Epilog
Los Seres
Sonntag, 8. Juli 2007
Es ist acht Uhr abends. Wieder geht ein wunderbarer Sommertag zu Ende.
Alice tritt an das breite Flügelfenster und öffnet die Läden, um das schräg fallende, orangefarbene Licht hereinzulassen. Eine leichte Brise streichelt ihre nackten Arme. Ihre Haut hat die Farbe von Haselnüssen, und ihr Haar ist zu einem Zopf auf dem Rücken geflochten.
Die Sonne steht jetzt tief, ein vollkommener runder Ball am rosaweißen Himmel. Sie wirft mächtige schwarze Schatten über die nahen Gipfel der Sabarthès-Berge, wie zum Trocknen ausgelegte Stoffbahnen. Vom Fenster aus kann sie den Col des Sept Frères sehen und dahinter den Pic de Saint-Bartélémy.
Es ist auf den Tag genau zwei Jahre her, dass Sajhë starb.
Zuerst fiel es Alice schwer, mit den Erinnerungen zu leben. Der laute Schuss in der klaustrophobischen Kammer, das Beben der Erde, das weiße Gesicht in der Dunkelheit, Wills Gesichtsausdruck, als er zusammen mit Inspektor Noubel in die Höhle gestürmt kam.
Am meisten jedoch verfolgte sie die Erinnerung an das Licht, das in Audrics Augen erlosch - Sajhë, denn so nennt sie ihn inzwischen nur noch.
Ganz am Ende sah sie Frieden darin, keine Trauer mehr, aber das hat ihren Schmerz nicht gelindert.
Je mehr Alice erfuhr, desto mehr verlor sich der Schrecken jener letzten Momente, der sie zunächst nicht mehr loslassen wollte. Allmählich verlor die Vergangenheit die Macht, sie zu quälen. Sie weiß, dass Marie-Cecile und ihr Sohn von den herabstürzenden Felsen erschlagen wurden. Beide sind bei dem Erdbeben vom Berg verschlungen worden. Paul Authié wurde dort gefunden, wo Francois-Baptiste ihn erschossen hatte. Der Zeitzünder für die vier Sprengladungen hatte unaufhaltsam neben seiner Leiche gelegen und die Detonationen ausgelöst.
Als jener Sommer zu Herbst wurde, der Herbst zu Winter, erholte Alice sich nach und nach - mit Wills Hilfe. Die Zeit tut ihr Werk. Die Zeit und die Verheißung eines neuen Lebens. Allmählich verblassen die schmerzlichen Erinnerungen. Wie alte Fotografien, an die man sich nur halb und verschwommen erinnert, setzen sie in ihrem Kopf Staub an.
Alice hat ihre Wohnung in England verkauft. Mit dem Geld und dem Erlös aus dem Verkauf des Hauses ihrer Tante in Salleles d'Aude haben Will und sie sich in Los Seres niedergelassen.
Das Haus, in dem Alaïs einst mit Sajhë, Bertrande und Harif lebte, ist jetzt ihr Zuhause. Sie haben es ausgebaut und modernisiert, aber der Geist des Ortes ist unverändert geblieben.
Das Geheimnis des Grals ist sicher, so wie Alaïs es wollte, verborgen in diesen zeitlosen Bergen. Die drei Papyri, die aus ihren mittelalterlichen Büchern gelöst worden waren, liegen unter Felsgestein begraben.
Alice hat begriffen, dass es ihre Bestimmung war, das zu Ende zu bringen, was vor achthundert Jahren unvollendet geblieben war. Sie weiß jetzt auch, so wie Alaïs es wusste, dass der wahre Gral in der Liebe liegt, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, in den Worten, die der Vater dem Sohn, die Mutter der Tochter sagt. Die Wahrheit ist überall um sie herum. In den Steinen, den Felsen, den sich wandelnden Formen der Jahreszeiten in den Bergen.
Durch die erzählten Geschichten unserer Vergangenheit haben wir Bestand.
Alice glaubt nicht, dass sie das alles in Worte fassen kann. Anders als Sajhë ist sie keine begnadete Erzählerin, keine Schriftstellerin. Vielleicht, so denkt sie, entzieht es sich ja allen Worten. Man kann es Gott nennen oder Glauben. Vielleicht ist die Wahrheit des Grals zu groß, um ausgesprochen zu werden, um durch etwas so Veränderliches wie Sprache in Zeit und Raum und Kontext eingebunden zu werden.
Alice stützt die Hände auf die Fensterbank und atmet die zarten Düfte des Abends ein. Wilder Thymian, Ginster, die schimmernde Erinnerung an die Hitze auf den Steinen, Bergsellerie und Minze, Salbei, die Aromen ihres Kräutergartens.
Ihr Ruf verbreitet sich. Was als kleine Gefälligkeiten für Restaurants und Nachbarn begann, die sie mit Kräutern belieferte, ist zu einem einträglichen Geschäft geworden. Inzwischen bieten die meisten Hotels und Geschäfte in der Umgebung bis hin nach Foix und Mirepoix ihre Produkte an, die das charakteristische Etikett Epices Pelletier et Pille tragen. Der Name ihrer Ahnen, den sie angenommen hat.
Der hameau Los Seres ist noch auf keiner Karte verzeichnet. Zu klein. Aber es wird nicht mehr lange dauern. Benleu.
Unten im Arbeitszimmer hat das Klappern der Tastatur aufgehört. Alice hört Will in der Küche hantieren. Er holt Teller aus dem Schrank und Brot aus der Vorratskammer. Bald wird sie nach unten gehen. Er wird eine Flasche Wein öffnen, und sie wird schon mal ein Glas trinken, während er kocht.
Morgen kommt Jeanne Giraud sie besuchen, eine würdevolle, bezaubernde Frau, die inzwischen fest zu ihrem Leben dazugehört. Am Nachmittag fahren sie dann ins nächste Dorf und legen auf dem Platz Blumen nieder, vor dem Denkmal, das an den gefeierten Widerstandskämpfer und Spezialisten für die Geschichte der Katharer, Audric Baillard, erinnert. Auf der Tafel steht ein okzitanisches Sprichwort, das Alice ausgesucht hat. »Pas a pas se va luenh.«
Später wird Alice allein in die Berge gehen, zu der Stelle, wo eine andere Gedenktafel sein Grab in der freien Natur markiert, so wie er es sich immer gewünscht hat. Auf dem Stein steht schlicht SAJHË.
Das genügt, um sich seiner zu erinnern.
Der Stammbaum der Familie, Sajhës erstes Geschenk an Alice, hängt an der Wand im Arbeitszimmer. Alice hat drei Veränderungen vorgenommen. Sie hat die Sterbedaten von Alaïs und Sajhë hinzugefügt, die achthundert Jahre auseinander liegen. Sie hat Wills Namen neben ihren gesetzt, und das Datum ihrer Heirat.
Und ganz am Ende, wo die Geschichte weitergeht, steht jetzt:
SAJHËSSE GRACE FARMER PELLETIER, geb. 28. Februar 2007
Alice lächelt und geht hinüber zu dem Kinderbettchen, in dem ihre Tochter sich rührt. Ihre hellen, niedlichen Zehen zucken, als sie allmählich aufwacht. Alice hält den Atem an, als ihre Tochter die Augen aufschlägt.
Sie gibt ihr einen summenden Kuss auf den Kopf und stimmt ein Wiegenlied in der alten Sprache an, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Bona nuèit, bona nuèit...
Braves amics, pica mièja-nuèit
Calfinir velhada
Ejos la flassada.
Eines Tages wird Sajhësse das Lied vielleicht ihrem eigenen Kind Vorsingen.
Mit ihrer Tochter auf dem Arm geht Alice wieder ans Fenster und denkt an all die Dinge, die sie ihr beibringen wird. An die Geschichten, die sie ihr über die Vergangenheit erzählen wird, und darüber, wie alles so gekommen ist.
In ihren Träumen kommt Alaïs nicht mehr zu ihr. Aber als Alice in dem schwächer werdenden Licht steht und auf die uralten Gipfel und Bergkämme und Täler hinausschaut, die sich weiter erstrecken, als ihr Auge reicht, spürt sie die Gegenwart der Vergangenheit um sich herum, fühlt ihre Umarmung. Geister, Freunde, Gespenster, die ihre Hände ausstrecken und raunend von ihrem Leben erzählen, ihre Geheimnisse mit ihr teilen. Sie verbinden sie mit allen, die schon hier gestanden haben - und allen, die nach ihr kommen werden - und davon träumten, was das Leben wohl für sie bereithielt.
In der Ferne steigt ein weißer Mond am gesprenkelten Himmel auf und verspricht für morgen wieder einen schönen Tag.