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Mit einem gewissen Erstaunen beobachtete Nero Keller, wie sich sein Verhältnis zu Mordermittlungen in seiner langen Karriere bei der Polizei allmählich wandelte. Als er bei der Mordkommission angefangen hatte, war in ihm der Zorn über die Tat oft ins Unermessliche angewachsen. Er hatte seine Ermittlungsarbeit, so rational und bürokratisch er sie auch geführt hatte, als Feldzug gegen das Schlechte in der Welt gesehen. Im Laufe der Jahre war dieser starke Impuls gewichen und hatte einer gewissen Resignation Platz gemacht. Er hatte sich eingeredet, sich für das Böse im Menschen zu interessieren. Seine Arbeit hatte den Charakter einer Forschungsreise besessen, die ihn mitten hinein ins dunkle Herz des Verbrechens führte. Schließlich hatte er diese stets neue Konfrontation mit dem Tod nicht mehr ausgehalten und sich beim LKA beworben – auf einen Schreibtischjob vor einem Bildschirm, wie er hoffte. »War eine Täuschung«, brummte er, als er von der Theatinerstraße kommend in die Fünf Höfe einbog. Er war hungrig wie ein Wolf und feierte Überstunden ab. Das hätte er früher nie gemacht. Selbst vor einem halben Jahr noch nicht. Mit einem Buch Short Stories in der Tasche sich am helllichten Tag in ein Bistro zu setzen und zu lesen – das wäre ihm geradezu infam vorgekommen. Dem Herrgott den Tag stehlen, so nannte man das bei ihm zu Hause. Aber nun hatte er sich einen Band mit Kurzgeschichten von Arthur Miller gekauft und steuerte auf das ›dean&david‹ zu, wo man bei gutem Wetter, wenn alle draußen sitzen wollten, auf alle Fälle einen Platz bekam. Er bestellte ein vegetarisches Curry und einen Saft. Trug seine Sachen in den Lichthof hinaus, legte das Buch neben sich auf den Tisch und beobachtete die Passanten, die durch die Salvatorpassage eilten, beladen mit Tüten, Sorgen, Ideen, Ängsten, Gleichgültigkeit. Er war geradezu euphorisch, wenn er es schaffte, ein paar Minuten nicht an Kea zu denken.

Sein Handy klingelte, ehe er den ersten Bissen Curry angerührt hatte.

»Yoo Lim, Ihr Quälgeist aus Landshut.«

Nero legte die Gabel weg. »Haben Sie was?«

»Ihr Kollege aus München hat mich gerade angerufen. Ob Sie es glauben oder nicht: Dasselbe Programm, das wir auf Julikas CD gefunden haben, ist bereits im Netz unterwegs. Die Raiffeisenbank in Passau hat Anzeige erstattet. Heute Morgen. Ein paar von ihren Kunden wären ziemlich fies um ihren kompletten Kontoinhalt inklusive Dispo geprellt worden. Wenn nicht ein Sicherheitsprogramm im Hintergrund den Mitarbeitern melden würde, dass ein Kunde eine für seine üblichen Geschäftsgewohnheiten ungewöhnlich hohe Summe abheben will, hätte irgendwer die Kohle komplett abgeräumt.«

Was will sie von mir?, dachte Nero. Was hat das mit mir zu tun? Ich möchte eigentlich nur friedlich hier sitzen und mein Curry essen, kann das jemand nachvollziehen?

»Ich melde mich«, versprach er. Legte auf und betrachtete überfordert die Schüssel mit Zuckerschoten und Erdnüssen. Überlasse den Herzinfarkt den anderen Typen, hörte er Kea sagen. Er müsste sie anrufen. Wurde schon genauso stur wie sein Vater.

Dasselbe Programm war im Netz aktiv … Nero ahnte, worauf das hinauslief: Sein erster Gedanke, die Verantwortlichen in der organisierten Kriminalität zu suchen, war exakt der richtige. Doch was das mit dem Mord an Julika zu tun hatte, wollte ihm nicht in den Kopf. Im Gegenteil, er schätzte beinahe, dass überhaupt kein Zusammenhang zwischen beidem bestand. Warum auch immer Julika eine CD mit sich herumgetragen hatte, während sie als Spielfrau kostümiert durch Landshut spaziert war … und das, wo die Landshuter mit Argusaugen alle Stilbrüche zu entdecken trachteten und ahndeten. Ein Piercing, ein Handy, eine vergessene Armbanduhr am Handgelenk … Und dann eine CD, gut, im Beutel am Gürtel, aber was würde eine Frau im Beutel am Gürtel tragen? Kea könnte ihm da wohl eine Antwort geben. Kea. Wenn er sich endlich aufraffte, sie anzurufen und nach dem Mann zu fragen, mit dem sie an der Isar gesessen hatte. Drei Japaner kamen durch die Passage und fotografierten den Lichthof. Er fragte sich, was daran es wert war, als Foto festgehalten zu werden.

Für Sekunden schloss Nero die Augen, dann nahm er die Gabel und aß sein Curry in aller Ruhe auf.

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