46

Er richtet eine Lampe auf uns. Geblendet schließe ich die Augen. Du schluchzt, Lisa. Hör auf. Das Licht fällt auf unsere dreckigen RAD-Uniformen. Auf den schmutzstarrenden Verband an meinem Arm.

»Bist du nicht die Maid vom Michelbacher?«, fragt der Mann. Ich kenne ihn. Er hat letztes Jahr, während der Heuernte, beim Michelbacher geholfen.

»Ja«, sage ich leise. Meine Zunge klebt am Gaumen.

»Wo kommt ihr denn her?«, fragt der Mann. Er ist vom Volkssturm. Vom letzten Aufgebot. Ein Gewehr, Munition, eine Handgranate zur Verteidigung des Vaterlandes. »Ihr müsst sofort weg. Wir haben schon Panzeralarm. Die Amerikaner kommen, es ist vorbei.«

Ich höre dich aufkeuchen, Lisa, aber ich bin nur erleichtert. Schade um dich, Soldat in der Rotbuche. Hättest dir eben ein besseres Versteck suchen müssen.

»Ihr müsst sofort weg«, wiederholt der Mann, und nun fällt mir sein Name ein. Karl, schlicht und einfach. Ein Muskelprotz, der hat für zwei gearbeitet auf dem Michelbacher Hof. War seit einem Jahr nicht im Feld, weil sie ihm in Russland das Knie zerschossen haben. »Los, auf geht’s, lauft, holt eure Zivilkleidung und dann nichts wie weg mit euch! Nach Hause, am besten geht ihr nach Hause!«

Da hätten wir längst sein können.

Ohne ein Wort zu verlieren, taste ich hinter mich, finde deine Hand, Lisa, und ich ziehe dich mit, an Karl vorbei, nur weiter, weiter über den finsteren Weg, den wir, geblendet von der Lampe, nicht einmal mehr ahnen.

»Beeilt euch!«, ruft er uns nach, und wir rennen, du beschleunigst, schiebst mich beiseite, rennst voraus, ich hinterher, wir rennen, bis wir die Baracken sehen, die sich in die Schatten ducken. Ich muss husten, weil mein Hals so trocken ist. Stürze zum Brunnen im Hof und trinke, trinke.

Es ist niemand mehr da. Die Mädchen sind alle weg.

Du läufst durch die Baracken, ich komme nach, schüttele den Kopf hin und her, um das Brummen aus meinen Ohren zu kriegen.

Dann taucht eine von den Maidenunterführerinnen in der Tür auf. Steht groß und breit da, mit dem üppigen Busen, der mich vermuten lässt, dass sie ein paar Essensrationen extra für sich abzweigt.

»Was tut ihr denn noch hier?«, fragt sie. »Ja so was!«

Dienstpost, höre ich dich reden. Ich möchte lachen. Lachen bis zum Umfallen. Haben die Damen uns nicht höchstpersönlich losgeschickt? Dienstpost, München, die Bomben, der einäugige Soldat, die Frau Doktor, der Zug mit den verschmierten Scheiben, der Soldat in der Rotbuche, alles spielt sich vor mir ab wie ein Film. Wir haben gehorcht, den Auftrag ausgeführt, die Post ausgeliefert, die niemals mehr jemand lesen wird, die ohnehin nur dummes Zeug enthält, was soll man in diesen Tagen schon schreiben. Dass es zu Ende geht, das pfeifen die Vögel von den Zweigen, und eben hat es sogar der Karl gesagt, der Erntehelfer vom Michelbacher.

Das kalte Brunnenwasser randaliert in meinem Magen. Kurz wird mir schwarz vor Augen, aber das wäre ja noch schöner, jetzt zusammenzubrechen.

»Ihr müsst sofort weg!«

»Wir müssen schlafen!«, sagst du. Es ist das erste Mal, dass ich dich widersprechen höre.

»Nichts da! Die Amerikaner sind jede Minute da. Ihr müsst sofort weg.«

Die Maidenunterführerin wogt davon und bringt uns unsere Zivilkleidung. Sie legt kurz die Hand an meine Stirn. »Was hast du denn gemacht?«

Amüsiert habe ich mich, in München, in Schwabing. Habe getanzt und mich betrunken. Was sonst?

Ich hebe stumm den verletzten Arm.

»Meine Güte, das kannst du doch nicht so lassen!«, ruft sie und wird plötzlich mütterlich in ihrer Walkürenhaftigkeit. Sie wickelt den alten Verband ab. Das tut weh, aber ich beiße die Zähne zusammen. Der Schmerz ist nicht so schlimm wie das Brummen in meinen Ohren, das wird immer lauter. Die Walküre hebt den Kopf. Flugzeuge. Aber sie sind weit weg. Zu hoch, um Bomben in den Wald zu werfen.

Die Walküre bringt Jod und frisches Verbandszeug. Die Wunde sieht widerlich aus, aber ich bin froh um das Jod, soll es mir ruhig das Fleisch verbrennen, Hauptsache, es tötet alle Bakterien, die in mir wüten.

Lisa, was machst du denn? Da stehst du und weinst, aber warum? Nun beginnt das Leben neu, vielleicht noch heute Nacht, oder morgen, spätestens übermorgen, und wir halten zusammen, du und ich, oder, Lisa? Nun heule nicht. Du hast mir doch das Leben gerettet in dem Keller, in dem Scherbenhaufen, unter dem Blick des Einäugigen.

Ruck, zuck ist der Verband festgezurrt.

»Nun zieht euch endlich um. Ich besorge euch Fahrräder. Seht zu, dass ihr nach Hause kommt!« Ihr Blick wird weich, während sie uns ansieht, bevor sie davonläuft.

Wir reißen uns die Uniform vom Leib, schlüpfen in unsere Sachen, das fühlt sich gut und seltsam zugleich an. Du weinst die ganze Zeit, aber ich kann nicht anders, ich spucke auf den Kleiderhaufen, der vor mir liegt, während ich mir die Bluse zuknöpfe.

Die Walküre kommt zurück.

»Schnell! Die Mäntel dürft ihr behalten! Und nun los!«

Sie hat zwei Fahrräder aufgetan, eines ist ein Herrenrad, mit einer hohen Querstange, das drückt sie dir in die Hand, Lisa, weil du die Größere bist. Ich widerspreche nicht, obwohl du mir einen Blick zuwirfst, der sagen soll, dass du tauschen willst. Aber ich bin schwach, total ausgepumpt, ich will nicht auf dem Herrenfahrrad fahren. Wir müssen 60 Kilometer schaffen. Noch heute Nacht. Nach 72 Stunden ohne Schlaf.

Die Maidenführerin hält das Rad für dich fest, und du balancierst wie ein Artist. Ich radle los, ich winke nicht, ich werfe keinen Blick zurück. Denke an meine Mutter und frage mich, ob sie noch in Landshut ist. Ob sie noch lebt. Es kann alles passieren in diesen Tagen. Und in diesem Augenblick, so kurz vor dem Ende, bekomme ich Angst.

Manche sind in den ersten Kriegstagen umgekommen. Die haben sich viel erspart. Aber da ich nun einmal bis heute überlebt habe, will ich weiterleben.

Wir radeln. Der Morgen graut bereits.

Zuerst fahren wir über den Feldweg. Dann erreichen wir die Landstraße, da geht es leichter, und bald wird es hell. Aber ich habe Angst, gesehen zu werden. Ich werde schneller. Ich stemme mich in die Pedale, gebe die Geschwindigkeit vor, und ich sehe mich kaum nach dir um, Lisa, du wirst schon hinterherkommen, oder?

Ich verfalle in einen fast einschläfernden Rhythmus. Ob man im Fahren auf dem Rad schlafen kann? Ich möchte dich fragen, aber ich bin zu müde. Wie hügelig dieses Land ist! Wie heftig pumpt mein Herz, wenn es bergauf geht. Ich spüre den Schweiß auf meiner heißen Stirn.

Was ist, Lisa? Wieso schreist du so? Ich weiß, ich höre schlecht, aber … hinter mir scheppert etwas, ich drehe mich um, du bist vom Rad gesprungen, rennst auf mich zu, ich bremse, was ist denn?

Du deutest in den Himmel, und was meine zerstörten Ohren nicht hören konnten, das hörst du. Tiefflieger. Du stößt mich in den Graben, wir pressen uns ins Gras, so tief es geht. Dein Gesicht berührt meine Knie.

Die schießen. Diese Idioten schießen.

Weil die ja nicht wissen können, dass ich gegen den Führer war. Aber gemacht habe ich auch nichts gegen ihn.

Blöde Gedanken, blöde Angst, während man in einem Graben liegt, die Kleider nass werden, der Verband am Arm durchweicht. Ich spüre, dass du zitterst, Lisa, und ich würde dich gerne festhalten, so wie im Schlafsaal, aber besser, wir bewegen uns nicht. Denk einfach an meine Umarmung, denk einfach dran. Stell sie dir einfach vor. Das fühlt sich fast genauso warm an wie die Wirklichkeit.

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