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Leitner saß auf der Ladefläche seines Pick-ups und rauchte. Das war nichts Besonderes, so verbrachte er den einen oder anderen Feierabend im Sommer. Er fuhr einfach aus der Stadt raus, stellte den Wagen auf einen Feldweg und spielte Amerika. Heute aber war Elke dabei, und das veränderte die Qualität seines selbstgedrehten Films. Auf eine Weise steigerte es das Erlebnis. Sein Pulsschlag war bei 200 angekommen, mindestens. Auf eine andere Weise schmälerte Elkes Anwesenheit sein Hochgefühl. Wenn er für sich war, brauchte er nicht zu reden. Leitner war maulfaul. Ihm gingen die Wörter aus. Vor allem am Abend. Da hatte er das Gefühl, alle fünf Kilogramm Wörter, die ihm pro Tag zur Verfügung standen, investiert zu haben. Zurück blieb nicht eine Silbe.
Elke hockte auf der Ladefläche neben ihm, das Kinn auf die Knie gestützt, und sah in die Ferne.
Entspann dich, dachte Leitner. Vielleicht will sie sich gar nicht unterhalten. Es soll Frauen geben, die lieben das Schweigen. Wieso Elke eigentlich weiter ihren Ehering trug? Leitner sah verstohlen auf ihre rechte Hand. Schöne Hände. Schnippelten täglich an Leichen herum, aber sie sahen aus wie die Hände einer Kosmetikerin. Wie sehen eigentlich die Hände einer Kosmetikerin aus?, überlegte Leitner. Das lag an Elke. Nur weil sie hier saß, machte er sich bescheuerte Gedanken. War ja ganz egal, welche Hände eine Kosmetikerin hatte.
»Die Julika geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Elke.
Leitner drückte seine Kippe an der Seitenwand aus und schnippte sie über Bord. War nur Tabak. Reine Natur. »Wieso?«
»Weil ich persönlich niemals einfach so eine CD mit zu den Veranstaltungen nehmen würde. Wenn ich Hochzeiterin wäre.«
»Was würdest du denn mitnehmen?« Leitner richtete sich auf und lehnte sich Elke gegenüber an die Seitenwand der Ladefläche. Nun hatte er die Sonne im Rücken, aber dafür sah er Elkes Gesicht in strahlendem Orange.
»Taschentücher, Hausschlüssel, vielleicht ein paar Euro. Eine Slipeinlage oder wahlweise einen Tampon zum Wechseln.«
Leitner wurde rot und war dankbar, dass Elke es im Gegenlicht nicht sah.
»Ich versuche, mir ein Szenario vorzustellen, wie Julika an die CD gekommen sein könnte, wenn sie sie nicht zu Hause in ihren Beutel gesteckt hätte«, fuhr sie fort.
»Sie könnte es irgendwo draußen von jemandem bekommen haben.«
»Pfff, Leitner!« Elke Winterling lachte. »CD-Übergabe auf der Landshuter Hochzeit? Unwahrscheinlich.«
»Sei nicht so streng! Auch die Landsknechte und Trommler gehen ab und zu in ein Café auf einen Coffee to go.«
»Vergiss es.« Elke lachte.
Leitner hätte gern noch eine Zigarette geraucht. Aber er wollte versuchen, die Pausen zwischen den Kippen auszudehnen. Vielleicht würde er auf 40 Zigaretten am Tag runterkommen. Von mindestens 50. »Dann bleibt nicht mehr viel. Nur, dass der Mörder ihr die CD in den Beutel geschoben hat.«
»Überleg mal. Der Beutel ist winzig.«
Leitner wartete. Es war ihm sympathisch, dass Elke sich Zeit ließ.
»Allerdings habt ihr ja ständig mit Taschendieben und Kleinstkriminellen zu tun«, fügte sie hinzu. »Wer was aus dem Beutel klauen kann, kann auch was reinstecken. Und dann der Tatort: Denn der Fundort ist der Tatort, kein Zweifel. Warum hat niemand die beiden gesehen? Das Opfer und den Mörder? Hat er damit gerechnet, dass die Abflussrinne verstopft war und der Treppenaufgang kurz davor stand, sich in einen Wasserfall zu verwandeln? Kein Wunder bei dem Mistwetter. Oder hat der Mörder das alles akribisch geplant?«
»Mörder denken nicht unbedingt. Sie kommen mit halbgaren Plänen und geraten ins Hintertreffen, weil irgendwo Zeugen herumlaufen oder etwas anderes nicht klappt.«
»Klar.« Elke reckte das Kinn. »Gibst mir mal eine Zigarette, Leitner?«
Er lachte und hielt ihr eine Handvoll Selbstgedrehte hin.
»Nur eine«, wehrte sie ab.
Er gab ihr Feuer. Zündete sich selbst eine an.
»Unser LKA-Mann hält es für unwahrscheinlich, dass Julika Kontakte zur organisierten Kriminalität hatte. Er meint, Frauen kommen in Beziehungen oft zwangsläufig in die Situation, ihre Männer zu decken, ohne es zu merken«, sagte Leitner.
Elke zuckte die Achseln. »Der LKA-Typ ist doch völlig verwirrt. Irgendwas stimmt mit dem nicht.«
»Ja. Der ist in Gedanken ständig woanders.«
»Wahrscheinlich Liebeskummer.« Die Rechtsmedizinerin pustete den Rauch in Leitners Richtung. Ihr Gesicht verlor Farbe. Er drehte sich um. Die Sonne war nun fast über den Horizont geglitten. Ein Rest rot-goldenen Lichtes schwebte über den Bäumen.
»Ich bin ja lange weggewesen aus Landshut«, fuhr Elke fort. »Zu lange, wenn ich so drüber nachdenke. Aber eine Geschichte gilt nach wie vor zur Landshuter Hochzeit.«
»Welche?«
»Als Ritter – mit Turniersieg – hast du gute Chancen bei den Mädchen.« Sie lachte keck. »Als Geistlichkeit spielst du in einer anderen Liga.«
Leitner unterdrückte ein Husten: »Das sind die alten Späße. Das Turnier bietet gute Gelegenheiten.«
»Inklusive einen heimlichen Wettbewerb. Ein Liebesturnier.« Elke zwinkerte. »Wer die meisten Mädchen flachlegt. Die Männer gewinnen nach Punkten.«
»Hatte Julika Sex, bevor sie umgebracht wurde?«
»Nein.«
»Du meinst, sie wollte nicht und der Kerl hat sie deshalb in die Pfütze gedrückt?«
»Denkbar, oder?« Elke schnippte ihre Kippe ins Grüne. »Egal, aber schau dich mal um bei den attraktiven Kerlen unter den Rittern und Knappen. Da findest du vielleicht den einen oder anderen, der ein Auge auf Julika geworfen hat. Sie war ein hübsches Mädchen, sehr jung, sehr natürlich. Passte gut in die Rolle der Spielfrau.«
»Deine Mutter könnte mir die Arbeit erleichtern.«
»Meine Mutter?«
Leitner grinste. »Sie weiß doch, wer mit wem, oder?«
Elke Winterling streckte sich rücklings auf dem Pick-up aus. »Ich kümmere mich drum. Morgen.«