Kapitel 18
Mit einem letzten, unschlüssigen Blick über die Schulter ritt Bertrand Pelletier an der Seite von Vicomte Trencavel aus dem Osttor hinaus. Er begriff nicht, wieso Alaïs nicht gekommen war, um sie zu verabschieden.
Pelletier ritt schweigend und in Gedanken verloren dahin, bekam wenig mit von dem belanglosen Geplauder um sich herum. Er machte sich Sorgen, weil sie nicht im Cour d'Honneur gewesen war, um ihnen gute Wünsche mit auf den Weg zu geben. Überrascht und auch enttäuscht, wie er sich eingestehen musste. Jetzt wünschte er, er hätte François losgeschickt, sie zu wecken. Trotz der frühen Stunde waren die Straßen von winkenden und jubelnden Menschen gesäumt. Man hatte nur die besten Pferde genommen. Zelter, auf deren Zähigkeit und Kraft stets Verlass war, und auch Wallache und Stuten aus den Ställen des Château Comtal, weil sie schnell und ausdauernd waren. Raymond-Roger Trencavel ritt seinen Lieblingshengst, einen Braunen, den er schon als Fohlen bekommen und selbst zugeritten hatte. Sein Fell hatte die Farbe eines Fuchses im Winter, und auf der Nase hatte er eine unverkennbare Blesse, die, so hieß es zumindest, haargenau die Form der Trencavel-Ländereien hatte.
Auf den Schilden prangte das Trencavel-Zeichen. Die Fahnen und die Gewänder, die die chevaliers über ihrer Reiserüstung trugen, waren mit dem Wappen bestickt. Die aufgehende Sonne blitzte auf glänzenden Helmen, Schwertern und Zaumzeug. Sogar die Satteltaschen der Packpferde waren so lange gewienert worden, bis die Reitknechte sich im Leder spiegelten.
Die Entscheidung, wie groß der envoi sein sollte, hatte einige Zeit in Anspruch genommen. War er zu klein, würde Trencavel wie ein unwürdiger und wenig beeindruckender Verbündeter aussehen, und sie wären unterwegs leichte Beute. War er zu groß, würde das wie eine Kriegserklärung wirken.
Schließlich waren sechzehn chevaliers ausgewählt worden, darunter auch, trotz Pelletiers Bedenken, Guilhem du Mas. Zusammen mit ihren écuyers, einer Hand voll Dienern und Kirchenmännern, Jehan Congost und einem Schmied, der die Hufbeschläge der Pferde unterwegs ausbessern konnte, waren sie alles in allem rund dreißig Mann.
Ihr Ziel war Montpellier, die wichtigste Stadt im Herrschaftsgebiet des Vicomte von Nîmes und der Geburtsort von Raymond- Rogers Gemahlin, Dame Agnès. Wie Trencavel so war auch Nîmes ein Vasall des Königs von Aragon, Pedro II., daher durften sie auf eine unbehelligte Reise hoffen, obwohl Montpellier eine katholische Stadt war und Pedro selbst ein standhafter und resoluter Gegner der Häresie.
Sie hatten einen Dreitagesritt von Carcassonne aus veranschlagt. Ungewiss war, wer von beiden zuerst in der Stadt ein- treffen würde, Trencavel oder der Comte von Toulouse.
Zunächst ritten sie in östlicher Richtung an der Aude entlang der aufgehenden Sonne entgegen. Bei Trèbes schwenkten sie nach Nordwesten in das Gebiet des Minervois und folgten der alten Römerstraße, die durch La Redorte, die befestigte Hügelstadt Azille und weiter nach Olonzac führte.
Der beste Boden war den canabières überlassen, den Hanffeldern, die sich vor ihnen erstreckten, so weit das Auge reichte. Rechter Hand waren Rebstöcke, manche gepflegt, andere wuchsen wild am Wegesrand hinter kräftigen Hecken. Linker Hand lag ein Meer aus smaragdgrünen Gerstenhalmen, die sich bis zur Erntezeit golden färben würden. Schon jetzt schufteten die Bauern unter breitkrempigen Strohhüten, die ihre Gesichter beschatteten, und schnitten den letzten Weizen. Hin und wieder warfen die eisernen Sicheln ihrer Sensen das Sonnenlicht zurück.
Jenseits des Flussufers, das von Eichen und Sumpfweiden gesäumt wurde, lagen die tiefen und stillen Wälder, wo wilde Adler jagten. Dort tummelten sich Hirsche, Luchse und Bären in Hülle und Fülle und im Winter auch Wölfe und Füchse. Über die Wälder und Gehölze des Tieflandes erhob sich der dunkle Forst der Montagne Noire, in dem der wilde Eber König war.
Vicomte Trencavel besaß die Unverwüstlichkeit und den Optimismus der Jugend. Er war gut aufgelegt, gab Anekdoten zum Besten und lauschte den Erzählungen vergangener Ruhmestaten. Er erörterte mit seinen Männern die Frage, welches die besseren Jagdhunde seien, Windhunde oder Mastiffs, sprach über den derzeitigen Preis einer guten Hündin für die Zucht und tratschte sogar, wer beim Bogenschießen oder Würfeln welche Einsätze gemacht hatte.
Niemand sprach über den Zweck ihrer Mission oder darüber, was passieren würde, falls der Vicomte bei seinem Onkel kein Gehör fand.
Ein heiserer Schrei von hinten ließ Pelletier aufmerken. Er warf einen Blick über die Schulter. Guilhem du Mas ritt Seite an Seite mit Alzeu de Preixan und Thierry Cazanon, chevaliers, die ebenfalls in Carcassonne ausgebildet und während desselben Osterfestes zum Ritter geschlagen worden waren.
Guilhem bemerkte den kritischen Blick des älteren Mannes und hob den Kopf, um ihm dreist in die Augen zu sehen. Beide starrten einander kurz an. Dann neigte der Jüngere leicht den Kopf, eine unaufrichtige Anerkennung, und sah weg. Pelletier spürte, wie sein Blut anfing zu kochen, doch am schlimmsten war die Einsicht, dass ihm die Hände gebunden waren.
Stunde um Stunde ritten sie durch das flache Land. Die Gespräche gerieten ins Stocken und verstummten dann ganz, als die Begeisterung, die ihren Aufbruch aus der Cite begleitet hatte, allmählich von Befürchtungen verdrängt wurde.
Die Sonne stieg unaufhaltsam höher. Den Kirchenmännern in ihren schwarzen Kammgarnkutten machte die Hitze am meisten zu schaffen. Dem Bischof rann der Schweiß von der Stirn. Jehan Congosts schwammiges Gesicht hatte einen unansehnlichen, fleckigen Rotton angenommen, die Farbe von Fingerhutblüten. Bienen, Heuschrecken und Zikaden summten und zirpten im braunen Gras. Mücken attackierten Knöchel und Hände der Reiter, und Fliegen peinigten die Pferde, die gereizt mit Mähne und Schwanz zuckten.
Erst als die Sonne hoch über ihnen stand, führte Vicomte Trencavel sie von der Straße weg, um eine Weile zu rasten. Sie ließen sich auf einer Lichtung neben einem gemächlich dahinplätschernden Bach nieder, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Pferde ungefährdet grasen konnten. Die ecuyers sattelten die Tiere ab und kühlten ihnen das Fell mit in Wasser getauchten Weidenblättern. Kratzer und Bisse wurden mit Ampferblättern oder Senfbreiumschlägen behandelt.
Die chevaliers entledigten sich ihrer Reiserüstung und Stiefel, wuschen sich Staub und Schweiß von Händen und Hals. Eine kleine Gruppe Diener wurde zum nächstgelegenen Bauernhof geschickt und kehrte einige Zeit später mit Brot und Wurst, weißem Ziegenkäse, Oliven und dem kräftigen Wein der Gegend zurück.
Als sich die Neuigkeit herumsprach, dass Vicomte Trencavel ganz in der Nähe Rast machte, strömten Bauern und Landarbeiter, alte Männer und junge Frauen, Weber und Brauer zu dem bescheidenen Lager unter den Bäumen und brachten ihrem seigneur Geschenke: Körbe mit Kirschen und frisch gefallenen Pflaumen, eine Gans, Salz und Fisch.
Pelletier war nicht ganz wohl dabei. Es hielt sie nur auf, und sie verloren kostbare Zeit. Sie mussten noch ein gutes Stück Weg hinter sich bringen, bevor die Abendschatten länger wurden und sie das Nachtlager aufschlugen. Aber wie schon sein Vater und seine Mutter vor ihm genoss Raymond-Roger die Begegnungen mit seinen Untertanen und wollte niemanden abweisen. »Schließlich schlucken wir genau dafür unseren Stolz herunter und versuchen mit meinem Onkel Frieden zu schließen«, sagte er leise. »Um all das zu bewahren, das an unserer Lebensart gut und unschuldig und wahrhaftig ist, e? Und notfalls werden wir dafür kämpfen.«
Wie ein Kriegerkönig aus alter Zeit hielt Vicomte Trencavel im Schatten der Steineichen Hof. Er nahm alle Gaben, die ihm gebracht wurden, bereitwillig und würdevoll entgegen. Er wusste, dass die Leute noch oft von diesem Tag erzählen würden, dass die Geschichte Teil des Dorflebens werden würde.
Fast ganz zum Schluss kam ein hübsches, dunkelhäutiges Mädchen von fünf oder sechs Jahren mit leuchtenden Augen, die die Farbe von Brombeeren hatten, auf ihn zu, machte einen kurzen Knicks und reichte ihm einen Blumenstrauß aus wilden Orchideen, weißer Schafgarbe und Geißblatt. Die Hände der Kleinen zitterten.
Vicomte Trencavel beugte sich zu ihr herab, zog ein Leinentaschentuch aus seinem Gürtel und hielt es ihr hin. Selbst Pelletier lächelte, als die Fingerchen schüchtern Zugriffen und das frische weiße Stoffstück nahmen.
»Und wie heißt Ihr, Madomaisela?«, fragte er.
»Ernistine, Messire«, wisperte sie. Trencavel nickte. »Nun, Madomaisela Ernistine«, sagte er, zupfte eine rosa Blüte aus dem Blumenstrauß und befestigte sie an seiner Tunika. »Das hier werde ich tragen, damit es mir Glück bringt. Und mich an die Freundlichkeit der Menschen von Puicheric erinnert.«
Erst als auch der letzte Besucher gegangen war, legte Raymond- Roger Trencavel sein Schwert ab und setzte sich zum Essen. Sobald sie ihren Hunger gestillt hatten, streckten sich nacheinander alle Männer und Jungen auf dem weichen Gras aus oder lehnten sich gegen den Stamm eines Baumes und dösten vor sich hin, den Bauch voller Wein und den Kopf schläfrig von der Nachmittagshitze.
Nur Pelletier suchte keine Ruhe. Als er sicher war, dass Vicomte Trencavel ihn vorläufig nicht brauchen würde, machte er einen Spaziergang am Bach, suchte die Einsamkeit.
Wasserläufer flitzten über das Wasser, und bunte Libellen surrten schimmernd über die Oberfläche, schossen hin und her, durchschnitten die drückende Luft.
Sobald er außer Sichtweite des Lagers war, setzte sich Pelletier auf den geschwärzten Stamm eines umgestürzten Baumes und holte Harifs Brief aus der Tasche. Er las ihn nicht. Er öffnete ihn nicht einmal, sondern hielt ihn einfach fest zwischen Daumen und Zeigefinger, wie einen Talisman.
Er musste unentwegt an Alaïs denken. Seine Gedanken schwankten hin und her, wie eine Waage. Einen Moment lang bedauerte er, sie überhaupt ins Vertrauen gezogen zu haben. Aber wenn nicht Alaïs, wen dann? Es gab sonst niemanden, dem er trauen konnte. Gleich darauf fürchtete er, ihr zu wenig erzählt zu haben. So Gott wollte, würde alles gut werden. Falls ihr Bittgesuch beim Comte von Toulouse wohlwollend aufgenommen wurde, würden sie, noch ehe der Monat vorüber war, im Triumph nach Carcassonne zurückkehren, ohne dass ein Tropfen Blut vergossen worden war. Was Pelletier selbst anging, so würde er Simeon in Beziers aufsuchen und herausfinden, wer diese »Schwester« war, die Harif in seinem Brief erwähnte.
Falls das Schicksal es so wollte.
Pelletier seufzte. Er betrachtete das friedliche Bild, das sich ihm bot, und sah in seiner Phantasie das Gegenteil. Statt der alten Welt, unverändert und unveränderlich, sah er Chaos und Verwüstung und Zerstörung. Das Ende aller Dinge.
Er neigte den Kopf. Er hätte nicht anders handeln können. Falls er nicht nach Carcassonne zurückkehrte, würde er wenigstens in dem Bewusstsein sterben, dass er sein Bestes getan hatte, um die
Trilogie zu schützen. Alaïs würde ihre Verpflichtungen erfüllen. Sein Schwur würde ihr Schwur werden. Das Geheimnis würde nicht in der Hölle der Schlacht verloren gehen oder in einem französischen Kerker verrotten.
Die Geräusche aus dem Lager, das wieder zum Leben erwachte, holten Pelletier zurück in die Gegenwart. Es war Zeit zum Aufbruch. Bis zum Sonnenuntergang hatten sie noch viele Stunden im Sattel vor sich.
Pelletier schob Harifs Brief wieder in seinen Beutel und ging rasch zurück ins Lager, wohl wissend, dass solche Augenblicke der Ruhe und Stille in den Tagen, die vor ihm lagen, rar gesät sein würden.