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Natürlich hatte er geschimpft und sich aufgeführt und Stress produziert. Aber wenigstens war er hier. Bei mir.
»Du musst ihn anzeigen. Kannst du ihn beschreiben?«
Ich muss, ich muss, ich muss. Schluss mit den Instinkten. Jetzt gelten wieder Regeln und Gesetze. Weil wir die Instinkte abgeschaltet haben, brauchen wir Normen von außen, die uns sagen, wie wir zusammen leben können, ohne uns gegenseitig auszurotten.
»Groß, vielleicht so groß wie du«, antwortete ich. Ich war heiser, mein Hals tat immer noch weh. »Hager. Wirkte irgendwie knöchern. Trug ein dunkles Sweatshirt, langärmelig, dunkle Jeans, eine Gesichtsmaske. Roch komisch.«
»Wie?«
»Ich würde es dir sagen, wenn ich ein Wort wüsste.«
Nero stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Verdammt, Kea! Konzentrier dich! Bist du nicht die Freundin aller Wörter?«
Ich dachte an Chrissie Brehm und ihre bedingungslose, unverkrampfte Freundlichkeit. An ihre warmen Arme und mein Gesicht an ihrem Busen. Vor mir stand Nero, unruhig tänzelnd wie ein Hengst, mit einem krittelnden Unterton in der Stimme.
»Das ist ein Kerker«, sagte ich leise. »Wir quälen uns noch selbst zu Tode.«
»Zum Teufel, Kea, ich will dir helfen! Wir müssen diesen Typen auftreiben!«
Müssen, müssen, müssen.
Alles ist vergänglich. Nichts hat Bestand. Zwei Sätze aus dem Vorwort der Buddha-Diät. Wie konnte man den Buddhismus gut finden, wenn einem dort jegliche Illusion genommen wurde? Eine Religion, in der nichts Bestand hatte? Sehnten wir uns im Gegensatz dazu nicht nach dem ewigen Leben? Wo genau das Bestand hatte, was uns so kostbar war: das Leben?
Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer von Julianes Schwester Dolly.
»Kea!«, rief Nero.
Niemand ging an den Apparat. Ich legte das Handy weg.
Nero packte mich bei den Schultern. »Rede mit mir! Du musst den Mann anzeigen. Steckst du in dieser Landshuter Sache drin?«
»Sache?«
Er schüttelte mich. Schüttelte die Tränen aus mir heraus. Mir fiel auch gerade kein Witz ein, mit dem ich die Situation hätte retten können.
»Der wollte mich vergewaltigen, aber er hat’s nicht gemacht«, sagte ich später. »Ein Sexverbrechen, geplant an einer Frau, die in einer entlegenen Ecke lebt. Schutzlos, wenn du so willst.«
Nero hielt mich im Arm, aber nicht wie Chrissie Brehm. Nicht warm und ohne Erwartung, sondern eilig, hektisch, drängend, abwartend.
Ich liebe Nero, ich liebe nicht Chrissie Brehm, dachte ich, aber natürlich hatte das alles keine Bedeutung. Gefühl ist machtvoller als Verstand, pflegte Juliane zu sagen.
Dann ging Nero mit dem Versprechen, bald wiederzukommen. Aber ich würde nicht da sein. Na gut, vielleicht neigte ich zu Eifersucht, Skepsis, Überheblichkeit, Arroganz. Vielleicht verfing ich mich mitunter in meiner eigenen Traurigkeit. Aber ich würde der Versuchung widerstehen, andere hineinzuziehen.
Ich packte meine Geistersachen zusammen, duschte, zog frische Klamotten an und schlüpfte in meine Regenjacke. Draußen befreite ich endlich meine beiden Grauen aus ihrem Stall. Sie würden eine Weile zurechtkommen. Ich stieg ins Auto und ließ den Motor an. Ein Gefühl von Freiheit. Ein Auto, ein Motor. Und endlich die dummen Träume von der Liebe abgelegt.