Kapitel 32

 

Überall am hohen Ufer des Quai de Paicherou saßen Männer und Frauen auf Metallbänken und genossen den Blick auf die Aude. Die weiten, gepflegten Rasenflächen der öffentlichen Parks wurden von fröhlich bepflanzten Blumenbeeten und sorgsam angelegten Wegen aufgelockert. Die grellen Lila- und Gelbund Orangetöne auf dem Kinderspielplatz passten zu den überbordenden Farben der Blüten in den Beeten - Raketenblumen, riesige Lilien, Rittersporn und Geranien.

Marie-Cecile saß im Wagen und warf einen anerkennenden Blick auf das Haus, in dem Paul Authié wohnte. Die Gegend war so, wie sie erwartet hatte, ein diskretes und dezentes quartier, das es nicht nötig hatte, dick aufzutragen, eine Mischung aus Einfamilienhäusern und Apartments. Während sie noch in ihre Betrachtung versunken war, radelte eine Frau mit blauem Seidenschal und hellroter Bluse auf dem Fahrradweg vorüber. Marie-Cecile spürte, dass sie beobachtet wurde. Ohne den Kopf zu bewegen, blickte sie nach oben und sah einen Mann auf dem oberen Balkon stehen, der beide Hände auf das schmiedeeiserne Geländer gestützt hatte und zu ihrem Wagen herunterschaute. Sie lächelte. Sie erkannte Paul Authié von den Fotos wieder. Auf diese Entfernung sah es nicht so aus, als wären sie ihm gerecht geworden.

Ihr Fahrer ging zur Haustür und klingelte. Sie beobachtete, wie Authié sich umwandte und durch die Balkontür verschwand. Als ihr Chauffeur für sie die Wagentür öffnete, stand Authié schon im Eingang, um sie zu begrüßen.

Sie hatte ihre Garderobe sorgfältig ausgewählt, ein blassbraunes, ärmelloses Leinenkleid mit passendem Blazer, formell, aber nicht zu streng. Sehr schlicht, sehr elegant.

Aus der Nähe betrachtet, bestätigte Authié den ersten Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte. Er war groß und sportlich und trug einen saloppen, aber gut geschnittenen Anzug und ein weißes Hemd. Sein Haar war glatt nach hinten aus der Stirn gekämmt und betonte die feinen Züge seines blassen Gesichts. Ein beunruhigender Blick. Doch unter dem urbanen Äußeren witterte Marie-Cecile die Entschlossenheit eines erbitterten Kämpfers.

Zehn Minuten später, nachdem sie sich ein Glas Wein hatte einschenken lassen, konnte sie den Mann, mit dem sie es zu tun hatte, schon ein wenig besser einschätzen. Marie-Cecile lächelte, als sie sich vorbeugte und ihre Zigarette in dem schweren Glasaschenbecher ausdrückte.

»Bon, aux affaires. Ich denke, dazu sollten wir hineingehen.« Authié trat beiseite, um ihr den Vortritt durch die Balkontür in das makellose, aber unpersönliche Wohnzimmer zu lassen. Helle Teppiche und Lampenschirme, Stühle mit hoher Rückenlehne um einen Glastisch.

»Noch etwas Wein? Oder kann ich Ihnen etwas anderes anbieten?«

»Pastis, wenn Sie haben.«

»Auf Eis? Mit Wasser?«

»Auf Eis.«

Marie-Cecile setzte sich in einen der cremefarbenen Ledersessel zu beiden Seiten eines kleinen gläsernen Couchtisches und sah zu, wie er die Getränke zubereitete. Ein Hauch Anisaroma erfüllte den Raum. Authié reichte ihr den Pastis und setzte sich in den Sessel gegenüber.

»Danke«, sagte sie mit einem Lächeln. »Also. Paul. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch einmal von Ihnen den genauen Ablauf der Ereignisse hören.«

Falls er gereizt war, ließ er es sich nicht anmerken. Sie beobachtete ihn genau, während er sprach, doch sein Bericht war klar und präzise und entsprach bis ins Detail dem, was er ihr zuvor schon erzählt hatte.

»Und die Skelette selbst sind nach Toulouse gebracht worden?« »In die Abteilung für forensische Anthropologie an der dortigen Universität, ja.«

»Wann rechnen Sie mit ersten Ergebnissen?«

Statt einer Antwort gab er ihr den weißen DIN-A4-Umschlag, der auf dem Tisch lag. Also doch nicht über ein bisschen Effekthascherei erhaben, dachte sie.

»Jetzt schon? Das ging aber schnell.«

»Jemand schuldete mir noch einen Gefallen.«

Marie-Cecile legte sich den Umschlag auf den Schoß. »Danke. Ich werde das später lesen«, sagte sie ruhig. »Sie könnten mir doch schon mal das Wichtigste zusammenfassen. Sie haben den Bericht gelesen, vermute ich?«

»Es ist nur ein vorläufiger Bericht, bis die Ergebnisse weiterer, genauerer Tests vorliegen«, gab er zu bedenken.

»Verstehe«, sagte sie und lehnte sich zurück.

»Es handelt sich um ein männliches und ein weibliches Skelett. Geschätztes Alter siebenhundert bis neunhundert Jahre. Das männliche Skelett zeigte Spuren von nicht ausgeheilten Verletzungen des Beckens und im oberen Bereich des Oberschenkelknochens, was darauf schließen lässt, dass die Verletzungen kurz vor Eintritt des Todes erfolgten. Es wurden auch Spuren älterer, ausgeheilter Frakturen des rechten Arms und des Schlüsselbeins festgestellt.«

»Wie alt?«

»Erwachsen, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht uralt. Irgendwas zwischen zwanzig und sechzig. Durch weitere Tests kann dieser Zeitraum vermutlich noch eingegrenzt werden. Für die Frau gilt derselbe Zeitrahmen. Die Hirnschale war an einer Seite eingedrückt, was entweder durch einen Schlag auf den Kopf oder einen schweren Sturz verursacht worden sein könnte. Sie hatte mindestens ein Kind geboren. Zudem gab es Hinweise auf eine ausgeheilte Fraktur des rechten Fußes und auf einen nicht ausgeheilten Bruch des linken Ellenknochens zwischen Ellbogen und Handgelenk.«

»Todesursache?«

»Da will sich der Anthropologe so früh noch nicht festlegen, und es dürfte seiner Meinung nach auch schwer werden, eine eindeutige Diagnose zu stellen. Angesichts der Zeitspanne, um die es hier geht, sind die beiden vermutlich an dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren gestorben: die Verletzungen, Blutverlust und möglicherweise auch Unterernährung.«

»Er glaubt, sie waren noch am Leben, als sie in der Höhle eingeschlossen wurden?«

Authié zuckte die Achseln, doch sie bemerkte ein interessiertes Flackern in seinen Augen. Marie-Cecile nahm eine Zigarette aus ihrem Etui und drehte sie einen Moment nachdenklich zwischen den Fingern. »Was ist mit den Gegenständen, die zwischen den Skeletten gefunden wurden?«, sagte sie und beugte sich vor, damit er ihr Feuer geben konnte.

»Auch das ist nur unter Vorbehalt, aber der Anthropologe schätzt, dass sie aus dem späten 12. bis Mitte 13. Jahrhundert stammen. Die Lampe auf dem Altar könnte etwas älter sein und ist arabischer Herkunft, möglicherweise aus Spanien, aber wahrscheinlich doch von weiter weg. Das Messer war ein herkömmliches Essmesser, für Fleisch und Obst. An der Klinge waren Blutspuren nachweisbar. Tests werden feststellen, ob es sich um tierisches oder menschliches Blut handelt. Der Beutel war aus Leder, hier aus der Gegend und typisch für das Languedoc jener Zeit. Nichts deutet darauf hin, ob irgendwas drin war und, wenn ja, was. Allerdings fanden sich im Innern Metallpartikel und in den Nähten Spuren von Schafsleder.«

Marie-Cecile hielt ihre Stimme so ruhig wie möglich. »Was noch?« »Die Frau, die die Höhle entdeckt hat, eine gewisse Dr. Tanner, hat eine große Fibel aus Kupfer und Silber gefunden. Sie steckte unter dem Felsen vor dem Höhleneingang. Der Anthropologe hat auch die Fibel auf den fraglichen Zeitraum datiert und glaubt, dass sie aus der Gegend stammt, möglicherweise aus Aragon. In dem Umschlag befindet sich auch ein Foto davon.« Marie-Cecile winkte ab. »Eine Fibel interessiert mich nicht, Paul«, sagte sie. Sie blies einen dünnen Rauchstrahl in die Luft, der sich zur Decke kringelte. »Was mich dagegen interessiert, ist die Frage, wieso Sie das Buch nicht gefunden haben.«

Sie sah, wie sich seine langen Finger um die Sessellehnen schlossen.

»Wir haben keinen Beweis dafür, dass das Buch tatsächlich da war«, sagte er seelenruhig. »Obwohl ein Buch von der Größe, wie Sie es suchen, ohne weiteres in den Lederbeutel gepasst hätte.« »Und was ist mit dem Ring? Bezweifeln Sie auch, dass der da war?«

Wieder ließ er sich nicht von ihr aus der Reserve locken. »Im Gegenteil, ich bin sicher, dass der Ring da war.«

»Und?«

»Er war da, doch irgendwann in dem Zeitraum zwischen der Entdeckung der Höhle und vor meinem Eintreffen zusammen mit der Polizei wurde er entwendet.«

»Aber auch dafür haben Sie keine Beweise«, sagte sie, jetzt mit schneidender Stimme. »Von dem Ring fehlte also auch jede Spur.«

Marie-Cecile sah zu, wie Authié ein Blatt Papier aus seiner Jacketttasche zog. »Dr. Tanner war überaus nachdrücklich, was den Ring angeht, sie hat sogar diese Zeichnung hier angefertigt«, sagte er und reichte ihr das Blatt. »Es ist eine grobe Darstellung, zugegeben, aber sie passt doch recht gut zu der Beschreibung, die ich von Ihnen bekommen habe. Finden Sie nicht auch?«

Sie nahm ihm die Zeichnung aus der Hand. Größe, Form und Proportion waren zwar nicht identisch, aber entsprachen doch weitestgehend dem Diagramm des Labyrinth-Ringes, den Marie-Cecile in ihrem Safe in Chartres aufbewahrte. Seit achthundert Jahren hatte ihn niemand außerhalb der Familie de l'Oradore gesehen. Er musste echt sein.

»Eine richtige Künstlerin«, murmelte Marie-Cecile. »Ist das die einzige Zeichnung, die sie gemacht hat?«

Seine grauen Augen blickten ruhig und unverwandt in ihre. »Es gibt noch andere, aber die hier erscheint mir am interessantesten.«

»Das sollten Sie doch lieber mich beurteilen lassen«, sagte sie leise.

»Madame de l'Oradore, ich habe leider nur diese eine mitgenommen. Die anderen erschienen mir unbedeutend.« Authié hob entschuldigend die Schultern. »Außerdem hat Inspektor Noubel, der Leiter der Ermittlungen, schon ziemlich argwöhnisch auf mein Interesse reagiert.«

»Das nächste Mal ...«, begann sie, sprach aber nicht weiter. Sie drückte ihre Zigarette so kräftig aus, dass der Tabak fächerförmig herausquoll. »Sie haben Dr. Tanners Sachen durchsucht, vermute ich?«

Er nickte. »Der Ring war nicht da.«

»Er ist klein. Sie könnte ihn problemlos irgendwo versteckt haben.«

»Theoretisch ja«, pflichtete er ihr bei, »aber ich glaube nicht, dass sie das getan hat. Wenn sie ihn gestohlen hat, wieso sollte sie ihn dann überhaupt erwähnen? Außerdem« - er beugte sich vor und klopfte auf das Blatt -, »wenn sich das Original in ihrem Besitz befände, warum sollte sie sich dann die Mühe machen und es abzeichnen?«

Marie-Cecile betrachtete die Zeichnung. »Sie ist erstaunlich genau, für eine Zeichnung aus dem Gedächtnis.«

»Da gebe ich Ihnen Recht.«

»Wo ist Dr. Tanner jetzt?«

»Hier in Carcassonne. Sie hat offenbar morgen einen Termin bei einem Anwalt.«

»In welcher Angelegenheit?«

Er zuckte die Achseln. »Eine Erbschaft, irgendwas in der Art. Sonntag will sie zurückfliegen.«

Die Zweifel, die Marie-Cecile gleich von Anfang an gehabt hatte, als sie von dem Fund erfuhr, wurden immer stärker, je mehr er ihr erzählte. Irgendetwas passte nicht zusammen.

»Wie kam es, dass Dr. Tanner in dem Ausgrabungsteam mitgearbeitet hat?«, fragte sie. »Wurde sie von jemandem empfohlen?«

Authié blickte sie erstaunt an. »Dr. Tanner war keine reguläre Mitarbeiterin«, sagte er leichthin. »Ich bin sicher, dass ich das erwähnt habe.«

Ihre Lippen wurden schmal. »Nein, das haben Sie nicht erwähnt.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er glattzüngig. »Ich war mir wirklich sicher. Dr. Tanner hat eine Woche ehrenamtlich mitgearbeitet. Die meisten Ausgrabungen sind auf unbezahlte Hilfskräfte angewiesen, daher wird man sich wohl gefreut haben, als sie ins Team geholt wurde.«

»Wer hat sie ins Team geholt?«

»Shelagh O'Donnell, glaube ich«, sagte er ausdruckslos, »die Nummer zwei im Ausgrabungsteam.«

»Ist Dr. Tanner eine Bekannte von Shelagh O'Donnell?«, fragte sie, bemüht, ihre Verblüffung zu kaschieren.

»Anscheinend, deshalb ist mir auch der Gedanke gekommen, Dr. Tanner könnte den Ring vielleicht an sie weitergegeben haben. Leider hatte ich am Montag keine Gelegenheit mehr, sie zu befragen, und jetzt scheint sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein.«

»Wie bitte?«, fragte Marie-Cecile scharf. »Seit wann? Wer weiß davon?«

»O'Donnell war gestern Abend im Ausgrabungshaus. Sie hat einen Anruf bekommen und ist kurz darauf gegangen. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.«

Marie-Cecile zündete sich eine neue Zigarette an, um ihre Nerven zu beruhigen. »Wieso erfahre ich das erst jetzt?«

»Mir war nicht klar, dass Sie das interessieren würde, schließlich hat es mit Ihrem Hauptanliegen nur am Rande zu tun. Ich bitte um Verzeihung.«

»Hat man die Polizei verständigt?«

»Noch nicht. Dr. Brayling, der Leiter der Ausgrabung, hat dem ganzen Team ein paar Tage freigegeben. Er hält es für möglich - für wahrscheinlich -, dass O'Donnell einfach weggefahren ist, ohne irgendwem Bescheid zu sagen.«

»Ich möchte nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird«, sagte sie heftig. »Das wäre äußerst bedauerlich.«

»Da bin ich ganz Ihrer Ansicht, Madame de l'Oradore. Dr. Brayling ist kein Dummkopf. Wenn er glaubt, dass O'Donnell etwas von der Ausgrabungsstätte hat mitgehen lassen, dann liegt es wohl kaum in seinem Interesse, die Behörden einzuschalten.« »Meinen Sie, O'Donnell hat den Ring gestohlen?«

Authié wich der Frage aus. »Ich denke, wir sollten sie suchen.« »Das war nicht meine Frage. Und das Buch? Meinen Sie, dass sie das vielleicht auch an sich genommen hat?«

Authié sah ihr direkt in die Augen. »Wie gesagt, weder will ich behaupten, dass das Buch da war, noch, dass es nicht da war.« Er zögerte kurz. »Falls es da war, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie es hätte beiseite schaffen können, ohne dass es jemand mitkriegt. Im Gegensatz zu dem Ring.«

»Na, irgendwer hat das Buch jedenfalls mitgenommen«, fauchte sie entnervt.

»Wie gesagt, falls es überhaupt da war.«

Marie-Cecile sprang urplötzlich auf, ging um den Tisch herum und stellte sich dicht vor ihn. Zum ersten Mal sah sie eine gewisse Beunruhigung in seinen grauen Augen. Sie bückte sich und legte ihre Hand flach auf seine Brust.

»Ich spüre Ihr Herz schlagen«, sagte sie leise. »Es schlägt sehr schnell. Wieso, Paul?« Sie hielt seinen Blick fest und drückte ihn zurück in den Sessel. »Ich dulde keine Fehler. Und ich kann es nicht leiden, wenn man mich nicht auf dem Laufenden hält.« Ihre Blicke fanden sich. »Haben wir uns verstanden?«

Authié antwortete nicht. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er ein Wort erwiderte.

»Ich verlange lediglich von Ihnen, dass Sie mir die versprochenen Gegenstände liefern. Dafür bezahle ich Sie. Also, finden Sie die Engländerin, kümmern Sie sich nötigenfalls um Noubel, alles andere ist Ihre Sache. Davon will ich nichts hören.«

»Falls ich irgendwie den Eindruck vermittelt habe, dass ...«

Sie legte ihm die Finger auf die Lippen und spürte, wie er bei dem Körperkontakt zusammenzuckte.

»Ich will nichts davon hören.«

Sie nahm die Hand weg und trat von ihm zurück und ging hinaus auf den Balkon. Der Abend hatte alle Farben verschwinden lassen, und die Gebäude und Brücken hoben sich wie Scherenschnitte vor dem dunkler werdenden Himmel ab.

Gleich darauf kam Authié und stellte sich neben sie.

»Ich bezweifle nicht, dass Sie tun, was Sie können, Paul«, sagte sie leise. Er legte seine Hand dicht neben ihre auf das Geländer, und ihre Finger berührten sich ganz kurz. »Selbstverständlich gibt es in Carcassonne noch andere Mitglieder der Noublesso Véritable, die ebenso gute Dienste leisten könnten. Doch eingedenk Ihres bisherigen Engagements ...«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Das Erstarren seiner Schultern und Arme verriet ihr, dass der Warnschuss gesessen hatte. Sie hob die Hand, um ihrem Fahrer zu winken, der unten wartete.

»Ich würde dem Pic de Soularac gern selbst einen Besuch abstatten.«

»Sie übernachten in Carcassonne?«, fragte er rasch.

Sie unterdrückte ein Lächeln. »Ein paar Tage, ja.«

»Ich dachte, Sie wollten die Kammer erst in der Nacht der eigentlichen Zeremonie betreten ... «

»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte sie und wandte sich ihm zu. »Jetzt bin ich hier.« Sie lächelte. »Ich habe einiges zu erledigen. Also holen Sie mich bitte um ein Uhr ab, dann bleibt mir noch Zeit, Ihren Bericht zu lesen. Ich wohne im Hôtel de la Cité.«

Marie-Cécile ging wieder hinein, nahm den Umschlag vom Tisch und steckte ihn in ihre Handtasche.

»Bien. A demain, Paul. Schlafen Sie gut.«

Sie spürte seinen Blick im Rücken, als sie die Treppe hinunterging, und konnte seine Selbstbeherrschung nur bewundern. Aber als sie in den Wagen stieg, bekam sie ihre Genugtuung: Oben in Authiés Wohnung krachte laut ein Glas gegen die Wand und zersplitterte.

 

Dicker Zigarrenrauch waberte durch die Hotellobby. Dinnergäste in Sommeranzügen oder Abendkleidern hatten es sich nach dem Essen in den tiefen Ledersesseln und im diskreten Schatten der hochlehnigen Mahagonibänke bequem gemacht. Marie-Cécile ging langsam die geschwungene Treppe hinauf. Schwarzweißfotos blickten auf sie herab, Erinnerungen an die ruhmreiche Vergangenheit des Hotels zur Jahrhundertwende. In ihrem Zimmer angekommen, kleidete sie sich aus und zog ihren Bademantel an. Wie an jedem Abend warf sie als Letztes einen prüfenden Blick in den Spiegel, leidenschaftslos, als würde sie ein Kunstwerk begutachten. Durchscheinende Haut, hohe Wangenknochen, das typische Profil der de l'Oradores. Marie-Cécile strich sich mit den Fingern über Gesicht und Hals. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Schönheit mit den Jahren verblasste. Wenn alles gut lief, dann würde ihr das gelingen, wovon ihr Großvater geträumt hatte. Sie würde dem Alter ein Schnippchen schlagen. Dem Tod ein Schnippchen schlagen.

Sie runzelte die Stirn. Aber dazu mussten das Buch und der Ring gefunden werden. Mit frischer Entschlossenheit zündete Marie- Cécile sich eine Zigarette an, ging zum Fenster und blickte hinaus über den Garten. Das Gemurmel abendlicher Gespräche trieb von der Terrasse zu ihr hoch. Jenseits der Zinnen auf den Mauern der Cité, jenseits des Flusses, glitzerten die Lichter der Basse Ville wie billige weiße und orangefarbene Weihnachtslichter.

Sie griff zum Telefon und wählte.

»François-Baptiste? C'est moi. Hat in den letzten vierundzwanzig Stunden jemand auf meiner Privatnummer angerufen?« Sie lauschte. »Nein? Hat sie sich bei dir gemeldet?« Sie wartete. »Ich habe gerade von einem Problem hier unten erfahren.« Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Arm, während sie sprach. »Hat sich in der anderen Sache was getan?«

Die Antwort fiel nicht nach ihren Wünschen aus. »Landesweit oder bloß lokal?« Eine Pause. »Halt mich auf dem Laufenden. Ruf an, wenn sich was ergibt, ansonsten bin ich Donnerstagabend zurück.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, dachte Marie-Cécile über den anderen Mann in ihrem Haus nach. Will war ganz nett, stets bemüht, ihr zu gefallen, aber die Beziehung hatte sich ausgelebt. Er war zu fordernd, und seine pubertären Eifersüchteleien gingen ihr langsam auf die Nerven. Ständig stellte er Fragen. Sie konnte im Augenblick keine Komplikationen gebrauchen.

Außerdem brauchten sie das Haus jetzt für sich allein.

Sie knipste die Leselampe an und nahm sich den Bericht über die Skelette vor, den Authié ihr gegeben hatte. Außerdem holte sie aus ihrem Koffer ein Dossier über Authié selbst, das zusammengestellt worden war, als er vor zwei Jahren zur Wahl in die Nou- blesso Véritable anstand.

Sie überflog das Dokument, das sie schon gründlich kannte. Er war zweimal wegen sexueller Übergriffe beschuldigt worden, als er Student war. Die beiden Frauen waren mit Geld abgefunden worden, so vermutete sie, da keine von ihnen Anzeige erstattet hatte. Außerdem soll er eine algerische Frau auf einer proislamischen Veranstaltung attackiert haben, doch auch in diesem Fall war keine Anzeige erstattet worden. Es gab Hinweise auf seine Beteiligung an einer antisemitischen Veröffentlichung an der Universität, und seine Exfrau hatte ihn beschuldigt, sie während der Ehe sexuell missbraucht und misshandelt zu haben, doch auch hier waren keine rechtlichen Schritte eingeleitet worden.

Wichtiger waren dagegen seine regelmäßigen und immer großzügigeren Spenden an die Gesellschaft Jesu, die Jesuiten. In den letzten zwei Jahren hatte er sich zudem immer stärker für fundamentalistische Gruppierungen eingesetzt, die sich gegen das Zweite Vatikanische Konzil und die Modernisierung der katholischen Kirche zur Wehr setzten.

Für Marie-Céciles Geschmack passte ein so extremes religiöses Engagement schlecht zu einer Mitgliedschaft bei der Noublesso. Authié hatte geschworen, der Organisation zu dienen, und bislang war er sehr nützlich gewesen. Er hatte die Ausgrabung am Pic de Soularac reibungslos organisiert, und nun schien alles so weit klar, um die Sache ebenso schnell zu Ende zu bringen. Die Warnung, dass in Chartres jemand gegen die Regeln verstoßen hatte, war über einen seiner Kontakte gekommen. Seine Informationen waren stets klar und verlässlich.

Dennoch, Marie-Cécile traute ihm nicht. Er war zu ehrgeizig. Im Widerspruch zu seinen Erfolgen standen seine Fehler in den letzten vierundzwanzig Stunden. Sie glaubte nicht, dass er so dumm war, den Ring oder das Buch selbst an sich genommen zu haben, aber Authié war eigentlich kein Mann, der es zuließ, dass Sachen direkt vor seiner Nase verschwanden.

Sie zögerte, dann griff sie erneut zum Telefon.

»Es gibt Arbeit. Ich interessiere mich für ein Buch, etwa zwanzig Zentimeter hoch, zehn Zentimeter breit, Leder auf Holz, mit Lederbändern zusammengehalten. Außerdem für einen Männerring aus Stein, flach, eine dünne Linie um die Mitte und eine

Gravur auf der Unterseite. Möglicherweise ist auch ein kleiner runder Stein dabei, etwa so groß wie ein Ein-Euro-Stück.« Sie schwieg kurz. »Carcassonne. Eine Wohnung am Quai de Paicherou und ein Büro auf der Rue de Verdun. Beides gehört Paul Authié

 


Das Verlorene Labyrinth
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