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Aber ja, mein Täubchen. Natürlich weinst du, wie alle hier weinen, wenn sie denken, dass niemand hinhört. Ein paar Minuten weinen, das können wir uns leisten, nicht wahr? Ein paar Minuten Trauer um all die Toten, die Sterbenden, die Verlorenen. Wir sind alle verloren, glaub mir, Lisa. In unserer Baracke haben wir es gut. In der ländlichen Einöde fallen keine Bomben, und zu essen gibt es auch noch das ein oder andere. Dünn sind wir alle, aber zäh wie Katzen, nicht wahr?
Oder weinst du, weil dein Glück zerbricht? Weil du besonders inbrünstig gesungen hast am Feuer? Weil du nicht glaubst, dass der Frühling da draußen das Ende des Tausendjährigen Reiches einläutet? Ha! Das hätte ich dir schon vor Jahren sagen können, dass es zu Ende geht, aber du wolltest nichts davon hören, und bevor du mich verpfeifst, wirst du verstehen, Täubchen, dass ich die Klappe gehalten habe. Die Welt da draußen folgt ihren Gesetzen, da kannst du nichts dran drehen, da hilft alles reden nicht.
Natürlich weinst du und weinst, und ich sitze neben dir auf der Pritsche, ganz unten im Stockbett, und halte dich in den Armen, spüre deine Tränen durch mein Nachthemd sickern. Du machst mich ganz nass, Lisa. Schluchze nicht so laut, die anderen werden wach. Und besonders die ordinären Witze von einigen Mädchen aus unserer Kameradschaft, die erträgst du nicht. Ich höre einfach nicht mehr hin, wenn sie in ihrem schauderhaften Dialekt eine Zote nach der anderen reißen.
Frierst du, Lisa? In den Baracken ist es ständig kalt, sogar noch im Frühling. Der Ofen in der Mitte hält die Wärme nicht, und viel Holz haben wir nicht, da muss man hartgesotten sein. Im Winter haben wir manchmal Bretter aus den Stockbetten zum Anheizen genommen und die verbliebenen Latten einfach verschoben.
Dein Nachthemd ist zu dünn und zu kurz. Du bist zu lang geworden, du schießt in den Himmel, Lisa, meine hübsche Rakete. Nicht weinen. Ja, drück dich nur an mich, so ist es gut. Ich bin immer warm, nicht? Mein Körper erzeugt stets die richtige Temperatur. Wärme, wenn Bewegung und Handeln angesagt sind. Kühle, wenn ich abwarten muss. Wie eine Schlange. So habe ich überlebt, weißt du. Und indem ich vergesse. Ich vergesse, was ich nicht behalten will.
Du sagst, niemand könne beschließen, etwas aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Aber ich kann das! Deswegen lebe ich noch und bin gesund. Ich bin stark, und das weißt du, deswegen kuschelst du dich an mich, als wäre ich deine Mama. Lisa, Lisa. Armes Mädchen. Jetzt, wo alles zusammenstürzt, was dir wichtig war! Wo so viele tot sind, gestorben für diese eine Sache … von der ich nichts halte, wirklich, aber im Schlafsaal werde ich das garantiert nicht laut aussprechen. Niemals werde ich das aussprechen. Ich habe Englisch in der Schule gelernt, weißt du, und wenn die Amerikaner kommen, dann habe ich schneller eine Arbeit, als irgendjemand schauen kann. Armes, armes Täubchen. Lisa.
Was wirfst du mir da vor? Ich sei hart? Aber nein. Ich werde wie eine Zikade aus meiner Hülle schlüpfen, wenn das da draußen erst einmal vorbei ist. Wenn wir wieder denken dürfen. Du willst keine Erklärungen, oder? Du suchst Trost, Liebe, Wärme, Zärtlichkeit. Weil die Burschen alle weg sind, gefangen oder tot, halten wir uns gegenseitig in den Armen. Weine nur, mein Täubchen, bist ja doch meine Freundin, auf immer und ewig. Wir sind ganz verschieden. Und wünschen uns dasselbe: dass es endlich ein Ende hat. Dass wir wieder normal leben. Uns verlieben. War da nicht der Sohn vom Michelbacher? Wie hieß der? Habe ich vergessen, obwohl ich zum Außendienst auf dem Hof abgeordnet war. Und du weinst viel zu heftig, um es mir sagen zu können. Egal, Lisa, ich weiß, wen du meinst.
Ja, der Bursche war fesch. Bis sie ihm einen Arm, ein Bein und ein Auge weggeschossen haben. Und als er aus dem Lazarett kam, zusammengeflickt, als er sich mit letzter Kraft nach Hause schleppen wollte, da haben ihn die Bomben erwischt. Hilft nichts, Lisa. Der Bursche, der kommt nicht wieder, und wir wissen nicht, wer überhaupt übrig bleibt. Der Michelbacher hat doch noch einen zweiten Sohn. Emil, der nicht ins Feld der Ehre geschickt wurde, weil er diese Anfälle kriegt. Der ist höchstens ein Jahr jünger als du, Lisa. Wenn der dich nimmt, dann hast du wenigstens den Bruder deiner großen Liebe. Schau, ich streichle dein Haar, Lisachen. Das magst du doch. Dann schnurrst du wie ein Kätzchen.
Ich suche mir einen Amerikaner. Später, wenn es vorbei ist. Und dann haue ich ab und schreibe dir jede Woche aus Chicago oder Philadelphia oder San Francisco und schicke Schokolade und andere Leckereien, und beide werden wir fett wie die …
Pssst, Lisa, Täubchen, gleich beschwert sich jemand. Mit der Kameradschaftsältesten sollte man besser keinen Streit anfangen. Schluchze leise, leise, und komm, hier ist deine Decke, du zitterst ja.
Na gut, dann kuscheln wir uns zusammen in dein Bett. Wärmen uns aneinander. Und irgendwann hast du so viel geweint, dass du müde bist, wie betäubt, und dann schläfst du endlich ein.