesagt: ›Do you speak English?‹ Ich habe genickt, ich war schüchtern, und denken Sie mal, was die Nazis uns über die Amis erzählt haben!« Sie verzog das Gesicht. »Ich hatte Schuldgefühle, mit denen überhaupt zu reden. Du bist nichts, dein Volk ist alles. Das haben sie uns eingeimpft. So schnell habe ich das nicht aus dem Kopf gekriegt. Aber dann hieß es: Wir sagen euch, was ihr mitnehmen dürft, und was ihr dalassen müsst. Interessiert Sie das?«
Ich blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Sahen die gut aus, die amerikanischen Soldaten?«
Kreuzkamps verständnisloser Blick brannte mir ein Loch zwischen die Schulterblätter. Ich streckte den Rücken.
»Oh, die sahen fantastisch aus!« Traudl Niebergall zwinkerte zurück. »Junge Kerle mit schicken Uniformen. Sie waren die Sieger, die waren naturgemäß besserer Laune als wir. Klar, wir hatten Angst vor ihnen, aber eigentlich kamen mir die Knaben ziemlich kindisch vor. Die haben sogar unser Wasser desinfiziert. Was haben die sich gedacht – dass wir da vorher reingepinkelt haben?« Sie kicherte. »Jedenfalls durften wir kurze Zeit später wieder ins Haus. Die Amerikaner haben seefeste Kisten zurückgelassen mit Essensrationen: Kekse, Schokolade, Bonbons, Nescafé. Den kannten wir nicht. Der Gustav hat sich die Körnchen auf die Hand gestreut und geschleckt. Beinahe hätte sein Herz das nicht mitgemacht!«
Ich lachte schallend.
»Ich sage ja, wir hatten auch eine heitere Zeit«, nickte Traudl belustigt. »So schnell dachte keiner mehr ans Sterben. Meine Mutter war krank, aber ein amerikanischer Arzt hat sie behandelt und bald ging es ihr besser. Keine Bomben mehr. Keine Durchhalteparolen. Und wir konnten endlich wieder an das Nächstliegende denken.«
»Haben Sie ans Heiraten gedacht?«
»Woran sonst, meine Schöne.«
»Und die jüngeren Mädchen?«, fragte ich.
»Die haben auch nur an das eine gedacht. Ich bin uralt geworden«, Traudl sah an sich herunter, »und ein ziemlicher Brocken. Kräftig war ich immer, aber bei all den Tabletten, die sie einem hier täglich verabreichen … Aber dennoch kann ich sehr genau erkennen, ob ein Mann attraktiv ist oder nicht.« Sie sah mich durchdringend an. Cary Grant neben mir fand das wohl ungebührlich. Er räusperte sich.
»Aber wie ist Lisa gestorben, Frau Niebergall?«
»Ich habe keine Ahnung.« Sie schwieg und sah aus dem Fenster. Wieder Regen.
»Man konnte auch im Krieg nicht so einfach sterben«, warf ich ein. »Landshut ist von Bomben außerdem ziemlich verschont geblieben.«
»Liebes Kind.« Traudl beugte sich vor. Ich bekam Angst, dass ihre Körpermasse sie vom Stuhl ziehen würde. »Denken Sie mal nach. Damals, im April 45, da haben sich Leute draußen herumgetrieben, die sich in Friedenszeiten nicht mal aus den Kanallöchern gewagt hätten.« Sie schüttelte den Kopf. »Männer von der brutalsten Sorte, dumpf, machtversessen, die ahnten, nun würde noch ein, zwei Wochen ihre Stunde schlagen. Männer, denen Gewalt einfach Spaß machte. Befriedigung verschaffte.«
»Sie meinen, Lisa ist vergewaltigt und dann ermordet worden?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass jemand von uns Alten Ihnen da noch eine Antwort geben kann.«
Kreuzkamp fand zu den naheliegenden Fragen zurück. »Hatte Lisa Verwandte? Wissen Sie von Geschwistern, Cousins oder Cousinen, Menschen, die heute noch leben könnten?«
»Ich weiß nicht, soll ich Ihnen dankbar sein, dass Sie mich besuchen, oder soll ich Sie fürchten?«, fragte Traudl mit einem verschmitzten Ausdruck auf ihrem feisten Gesicht. »Eine Erbenermittlerin und ein Mann, der ein Buch schreiben will.«
»Also keine Verwandten? Irma und Lisa haben sich wie Schwestern gefühlt, oder?«, hakte ich schnell nach.
»Die Irma hat die Lisa beschützt, wenn es Ärger gab. Wie eine Leibwächterin. In Irmas Herz brennt ein Feuer. Die kann alle Menschen lieben, wenn sie will. Wie eine Schwester oder einen Bruder. Die Irma hat auch keine Angst vor Verantwortung. Und von ihrer Stärke hat sie nichts verloren. Die war schon immer voller Kraft. Innerer Kraft. Die Irma kann sich immer neu aufrappeln. Wie Münchhausen sich selbst am Schopf aus dem Morast ziehen. Ich kenne niemanden, niemanden wie Irma.«
»Wissen Sie von Irmas Krankheit?«
»Sicher. Wir wissen das alle. Hier spricht sich alles herum. Gerade eine Frau wie die Irma, die hat jahrelang die Knotenpunkte der Stadt besetzt. Über die Irma haben alle geredet. Seit sie nach Amerika gegangen ist mit ihrem ersten Mann. Der ist ja dann gestorben. Sie war gar nicht so lange fort. Aber auch während sie in Amerika war, haben die Leute über sie geredet. Die Irma ist wie ein Motor für die Stadt. Selbst wenn sie nicht da ist. Und wenn sie mal tot ist, tja, dann werden die Landshuter weiter über sie reden.«
»Könnte Irma eine Ersatzschwester für Lisa gewesen sein? Weil Lisa sonst niemanden hatte?«
»Also, eine Mutter hatte sie. Der Vater ist im Krieg geblieben, das war in fast jeder zweiten Familie so. Meiner kam auch nicht wieder. In Stalingrad zu Pulver geworden.«
»Aber sie hatte keine Geschwister?«
»Ich glaube nicht. In den Ferien war sie bei der Irma. Irmas Mutter war eine sehr gastfreundliche Frau. Eine hübsche obendrein. Die nahm die Lisa an wie ein zweites Kind.«
Ich holte Atem, um weiterzufragen, als ein Donnerschlag aus heiterem Himmel uns zusammenzucken ließ. Jemand schaltete das Licht an.
»Nur Donner«, sagte Traudl. »Ihr Angsthasen! Nur Donner. Jedenfalls ist die Lisa vom Reichsarbeitsdienst nicht zurückgekommen. Die Irma kam heim, fiebernd, verdreckt, zerschunden, halb taub nach einem Bombenangriff. Die Lisa nicht.«
»Wer hat nach Lisa gefragt?«, setzte ich nach. »Außer uns?«
»Die Julika! Die war von allem, was mit ihrer Oma zu tun hatte, völlig gebannt. Kam aus Amerika und wollte unbedingt bei uns heimisch werden. Dazu gehört doch, dass man über die Vergangenheit Bescheid weiß, nicht wahr? Aber da drüben, über den Atlantik rüber, da haben sie wohl keinen richtigen Bezug zu dem, was mal war.«
»Wussten Sie das?«, fragte ich Kreuzkamp, als wir das Heim verließen und zum Auto gingen. »Dass Julika hier war?«
»Nein. Julika hatte einen guten Draht zu den Alten. Deswegen habe ich sie manchmal losgeschickt, einfach nur mit den Herrschaften sprechen. Aber von Traudl Niebergall hat sie kein Wort gesagt.«