Kapitel 52
Foix

 

Audric Baillard saß zusammen mit Jeanne auf einer Bank am Bahnsteig in Foix und wartete auf den Zug nach Andorra.

»In zehn Minuten«, sagte Jeanne mit Blick auf die Uhr. »Es ist noch nicht zu spät. Du könntest es dir anders überlegen und mitkommen.«

Er lächelte ob ihrer Hartnäckigkeit. »Du weißt, dass ich das nicht kann.«

Sie winkte ungehalten ab. »Du hast ihrer Geschichte dreißig Jahre deines Lebens gewidmet, Audric. Alaïs, ihre Schwester, ihr Vater, ihr Mann - du hast dein Leben in ihrer Gesellschaft verbracht.« Ihre Stimme wurde weicher. »Aber was ist mit den Lebenden?«

»Ihr Leben ist mein Leben, Jeanne«, sagte er mit stiller Würde. »Worte sind unsere einzige Waffe gegen die Lügen der Geschichte. Wir müssen die Wahrheit bezeugen. Wenn wir das nicht tun, sterben unsere Lieben ein zweites Mal.« Er hielt inne. »Ich werde keinen Frieden finden, solange ich nicht weiß, wie das Ende war.«

»Nach achthundert Jahren? Vielleicht ist die Wahrheit zu tief verborgen.« Jeanne zögerte. »Und vielleicht ist es ja auch besser so. Manche Geheimnisse bleiben besser im Verborgenen.« Baillard blickte geradeaus in die Berge. »Es tut mir Leid, dass ich Kummer in dein Leben gebracht habe, das weißt du.«

»Das habe ich nicht gemeint, Audric.«

»Aber die Wahrheit herauszufinden und niederzuschreiben«, sprach er weiter, als hätte sie nichts gesagt, »nur dafür lebe ich, Jeanne.«

»Wahrheit! Und was ist mit denjenigen, die du bekämpfst, Audric? Was suchen diese Menschen? Die Wahrheit? Das bezweifle ich.«

»Nein«, gab er schließlich zu. »Ich glaube nicht, dass es ihnen darum geht.«

»Worum dann?«, fragte sie ungeduldig. »Ich reise ab, wie du es mir geraten hast. Es besteht also kein Grund mehr, es mir nicht zu sagen.«

Noch immer zögerte er.

Jeanne ließ nicht locker. »Sind die Noublesso Véritable und die Noublesso de los Seres bloß zwei unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Organisation?«

»Nein!« Das Wort drang schärfer aus seinem Mund, als er beabsichtigt hatte. »Nein.«

»Was denn dann?«

Audric seufzte. »Die Noublesso de los Seres war die Gemeinschaft der rechtmäßigen Hüter der Gralspergamente. Diese Rolle haben sie über Tausende von Jahren hinweg ausgefüllt. Bis die Pergamente schließlich getrennt wurden.« Er schwieg kurz, suchte nach den richtigen Worten. »Die Noublesso Véritable entstand dagegen erst vor einhundertfünfzig Jahren, als die Schrift der Pergamente erstmals wieder verstanden wurde. Der Name Véritable - was so viel heißen soll wie wahre oder echte Hüter - war ein bewusster Versuch, der Organisation den Anschein von Legitimation zu geben.«

»Dann gibt es die Noublesso de los Seres also nicht mehr?« Audric schüttelte den Kopf. »Nachdem die Trilogie getrennt worden war, bestand kein Grund mehr für die Existenz der Hüter.« Jeanne runzelte die Stirn. »Aber haben sie denn versucht, die verlorenen Pergamente zurückzubekommen?«

»Zunächst ja«, bestätigte er, »aber es ist ihnen nicht gelungen. Und im Laufe der Zeit wurde es immer unvernünftiger, weiter zu suchen, weil man fürchtete, das eine noch verbliebene Pergament bei der Suche nach den anderen zu gefährden. Da niemand mehr die Texte lesen konnte, ließ sich das Geheimnis nicht lösen. Nur einer ...« Baillard stockte. Er spürte Jeannes Blick auf sich. »Der einzige Mensch, der jn der Lage war, die Pergamente zu lesen, entschied sich dafür, sein Wissen nicht weiterzugeben.«

»Und was änderte sich dann?«

»Lange Zeit gar nichts. Doch dann segelte Napoleon 1798 nach Ägypten und nahm nicht nur Soldaten mit, sondern auch Wissenschaftler und Gelehrte. Sie entdeckten die Überreste der alten Kulturen, die vor Tausenden von Jahren in diesem Land geherrscht hatten. Zahllose Altertümer, Altartische, Steine, wurden nach Frankreich gebracht. Von dem Augenblick an war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die alten Sprachen - die demotische Schrift, die Keilschrift, die Hieroglyphen - enträtselt wurden. Wie du weißt, war es Jean-Francois Champollion, der als Erster erkannte, dass die Hieroglyphen nicht bloß als Symbole oder Schriftzeichen zu verstehen waren, sondern als phonetische Umschrift. 1822 schaffte er es, salopp ausgedrückt, den Code zu knacken. Für die alten Ägypter kam die Gabe der Schrift direkt von den Göttern - ja, das Wort Hieroglyphen selbst bedeutet >göttliche Sprachen«

»Aber wenn die Gralspergamente in der Sprache der alten Ägypter verfasst sind ...« Sie beendete den Satz nicht. »Also, Audric, wenn ich dich richtig verstehe ...« Sie schüttelte den Kopf. »Dass es so einen Geheimbund wie die Noublesso gegeben hat, ja. Auch dass man glaubte, die Trilogie berge ein uraltes Geheimnis, wieder ja. Aber der Rest? Das ist doch unvorstellbar!« Audric lächelte. »Aber wie könnte man ein Geheimnis besser schützen, als es hinter einem anderen Rätsel zu verbergen? Sich mächtige Symbole oder die Ideen anderer anzueignen und sie aufzunehmen ist die Überlebensstrategie von Zivilisationen.« »Wie meinst du das?«

»Menschen suchen nach der Wahrheit. Und wenn sie glauben, sie gefunden zu haben, hören sie auf, weil sie gar nicht auf den Gedanken kommen, dass darunter etwas noch Erstaunlicheres liegt. Die Geschichte ist voll von religiösen, rituellen, sozialen Zeichen, die einer Gesellschaft gestohlen wurden, um beim Aufbau einer anderen zu helfen. Zum Beispiel der Tag, an dem die Christen die Geburt des Jesus von Nazareth feiern, der fünfundzwanzigste Dezember, ist in Wahrheit das Fest des Sol Invictus sowie das der Wintersonnenwende. Das christliche Kreuz ist in Wahrheit ein altes ägyptisches Symbol, das Anch, das von Kaiser Konstantin übernommen und modifiziert wurde. In hoc signo vinces - in diesem Zeichen wirst du siegen -, Worte, die er angeblich vernahm, als er ein Kreuzsymbol am Himmel erblickte. Und vor nicht allzu langer Zeit haben die Nationalsozialisten das Hakenkreuz als Symbol für ihre Bewegung missbraucht. Dabei ist es ursprünglich das hinduistische Symbol der Wiedergeburt.«

»Das Labyrinth«, sagte sie, als hätte sie plötzlich verstanden. »L'antica simbol del Miegjorn.« Das alte Symbol des Midi. Jeanne schwieg nachdenklich, die Hände im Schoß gefaltet, die Füße verschränkt. »Und was geschieht jetzt?«, fragte sie schließlich.

»Nach der Entdeckung der Höhle ist es nur noch eine Frage der Zeit, Jeanne«, sagte er. »Ich bin nicht der Einzige, der das weiß.« »Aber während des Krieges haben schon die Nazis in den Sabarthes-Bergen Ausgrabungen gemacht«, sagte sie. »Ihre Gralssucher wussten von den Gerüchten, dass der Katharerschatz irgendwo in den Bergen vergraben sein sollte. Jahrelang haben sie jede Stätte von möglichem esoterischem Interesse untersucht. Wenn die Höhle so bedeutsam ist, wieso wurde sie dann nicht schon vor sechzig Jahren entdeckt?«

»Weil wir dafür gesorgt haben.«

»Du warst da?«, fragte sie mit vor Verblüffung scharfer Stimme. Baillard lächelte. »Es gibt Konflikte innerhalb der Noublesso Véritable«, erklärte er, ohne ihre Frage zu beantworten. »Der Kopf der Organisation ist eine Frau namens Marie-Cécile de l'Oradore. Sie glaubt an den Gral und möchte ihn besitzen. Sie glaubt an die Gralssuche.« Er zögerte kurz. »Es gibt jedoch noch jemanden in der Organisation, dessen Motive anders gelagert sind.« Sein Gesicht wurde ernst.

»Du musst mit Inspektor Noubel sprechen«, sagte Jeanne beschwörend.

»Aber was ist, wenn er auch für sie arbeitet, was durchaus sein könnte? Das Risiko ist zu groß.«

Ein schriller Signalton gellte durch den ruhigen Bahnhof. Beide sahen sie zu dem Zug hinüber, der mit quietschenden Bremsen einfuhr. Das Gespräch war beendet.

»Es gefällt mir nicht, dich jetzt hier allein zu lassen, Audric.« »Ich weiß«, sagte er und nahm ihre Hand, um ihr beim Einsteigen zu helfen. »Aber so soll es nun einmal enden.«

»Enden?«

Sie öffnete das Zugfenster und streckte den Arm aus, um seine Hand zu nehmen. »Bitte pass auf dich auf. Setz nicht zu viel aufs Spiel.«

Auf dem gesamten Bahnsteig wurden schwere Türen zugeworfen, und der Zug fuhr ab, zuerst langsam, dann immer schneller, bis er schließlich in den Falten der Berge verschwand.


Das Verlorene Labyrinth
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