Kapitel 58
Auf Wunsch von Vicomte Trencavel waren im Großen Saal Tische aufgestellt worden. Der Vicomte und Frau Agnès gingen zwischen ihnen umher und dankten den Männern für die Dienste, die sie geleistet hatten und noch leisten würden. Pelletier fühlte sich gar nicht gut. Der Geruch von verbranntem Wachs, Schweiß, kaltem Essen und warmem Bier hing in der Luft. Pelletier wusste nicht, wie lange er das noch aushalten konnte. Er hatte krampfartige Bauchschmerzen, die an Heftigkeit und Häufigkeit Zunahmen.
Er versuchte sich gerade aufzurichten, doch plötzlich gaben seine Beine unter ihm nach. Er kippte nach vorn, wollte sich an einem Tisch festhalten und fegte dabei Teller und Becher und Fleischknochen zu Boden. Er hatte das Gefühl, als hätte ein wildes Tier die Zähne in seinen Bauch geschlagen.
Trencavel fuhr herum. Irgendjemand rief etwas. Pelletier bekam mit, dass Diener ihm zu Hilfe eilten und dass nach Alaïs gerufen wurde.
Er spürte Hände, die ihn stützten und Richtung Tür führten. François' Gesicht tauchte kurz in seinem Gesichtsfeld auf, war dann gleich wieder verschwunden.
Er hörte eine vertraute Stimme, Alaïs, die Anweisungen gab, obwohl es klang, als ob sie weit weg wäre und eine Sprache spräche, die er nicht verstand.
»Alaïs«, rief er und griff in der Dunkelheit nach ihrer Hand. »Ich bin hier. Wir bringen Euch in Euer Gemach.«
Er spürte starke Arme, die ihn hochhoben, die Nachtluft auf seinem Gesicht, als er durch den Cour d'Honneur getragen wurde, dann die Treppe hinauf.
Sie kamen langsam voran. Die Krämpfe in seinem Bauch wurden immer schlimmer. Er konnte spüren, wie die Seuche in ihm arbeitete, ihm das Blut und den Atem vergiftete.
»Alaïs ... «, flüsterte er, diesmal voller Angst.
Sobald sie im Zimmer ihres Vaters waren, schickte Alaïs Rixende los, um François zu holen und ihr die Arzneien aus ihrem Zimmer zu bringen, die sie brauchte. Zwei weitere Diener schickte sie in die Küche, um kostbares Wasser herbeizuschaffen.
Sie hatte ihren Vater aufs Bett gelegt. Sie zog ihm das besudelte Obergewand aus und warf es auf einen Haufen. Es musste verbrannt werden. Pestilenzgeruch schien aus den Poren seiner Haut zu dringen. Die Durchfälle kamen immer häufiger und wurden immer schlimmer, bestanden inzwischen fast nur noch aus Blut und schleimigem Eiter. Alaïs ließ Kräuter und Blüten verbrennen, um den Gestank zu überdecken, doch selbst die größten Mengen Lavendel oder Rosmarin konnten nicht verhüllen, wie es um ihn stand.
Rixende war rasch mit den Arzneien zurück und half Alaïs, die getrockneten roten Beeren mit heißem Wasser zu einem dünnen Brei anzurühren. Nachdem Alaïs ihm auch das beschmutzte Untergewand ausgezogen hatte, bedeckte sie ihn mit einem sauberen dünnen Laken und löffelte ihm dann die Flüssigkeit zwischen die farblosen Lippen.
Den ersten Mund voll, den er schluckte, erbrach er gleich wieder. Sie versuchte es erneut. Diesmal gelang es ihm, den Schluck bei sich zu behalten, obwohl es ihn eine ungeheure Anstrengung kostete und sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde.
Zeit verlor jede Bedeutung, verging weder schnell noch langsam, während Alaïs verzweifelt versuchte, die Krankheit aufzuhalten. Um Mitternacht trat Vicomte Trencavel in den Raum.
»Wie steht es um ihn, Dame Alaïs?«
»Er ist sehr krank, Messire.«
»Braucht Ihr irgendetwas? Ärzte, Arzneien?«
»Etwas mehr Wasser, wenn es entbehrt werden kann. Ich habe Rixende schon vor einiger Zeit auf die Suche nach François geschickt, aber er ist immer noch nicht da.«
»Ich kümmere mich um alles.«
Trencavel sah über ihre Schulter zum Bett hinüber. »Wie kommt es, dass er so schnell erkrankt ist?«
»Es ist schwer zu sagen, warum es den einen so hart trifft und den Nächsten verschont, Messire. Die körperliche Verfassung meines Vaters war durch seine Zeit im Heiligen Land sehr in Mitleidenschaft gezogen. Er ist besonders anfällig für Magenerkrankungen.« Sie zögerte. »So Gott will, wird die Krankheit sich nicht weiter ausbreiten.«
»Besteht kein Zweifel, dass es die Ruhr ist?«, fragte er grimmig. Alaïs schüttelte den Kopf. »Es bekümmert mich, das zu hören. Gebt mir Bescheid, wenn sich sein Zustand verändert.« Während die Stunden langsam verstrichen, wurde die Lebenskraft ihres Vaters immer schwächer. Er hatte helle Augenblicke, in denen er genau zu wissen schien, was mit ihm los war. Dann wieder wusste er weder wo noch wer er war.
Kurz vor Tagesanbruch atmete Pelletier plötzlich nur noch ganz flach. Alaïs, die an seinem Bett eingenickt war, hörte die Veränderung und war schlagartig wach.
»Filha ...«
Sie berührte seine Hände, fühlte seine Stirn und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Das Fieber hatte ihn verlassen, und seine Haut war kalt.
Seine Seele kämpft darum, freigelassen zu werden.
»Hilf mir ...«, brachte er heraus, »... mich aufzusetzen.«
Mit Rixendes Hilfe gelang es Alaïs, ihn in eine sitzende Position zu bringen. Im Verlauf von nur einer Nacht hatte ihn die Krankheit zum Greis gemacht.
»Sprecht nicht«, flüsterte sie. »Spart Eure Kräfte.« »Alaïs«, ermahnte er sie leise. »Du weißt, dass meine Zeit gekommen ist.« In seiner Brust gurgelte und rasselte es, wenn er nach Luft rang. Seine Augen waren hohl und gelb umschattet, und auf seinen Händen und am Hals bildeten sich hellbraune Flecke. »Lass bitte einen parfait kommen.« Er zwang sich, die eingesunkenen Augen zu öffnen. »Ich möchte getröstet sterben.«
»Ihr wollt das consolament hören, Paire?«, fragte sie vorsichtig. Pelletier brachte ein dünnes Lächeln zustande, und für einen Augenblick schien in ihm noch einmal der Mann auf, der er im Leben gewesen war.
»Ich habe den Worten der Bons Chrétiens gut zugehört. Ich habe die Worte des melhorer und des consolament gelernt ...« Er brach ab. »Ich bin als Christ geboren, und ich werde als Christ sterben, aber nicht in den Armen derjenigen, die vor unseren Toren im Namen Gottes Krieg führen. Durch Gottes Gnade werde ich, wenn ich als guter Mensch gelebt habe, in die herrliche Gemeinschaft der Seelen im Himmel aufgenommen werden.« Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Alaïs blickte sich verzweifelt im Zimmer um. Sie schickte einen Diener zu Vicomte Trencavel, um ihm zu sagen, dass sich der Zustand ihres Vaters verschlechtert hatte. Sobald er gegangen war, rief sie Rixende.
»Du musst die parfaits holen. Ich hab sie vor einiger Zeit im Hof gesehen. Sag ihnen, dass hier jemand ist, der das consolament erhalten möchte.«
Rixende blickte sie entsetzt an.
»Du machst dich nicht schuldig, nur weil du eine Nachricht überbringst«, sagte Alaïs, um das Mädchen zu beruhigen. »Du musst auch nicht mit ihnen wieder herkommen.«
Eine Bewegung ihres Vaters lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Bett.
»Rasch, Rixende. Beeil dich.«
Alaïs bückte sich. »Was ist, Paire? Ich bin hier bei Euch.«
Er wollte etwas sagen, doch die Worte schienen ihm in der Kehle zu verkümmern, bevor er sie aussprechen konnte. Sie goss ihm ein wenig Wein in den Mund und betupfte seine ausgetrockneten Lippen mit einem nassen Tuch.
»Der Gral ist das Wort Gottes, Alaïs. Das hat Harif versucht, mich zu lehren, wenngleich ich ihn nicht verstand.« Seine Stimme war brüchig. »Aber ohne den merel ... die Wahrheit des Labyrinths ... ist es ein falscher Weg.«
»Was ist mit dem merel?«, flüsterte sie beschwörend, verstand nicht, was er meinte.
»Du hattest Recht, Alaïs. Ich war zu verbohrt. Ich hätte dich gehen lassen sollen, als noch Zeit war.«
Alaïs versuchte sich auf seine unzusammenhängenden Worte einen Reim zu machen. »Welcher Weg?«
»Ich habe sie nicht gesehen«, murmelte er, »und jetzt ist es dafür zu spät. Die Höhle ... nur wenige haben sie gesehen.«
Alaïs drehte sich verzweifelt zur Tür um.
Wo bleibt Rixende?
Auf dem Gang draußen ertönte das Geräusch eiliger Schritte. Rixende erschien, gefolgt von zwei parfaits. Alaïs erkannte den Älteren der beiden, einen Mann mit dunklen Gesichtszügen, dichtem Bart und sanfter Miene, dem sie einmal in Esclarmon- des Haus begegnet war. Beide trugen sie dunkelblaue Kutten und einen Strick als Gürtel mit Eisenschnallen in Form eines Fisches.
Er verneigte sich. »Dame Alaïs.« Er schaute an ihr vorbei zum Bett. »Ich nehme an, Euer Vater, Intendant Pelletier, ist es, der des Trostes bedarf.«
Sie nickte.
»Ist sein Atem noch kräftig genug zum Sprechen?«
»Er wird die Kraft dazu finden.«
Wieder war draußen auf dem Gang ein Geräusch zu hören, und gleich darauf trat Vicomte Trencavel ins Zimmer.
»Messire«, sagte sie bestürzt. »Er hat nach den parfaits verlangt ... mein Vater wünscht, getröstet zu sterben, Messire.«
Überraschung flackerte in seinen Augen, doch er ordnete an, die Tür zu schließen.
»Dennoch«, sagte er. »Ich bleibe.«
Alaïs starrte ihn einen Augenblick lang an, dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu, als der leitende parfait sie rief. »Intendant Pelletier hat starke Schmerzen, doch sein Verstand ist klar und sein Mut ungebrochen.« Alaïs nickte. »Hat er auch nichts getan, um unserem Glauben zu schaden, und ist er uns nichts schuldig?«
»Er ist ein Verteidiger aller Freunde Gottes.«
Alaïs und Raymond-Roger hielten sich im Hintergrund, als der parfait ans Bett trat und sich über den Sterbenden beugte. Bertrands Augen flackerten, als er das melhorer flüsterte, die Ehrenbezeugung.
»Gelobt Ihr, den Regeln von Gerechtigkeit und Wahrheit zu folgen und Euch Gott und der Kirche der Bons Chrétiens zu übergeben?«
Pelletier presste die Worte zwischen den Lippen hervor. »Ich gelobe es.«
Der parfait legte eine Pergamentabschrift des Neuen Testamentes auf Pelletiers Kopf. »Möge Gott dich segnen, einen guten Christen aus dir machen und dich zu einem seligen Ende führen.« Er sprach das Benedicté, dann dreimal das Adoremus. Alaïs war von der Schlichtheit der Zeremonie bewegt. Vicomte Trencavel blickte starr geradeaus. Er schien sich nur mit größter Mühe beherrschen zu können.
»Bertrand Pelletier, bist du bereit, die Gabe des Vaterunsers zu empfangen?«
Ihr Vater raunte seine Zustimmung.
Mit klarer, reiner Stimme sprach der parfait das Paternoster siebenmal hintereinander und hielt nur inne, damit Pelletier Amen sagen konnte.
»Das ist das Gebet, das Jesus Christus in diese Welt brachte und das er die Bons Homes lehrte. Von nun an wirst du nie wieder essen oder trinken, ohne zuvor dieses Gebet gesprochen zu haben, und wenn du gegen diese Pflicht verstößt, musst du erneut Buße tun.«
Pelletier versuchte zu nicken. Das hohle Pfeifen in seiner Brust war nun lauter wie der Wind in Herbstbäumen.
Der parfait begann aus dem Evangelium des Johannes zu lesen. »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.« Pelletiers Hand zuckte auf dem Laken, als der parfait weiterlas. »... Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.«
Plötzlich riss der Sterbende die Augen auf. »Vertat«, flüsterte er. »Ja, die Wahrheit.«
Ängstlich packte Alaïs seinen Arm, doch er entglitt ihr. Das Licht war aus seinen Augen gewichen. Sie merkte, dass der parfait jetzt schneller sprach, als fürchtete er, dass ihm nicht mehr genug Zeit blieb, um das Ritual abzuschließen.
»Er muss die letzten Worte sprechen«, drängte er Alaïs. »Helft ihm.«
»Paire, Ihr müsst ...« Die Trauer raubte ihr die Stimme.
»Für jede Sünde ... die ich begangen habe ... in Wort oder Tat«, röchelte er, »bitte ich ... bitte ich Gott und die Kirche und alle hier Anwesenden ... um Vergebung.«
Mit offensichtlicher Erleichterung legte der parfait seine Hände auf Pelletiers Haupt und gab ihm den Friedenskuss. Alaïs stockte der Atem.
Ein Ausdruck des Friedens hatte das Gesicht ihres Vaters verwandelt, als die Gnade des consolament sich auf ihn senkte. Es war ein Augenblick der Transzendenz, des Begreifens. Sein Geist war jetzt bereit, diesen kranken Leib und die Erde zu verlassen, die ihn festhielt.
»Seine Seele ist bereit«, sagte der parfait.
Alaïs nickte. Sie setzte sich aufs Bett und hielt ihrem Vater die Hand. Vicomte Trencavel trat an die andere Seite. Pelletier war kaum noch bei Bewusstsein, aber er schien ihre Anwesenheit zu spüren.
»Messire?«
»Ich bin hier, Bertrand.«
»Carcassona darf nicht fallen.«
»Ich gebe Euch mein Wort, eingedenk der Liebe und Treue, die so viele Jahre zwischen uns bestanden, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht.«
Pelletier versuchte die Hand von der Decke zu nehmen. »Es war eine Ehre, Euch zu dienen.«
Alaïs sah, dass dem Vicomte Tränen in den Augen standen. »Ich bin es, der Dank sagen sollte, mein alter Freund.«
Pelletier bewegte den Kopf. »Alaïs?«
»Ich bin hier, Vater«, sagte sie rasch.
Die Farbe war jetzt gänzlich aus Pelletiers Gesicht gewichen. Die Haut lag ihm in grauen Falten um die Augen. »Kein Mann hat je eine solche Tochter gehabt.«
Er schien zu seufzen, als das Leben seinen Körper verließ. Dann Stille.
Einen Augenblick lang rührte sich Alaïs nicht, atmete nicht, zeigte keinerlei Reaktion. Dann spürte sie, wie eine wilde Trauer in ihr aufwallte, sie erfasste und Besitz von ihr nahm, bis sie in einem tränengeschüttelten Weinkrampf zusammenbrach.