17
Ich schaltete mein Aufnahmegerät aus und lehnte mich zurück. 3 Uhr nachts. Mein Leben war ein einsamer Stern, umkreist von Irma, Nero, Kreuzkamp-Grant und dem hustenden Kommissar Leitner. Ich hatte Landshut fluchtartig verlassen, war in meine Kartause zurückgekehrt, konnte nicht schlafen und saß mit einem Glas Merlot in meiner Küche. Alle Fenster standen offen. Die kühle Luft strich durch mein Haar. Ich dachte an Irmas mit Notizen beschrifteten Unterarm. Wie sicher konnte ich sein, dass ihr Bericht über die letzten Kriegswochen der Wahrheit entsprach? Oder doch nur eine Fantasiegeschichte war? Irma kam mir extrem fahrig vor, seit sie vom Tod ihrer Enkelin erfahren hatte. Sie schien die schreckliche Nachricht gar nicht an sich herangelassen zu haben.
Ob ihre Geschichte erinnert oder erfunden war – im Grunde spielte es keine Rolle. Sie bezahlte mich dafür, dass ich genau diese Story aufschrieb, also bekam sie, was sie haben wollte. Aber persönlich faszinierte mich die Dunkelheit des Vergessens, die sie einzuhüllen begann. Vergaßen Alzheimer-Patienten tatsächlich ihr ganzes Leben? Was blieb dann von ihnen? Wie lange würde sich Irma noch dessen bewusst sein, dass etwas mit ihrem Gedächtnis nicht stimmte? Wie viele Erinnerungen mochten ihr bereits fehlen? In meinem Leben gab es keine Lücken. Ich konnte mich an alles glasklar erinnern.
»Quatschkopf«, sagte ich zu mir selbst. »Auch du erinnerst dich nicht an alles.«
Nein, ich war kein Speicher, kein Rechner, der sämtliche Daten auf seiner Platte wieder abrufen konnte. Jede Erinnerung war eine Täuschung, ein Konstrukt, ein Plot und in diesem Sinne eine Geschichte.
Ich holte meinen Laptop aus dem Arbeitszimmer, richtete mich auf meinem Küchensofa häuslich ein, schenkte Wein nach und begann zu schreiben.