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Nach einem langen und zehrenden Interview verließ ich Irma Schwands Wohnung. Mir war kalt in meinen dünnen Hosen und dem T-Shirt. Wer hätte ahnen können, dass es dermaßen abkühlen würde? Der Spätnachmittag näherte sich der 15-Grad-Grenze. Ich schob die Hände in die Taschen und lief los, um mein Auto in der Mühlenstraße aufzuspüren, wo ich es vor Stunden abgestellt hatte.
»Neuigkeiten?«
Natürlich, Cary Grant, das Herzstück des Boulevards.
»Ach, servus«, sagte ich und hoffte, er würde sich trollen.
»Wie geht es Irma?«
»Mittelprächtig.«
»Und Ihnen?«
»Was wollen Sie?«
»Sie frieren.«
»Meine Güte. Wofür interessieren Sie sich denn noch alles?«
»Die Polizei hat eine neue Spur«, verkündete Kreuzkamp gelassen.
»So?« Meine Fühler stellten sich auf.
»Nun sind Sie heiß auf alle Infos, die Sie kriegen können, nicht wahr?«
Ich ließ mich ungern durchschauen. Ging wahrscheinlich jedem so.
»Einen Kaffee? Bei mir? Wahlweise Mokka oder …«, begann er.
»Schon gut«, unterbrach ich ihn. »Schießen Sie los. Ich habe noch ein paar ungeschriebene Seiten im Nacken.«
»Setzen Sie sich immer so unter Druck?«
Wie toll er sich vorkam. Eine kleine Meldung ans Unterbewusste. Muteten wir uns nicht alle zu viel zu? Achteten wir nicht alle zu wenig auf unsere wirklichen Bedürfnisse? Ich sagte keinen Ton. Ging einfach weiter. Durch die Winzlingsgassen, an einem grauen Toilettenwagen vorbei.
»Frau Laverde?« Er blieb stehen. Clever. Aber nicht mit mir. Ich achtete gar nicht auf ihn. Er kam mir nach. 100 Punkte für mich, Mister Grant.
»Die Polizei hat Julikas letzte Stunden nachgezeichnet. Sie haben aber keine Zeugen, die klären könnten, wo diese CD herstammt. Außerdem hat sich herausgestellt, dass Herbert Neugruber, mit dem Julika angeblich zusammen war, gar nicht ihr Freund war. Er hat das nur behauptet.«
Männlicher Überschwang, Unfähigkeit, Wunsch und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Ich kannte das. Kreuzkamp meinte wohl, er hätte mit dem Neugruber den weltweit ersten Fall testosteronbedingter Wahnvorstellungen aufgedeckt. Ich lief über den Ländsteg und hatte das Gefühl, er vibriere unter mir.
»Zwei Typen haben gewettet, Julika zuerst ins Bett zu kriegen. Alfi Berger, Pferdeführer, und ein anderer Typ, Siegmar Hallhuber.«
»Du liebe Zeit!« Ich drehte mich zu Kreuzkamp um, der mir nachgelaufen war wie ein verirrter Hund. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Interessiert Sie das nicht?«
Natürlich interessierte es mich. Brennend sogar. Aber da gab es noch eine Kundin, die ihr Manuskript zur Buddha-Diät in einem annehmbaren Zustand bis zum Ende der nächsten Woche haben wollte, es gab Irmas Geschichte, die mir über den Kopf wuchs, weil ich sie persönlich nahm. Da war der Ärger mit Nero und die Sorge um Juliane, die ich telefonisch nicht erreichen konnte, weil sie aus weltanschaulichen Gründen kein Handy besaß. Ich holte tief Luft: »Quod erat demonstrandum?«, fragte ich naseweis.
»Weder Alfi noch Siegmar sind bei Julika zum Zug gekommen; Siegmar ist nach dem Mord aus Landshut abgehauen. Leitner lässt nach ihm fahnden.«
Eine Gruppe Gaukler rannte laut lachend und ›Hallo‹ rufend an uns vorbei.
»Kollege«, sagte ich, »den Mord kann wer weiß wer begangen haben. Solange sich keine Zeugen finden …«
»Die Polizei hat Anrufe noch und nöcher bekommen. Von Leuten, die meinen, etwas gesehen oder gehört zu haben.«
»Aber wie immer in solchen Fällen ist nichts Verwertbares dabei«, vollendete ich für ihn den Satz.
»Sie sind zynisch!«
»Geht Sie das was an?«
Mein Alfa stand vor mir. Ich zückte den Autoschlüssel. Erste Regentropfen fielen auf uns herab. Sie wurden schnell mehr, wurden dicker, wurden zu Hagel. Zwei Frauen rannten an uns vorbei, hielten die Handtaschen über ihre Köpfe. Eh ich es mich versah, saßen Kreuzkamp und ich in meinem Italiener.
»Toller Wagen.«
»Der einzige Grund, warum ich Ihnen ein Dach über dem Kopf gewähre«, ich wies auf die pingpongballgroßen Hagelkörner, »ist meine Menschenfreundlichkeit.«
Er hatte die Dreistigkeit zu lachen. »Keine Sorge, wenn es mir hier mit Ihnen zu ungemütlich wird, stürze ich mich aus dem Wagen.« Er drehte sich zu mir, legte den Arm um meine Kopfstütze und sagte: »Ich habe jemanden ausfindig gemacht. Den Sohn des Kammerjägers.«
»Ein Manuskript für einen historischen Roman?«
Er lachte. Ein schönes, perlendes Lachen. Ich sah ihm nicht ins Gesicht. Starrte auf meine Motorhaube und beobachtete die springenden Hagelkörner. Das würde Lackschäden geben.
»Herbert Neugruber, der angebliche Freund von Julika. Ich habe mir gedacht … nun, es ist eine alte Erfahrung der schreibenden Zunft, dass die erste Idee oft die beste ist, nicht? Wir haben sie viele Male verworfen, holen sie am Ende aber wieder hervor, wenn alle anderen Einfälle missraten.«
Yes, sir.
»Also dachte ich mir, auch wenn Leitner mir steckt, dass der Neugruber gar nicht Julikas Lover war … warum sollte das bedeuten, dass er nichts mit dem Mord zu tun hat?«
»Ermitteln Sie in Sachen Kriegskinder auch so präzise?«, warf ich ein.
»Warten Sie, der Clou kommt noch.«
»Darauf wette ich.«
»Ich habe mir die Geschichte der Familie Neugruber genauer angesehen. Da ist Herberts Vater, Peter Neugruber, ein netter Kerl von 71 Jahren, der noch den Betrieb vom alten Martin weiterführt. Weil sein Sohn als Hallodri verschrien ist und sich an keine geregelte Arbeit gewöhnen kann.«
»Oder weil der Altvordere ihn nicht ranlassen will.«
»Mag sein«, gab Kreuzkamp zu.
Ich wiegte den Kopf. Bisweilen erwiesen sich gerade vermeintliche Randerscheinungen als Kern der Geschichte. Ich musste das wissen. Im Gegensatz zu Kreuzkamp-Grant war ich in meinem Job erfolgreich. Ich wusste, dass ein Plot sich mitunter selbst strickte. Mich zur Tippse degradierte. Weil die Story sich unerwartet selbst erzählte, nachdem man sich wochenlang gequält hatte, ohne zu wissen, worauf sie hinauslaufen würde.
»Mich machte neugierig, wer diese Familie wirklich ist. Was sie zusammenhält. Also habe ich ein wenig recherchiert.« Kreuzkamp ließ meine Kopfstütze los, zum Glück, denn die Mischung aus Aftershave und Schweiß, feuchter Baumwolle und Brunft begann im Auto ihre volle Wirkung zu entfalten, während die Scheiben beschlugen und die Hagelkörner zu platschenden Regentropfen mutierten. Ich öffnete mein Fenster einen Spalt.
»Peter Neugruber ist 1938 geboren. Ich wollte ihn für mein Projekt gewinnen. Bei Kriegsende war er immerhin sieben Jahre alt. Aber ich habe …«
»Sie haben sich verzettelt«, sagte ich niederträchtig. Ich musste den Mann dazu bringen, mich zu hassen. Nur so ersparte ich mir eine Niederlage in der Schlacht der Hormone und Drüsen.
Stattdessen lachte er wieder. »Wie kommen Sie darauf? Halten Sie mich wirklich für so eine Napfsülze?«
»Den Ausdruck muss ich mir aufschreiben.«
»Tun Sie das. Also, Peter, Herberts Vater. Er führt noch das Geschäft, das er von seinem Vater übernommen hat: Von Martin Neugruber. Der ist seit 15 Jahren tot. Aber eine Figur, die es zu erforschen lohnt. Er war nämlich einer von Landshuts besonders eifrigen Nazis. Und es gibt Gerüchte, dass er in den letzten Wochen des Krieges die Wälder rund um diese hübsche kleine Stadt unsicher gemacht hat.«
»Wie das?«
»Schauen Sie nie Guido Knopp?« Er grinste über meine verwirrte Miene. »Den ZDF-Geschichtsmatador. Bereitet alle historischen Stoffe auf, die Deutschland nicht sehen will.«
Der Regen ebbte ab. Ich öffnete die Fahrertür, um die frische Luft zu atmen. Nun ging es auch meinem Unterleib besser. Am besten, ich kippte Kreuzkamp gleich hier auf das Pflaster.
»Damals sind eine Reihe von Leuten herumgezogen, die in letzter Minute sogenannte Volksschädlinge ausgerottet haben. Deserteure, Leute, die den Mund zu weit aufgemacht hatten. Leute, die von den Nazis als Defätisten beschimpft wurden. Die Moral unterwanderten oder wie man das nennen soll.«
»Das soll dieser Martin Neugruber getan haben?«
»Es gibt Landshuter, die sich daran erinnern. Aber … wie soll ich sagen … es ist peinlich für eine kleine Stadt.«
»Was ist peinlich? Zuzugeben, dass Idioten auf Gemeindegebiet leben? Nennen Sie mir einen hornochsenfreien Platz in der Welt!«
»Mit mir redet keiner Tacheles. Nicht mit mir, dem Saupreußen. Mag sein, dass Martin Neugruber Leute aufgeknüpft oder erschossen hat. So viele Zeugen kann ich ja nicht mehr fragen.«
Mir schwante etwas. »Sie wollen, dass ich mich umhöre?«
»Wenn Sie so freundlich wären …«
Ich verstand ihn nicht. Er gab sein Projekt freiwillig ab. Verlor den Überblick über seine eigenen Themen. Ziemlich unvorsichtig. Er lief Gefahr, seine Sicht der Dinge einzubüßen und ungeprüft die Perspektive einer anderen Person zu übernehmen.
»Konkret: Ich habe noch mal mit Traudl Niebergall gesprochen. Aber sie hatte auch nichts als Gerüchte in der Hinterhand. Ihr Bruder könnte etwas wissen. Fragen Sie ihn.«
»Ich?« Ich starrte ihn an. »Nein, mein Hübscher, das machen Sie mal schön selbst.«
»Der Kirchler ist nicht gut auf mich zu sprechen.«
»Warum ausgerechnet der Kirchler?«
»Er war 1945 einer der wenigen Knaben, den sie nicht mehr eingezogen haben. Traudl sagte, er hätte seine Einberufung bekommen, aber wenige Tage, bevor er dran gewesen wäre, kamen die Amerikaner.«
»Anrührend, wie Sie Ihre Infos mit mir teilen.«
»Damit ist Traudl Niebergall erst jetzt rausgerückt.«
»Sie machen mir Spaß«, sagte ich.