Kapitel 28

 

Wollt Ihr mir von Eurer Freundschaft erzählen?«, sagte Alaïs, sobald sie auf der Liege neben ihrem Vater saß. Sie sah Simeon an. »Ich habe ihn schon einmal gefragt, doch er war nicht gewillt, sich mir anzuvertrauen.«

Simeon war älter, als sie gedacht hatte. Seine Schultern waren gebeugt und sein Gesicht von zahllosen Falten durchzogen, die Spuren eines Lebens, das ebenso viel Leid und Trauer erlitten wie Glück und Lachen erlebt haben musste. Er hatte buschige Brauen, und die blitzenden Augen zeugten von wacher Intelligenz. Das lockige Haar war beinahe grau, doch der lange, parfümierte und geölte Bart noch immer so schwarz wie ein Rabenflügel. Jetzt verstand sie, wieso ihr Vater befürchtet hatte, der Mann im Fluss könnte sein Freund sein.

Unauffällig schaute Alaïs nach unten auf seine Hände und empfand ein zufriedenes Gefühl der Bestätigung. Sie hatte richtig vermutet. An Simeons linkem Daumen steckte ein Ring wie der, den ihr Vater trug.

»Los, Bertrand«, sagte Simeon jetzt. »Sie hat sich die Geschichte verdient. Schließlich hat sie einen weiten Ritt auf sich genommen, um sie zu hören!«

Alaïs spürte, wie ihr Vater neben ihr erstarrte. Sie schielte zu ihm hinüber. Sein Mund war eine dünne, gerade Linie.

Jetzt begreift er erst, was ich getan habe, und ist wütend.

»Du bist doch wohl nicht ohne Eskorte von Carcassona bis hierher geritten?«, fragte er. »So töricht kannst du doch nicht sein? So ein Risiko würdest du nicht eingehen?« »Ich ...«

»Antworte mir.«

»Ich hielt es für das Klügste ...«

»Das Klügste«, brauste er auf. »Das darf doch nicht ...«

Simeon lachte. »Noch immer der alte Hitzkopf, Bertrand.«

Alaïs unterdrückte ein Lächeln und legte eine Hand auf den Arm ihres Vaters.

»Paire«, sagte sie sanft. »Ihr seht, ich bin in Sicherheit. Mir ist nichts geschehen.«

Er blickte nach unten auf ihre zerkratzten Hände. Rasch zog Alaïs ihren Mantel darüber. »So gut wie nichts. Bloß ein harmloser Kratzer.«

»Warst du bewaffnet?«

Sie nickte. »Natürlich.«

»Und wo ist dann ...«

»Ich hielt es für unklug, in dem Aufzug durch die Straßen von Besiers zu laufen.«

Alaïs blickte ihn mit Unschuldsmiene an.

»Soso«, knurrte er halblaut. »Und dir ist auch wirklich nichts Schlimmes widerfahren? Du bist unverletzt?«

Alaïs spürte ihre geprellte Schulter, aber sie blickte ihn ruhig an. »Ja«, log sie.

Er blickte finster drein, schien aber ein wenig besänftigt. »Woher wusstest du, dass wir hier sind?«

»Das habe ich von Amiel de Coursan erfahren, dem Sohn des Seigneur, der so großherzig war, mir Geleit zu geben.«

Simeon nickte. »Er wird hier in der Gegend hoch geachtet.« »Du hast großes Glück gehabt«, sagte Pelletier, der noch immer nicht gewillt war, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Großes Glück, obwohl du sehr, sehr töricht warst. Du hättest getötet werden können. Ich kann immer noch nicht fassen, dass du ...«

»Du wolltest ihr erzählen, wie wir uns kennen gelernt haben, Bertrand«, sagt Simeon leichthin. »Die Glocken läuten nicht mehr, also muss der Rat sich versammelt haben. Uns bleibt nicht viel Zeit.«

Einen Augenblick lang grollte ihr Vater weiter. Dann sanken seine Schultern herab, und Resignation breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Also gut, also gut. Da ihr beide es wollt.«

Alaïs wechselte mit Simeon einen Blick. »Er trägt den gleichen Ring wie Ihr, Paire.«

Pelletier lächelte. »Simeon wurde im Heiligen Land von Harif rekrutiert, genau wie ich, nur einige Zeit früher, sodass unsere Wege sich nicht kreuzten. Als die Bedrohung durch Saladin und seine Heerscharen größer wurde, schickte Harif Simeon zurück in seine Heimatstadt Chartres. Ich folgte wenige Monate später nach und nahm die drei Pergamente mit. Die Reise dauerte über ein Jahr, doch als ich endlich in Chartres ankam, wartete Simeon auf mich, genau wie Harif es versprochen hatte.« Er lächelte bei der Erinnerung daran. »Ach, wie habe ich nach dem hellen Licht von Jerusalem die Kälte und Nässe gehasst. Alles war so düster, so trostlos. Aber Simeon und ich verstanden uns auf Anhieb. Seine Aufgabe war es, die drei Pergamente in drei einzelne Bücher zu binden. Und während er daran arbeitete, lernte ich seine Bildung, seine Weisheit und seinen Humor über die Maßen schätzen.«

»Bertrand, du übertreibst«, murmelte Simeon, doch Alaïs sah ihm an, dass ihm die Komplimente sehr gefielen.

»Was hingegen Simeon an einem unkultivierten, ungebildeten Soldaten fand«, fuhr Pelletier fort, »musst du ihn schon selbst fragen. Dazu kann ich nichts sagen.«

»Du warst lern willig, mein Freund, und hattest ein offenes Ohr«, sagt Simeon leise. »Das hat dich von den meisten Menschen deines Glaubens unterschieden.«

»Ich wusste die ganze Zeit, dass die Bücher getrennt werden sollten«, nahm Pelletier den Faden wieder auf. »Sobald Simeon mit seiner Arbeit fertig war, erhielt ich Nachricht von Harif, dass ich in meine Geburtsstadt zurückkehren sollte, wo ich als Intendant des neuen Vicomte Trencavel gebraucht wurde. Wenn ich jetzt nach so vielen Jahren zurückschaue, ist mir unbegreiflich, wieso ich nie gefragt habe, was mit den anderen beiden Büchern geschehen sollte. Ich nahm an, dass Simeon eines behalten sollte, aber das wusste ich nicht mit Sicherheit. Und das andere? Danach habe ich nie gefragt. Heute beschämt mich meine mangelnde Wissbegier. Aber ich nahm einfach nur das mir anvertraute Buch und reiste gen Süden.«

»Schäme dich nicht«, sagte Simeon sanft. »Du hast getan, worum du gebeten wurdest, in gutem Glauben und mit frohem Herzen.«

»Alaïs, bevor du mit deinem Erscheinen alle andere Gedanken aus meinem Kopf verdrängtest, sprachen wir über die Bücher.« Simeon räusperte sich. »Das Buch«, sagte er. »Ich habe nur eins.«

»Was?«, fragte Pelletier scharf. »Aber Harifs Brief ... Ich habe ihn so verstanden, dass beide noch in deinem Besitz sind. Oder dass du zumindest weißt, wo sie sich befinden.«

Simeon schüttelte den Kopf. »Früher, ja, doch das ist viele Jahre her. Das Buch der Zahlen ist hier. Was das andere betrifft, so habe ich eigentlich gehofft, dass du mir Neues darüber berichten könntest.«

»Wenn du es nicht hast, wer dann?«, fragte Pelletier eindringlich. »Ich hatte angenommen, dass du beide Bücher mitgenommen hast, als du Chartres verlassen hast.«

»Das trifft auch zu.«

»Aber ...«

Alaïs legte ihrem Vater eine Hand auf den Arm. »Lass Simeon erklären.«

Einen Moment lang schien es, als wollte Pelletier aus der Haut fahren, dann nickte er. »Also gut«, sagte er barsch. »Erzähl deine Geschichte.«

»Wie sehr sie dir ähnelt, mein Freund«, schmunzelte Simeon.

»Kurz nachdem du Chartres verlassen hattest, erhielt ich eine Nachricht vom Navigataire, dass ein Hüter kommen und das zweite Buch mitnehmen würde, das Buch der Arzneien, allerdings ohne einen Hinweis, wer diese Person sein würde. Ich hielt mich bereit, wartete unentwegt. Die Zeit verging, ich wurde älter, doch niemand kam. Dann, im Jahre eures Herrn 1194 - kurz bevor der entsetzliche Brand die Kathedrale und einen Großteil der Stadt Chartres zerstörte -, kam tatsächlich ein Mann, ein Christ, ein Ritter namens Philippe de Saint-Maure.«

»Sein Name ist mir bekannt. Er war zur selben Zeit im Heiligen Land wie ich, doch wir sind uns nie begegnet.« Pelletier runzelte die Stirn. »Warum hatte er so lange gewartet?«

»Das, mein Freund, habe ich mich auch gefragt. Saint-Maure überreichte mir einen merel, in der angemessenen Weise. Er trug den Ring, den du und ich beide die Ehre haben zu tragen. Ich hatte keinerlei Grund, an ihm zu zweifeln ... und doch ...« Simeon zuckte die Achseln. »Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seine Augen waren stechend, wie bei einem Fuchs. Ich vertraute ihm nicht. Er kam mir nicht vor wie die Sorte Mann, die Harif auserwählt hätte. Es war keine Ehre in ihm. Also beschloss ich, ihn auf die Probe zu stellen, trotz der Vertrauen erweckenden Zeichen, die er trug.«

Alaïs konnte sich nicht beherrschen und fragte: »Und wie?« »Alaïs«, ermahnte ihr Vater sie.

»Schon gut, Bertrand. Ich gab vor, nicht zu verstehen, was er wollte. Ich rang die Hände, demütig, unterwürfig, bat um Verzeihung und versicherte ihm, er müsse mich mit jemandem verwechseln. Er zog sein Schwert.«

»Was deinen Verdacht bestätigte, dass er nicht der war, der zu sein er vorgab.«

»Er drohte mir, beschimpfte mich, doch meine Diener kamen hinzu, und sie waren in der Überzahl, daher blieb ihm nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge zu gehen.« Simeon beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Sobald ich mich vergewissert hatte, dass er fort war, wickelte ich die beiden Bücher in ein Bündel alter Kleidung und suchte bei einer vertrauenswürdigen christlichen Familie in der Nähe Zuflucht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war mir einfach nicht sicher. War er ein Betrüger? Oder war er tatsächlich ein Hüter, dessen Herz jedoch durch Gier und die Aussicht auf Macht und Reichtum verhärtet worden war? Hatte er uns verraten? War Ersteres der Fall, dann bestand noch immer die Möglichkeit, dass der wahre Hüter nach Chartres kommen und mich dort vergeblich suchen würde. War jedoch Letzteres der Fall, musste ich der Sache so gut ich konnte auf den Grund gehen. Bis heute weiß ich nicht, ob meine Entscheidung klug war.«

»Ihr habt getan, was Ihr für richtig hieltet«, sagte Alaïs, ohne auf den warnenden Blick ihres Vaters zu achten, der ihr sagte, sie solle still sein. »Mehr kann ein Mensch nicht tun.«

»Richtig oder falsch, Tatsache ist, ich hielt mich zwei weitere Tage lang versteckt. Dann wurde der verstümmelte Leichnam eines Mannes gefunden, der in der Eure trieb. Man hatte ihm die Augen ausgestochen und die Zunge herausgerissen. Es verbreitete sich das Gerücht, dass er ein Ritter im Dienste des ältesten Sohnes von Charles d'Evreux war, dessen Gebiet nicht weit von Chartres liegt.«

»Philippe de Saint-Maure.«

Simeon nickte. »Man beschuldigte die Juden des Mordes. Sogleich begannen Vergeltungsmaßnahmen. Es war ein Leichtes, mich zum Sündenbock zu machen. Es wurde gemunkelt, dass man mich ergreifen wollte. Es gab angeblich Zeugen, die Saint- Maure vor meiner Tür gesehen haben wollten, Zeugen, die beschwören würden, dass wir Streit hatten und es zu Tätlichkeiten gekommen war. Das nahm mir meine Entscheidung ab. Vielleicht war dieser Saint-Maure tatsächlich der, der er behauptet hatte zu sein. Vielleicht war er ein ehrbarer Mann, vielleicht auch nicht. Es war nicht mehr wichtig. Er war tot - ermordet, wie ich glaubte, wegen dem, was er über die Labyrinth-Trilogie herausgefunden hatte. Die Art seines Todes machte mir klar, dass noch andere beteiligt waren. Dass das Geheimnis des Grals tatsächlich verraten worden war.«

»Wie seid Ihr entkommen?«, fragte Alaïs.

»Meine Diener waren bereits geflohen und in Sicherheit, wie ich hoffte. Ich rasierte mir den Bart ab und versteckte mich bis zum nächsten Morgen. Sobald die Tore der Stadt geöffnet wurden, schlich ich als ältere Frau verkleidet hinaus. Esther begleitete mich.«

»Dann warst du also nicht da, als das Steinlabyrinth in der neuen Kathedrale gebaut wurde?«, sagte Pelletier. Verwundert sah Alaïs, dass er lächelte, wie über einen Scherz, den nur Eingeweihte verstehen. »Du hast es nicht gesehen.«

»Wovon redet Ihr?«, wollte sie wissen.

Simeon lachte leise und antwortete Pelletier. »Nein, aber ich habe gehört, dass es seinen Zweck gut erfüllt. Der Ring aus totem Stein lockt viele Menschen an. Sie schauen, sie suchen und begreifen nicht, dass unter ihren Füßen nur ein falsches Geheimnis ruht.«

»Was ist das für ein Labyrinth?«, hakte Alaïs nach.

Sie achteten noch immer nicht auf sie.

»Du hättest bei mir in Carcassona Zuflucht finden können. Ein Dach über dem Kopf, Schutz. Warum bist du nicht zu mir gekommen?«

»Glaub mir, Bertrand, ich hätte nichts lieber getan. Aber du vergisst, wie sehr sich der Norden vom Pays d'Oc unterschied, wo größere Toleranz herrscht. Ich konnte nicht ungehindert reisen, mein Freund. Damals hatten die Juden ein schweres Leben. Wir durften nicht gehen, wohin wir wollten, unsere Geschäfte wurden regelmäßig überfallen und geplündert.« Er atmete tief durch. »Außerdem hätte ich es mir nie verziehen, wenn ich sie - wer immer sie auch sein mochten — zu dir geführt hätte. Als ich an jenem Morgen aus Chartres floh, hatte ich kein bestimmtes Ziel. Ich hielt es für ratsam, einfach unterzutauchen, bis sich die Aufregung gelegt hätte. Doch dann kam das große Feuer, und alles andere rückte für mich in den Hintergrund.«

»Wie seid Ihr schließlich nach Besiers gekommen?«, fragte Alaïs, fest entschlossen, wieder am Gespräch teilzuhaben. »Hat Harif Euch hierher geschickt?«

Simeon schüttelte den Kopf. »Das war Zufall und Glück, Alaïs, nicht geplant. Zunächst begab ich mich in die Champagne, wo ich den Winter verbrachte. Im Frühjahr dann, sobald der Schnee geschmolzen war, brach ich in Richtung Süden auf. Ich hatte das Glück, mich einer Gruppe englischer Juden anschließen zu können, die vor der Verfolgung in ihrem eigenen Land flohen. Sie wollten nach Besiers, was mir nur recht war. Die Stadt war als tolerant bekannt - Juden konnten vertrauensvolle und wichtige Posten einnehmen, unser Wissen, unsere Fähigkeiten wurden geschätzt. Die Nähe zu Carcassona bedeutete, dass ich sogleich verfügbar wäre, falls Harif mich brauchte.« Er wandte sich an Pelletier. »Gott in seiner unerschöpflichen Klugheit weiß, wie schwer es für mich war, dich nur wenige Tagesritte entfernt zu wissen, doch Vorsicht und Vernunft ließen mir keine andere Wahl.«

Er setzte sich auf, und seine schwarzen Augen leuchteten. »Schon damals gab es Verse, Lieder, die an den Höfen im Norden gesungen wurden. In der Champagne sangen die Troubadoure und Minnesänger von einem magischen Kelch, einem Leben spendenden Elixier, und das kam der Wahrheit zu nahe, um es zu missachten.« Pelletier nickte. Auch er hatte solche Lieder gehört. »Nach gründlicher Abwägung hielt ich es daher für sicherer, mich fern zu halten. Ich hätte es mir wirklich nie verziehen, wenn ich sie bis zu deiner Tür geführt hätte, mein Freund.«

Pelletier stieß einen langen Seufzer aus. »Ich fürchte, Simeon, dass wir trotz all unserer Bemühungen verraten worden sind, obwohl ich keinen stichhaltigen Beweis dafür habe. Irgendwer hat von der Verbindung zwischen uns erfahren, davon bin ich überzeugt. Ob sie auch wissen, was für Bande uns einen, kann ich nicht sagen.«

»Ist irgendetwas geschehen, das dich zu dieser Meinung gebracht hat?«

»Vor etwa einer Woche hat Alaïs die Leiche eines Mannes in der Aude gefunden, ein Jude. Man hatte ihm die Kehle durchschnitten und den linken Daumen abgetrennt. Aber er war nicht ausgeraubt worden. Ich kann nicht sagen warum, aber ich musste an dich denken. Ich dachte, dass der Mann mit dir verwechselt worden war.« Er zögerte. »Und davor hatte es noch andere Hinweise gegeben. Ich habe Alaïs ein wenig ins Vertrauen gezogen, für den Fall, dass mir etwas zustoßen würde und ich nicht mehr nach Carcassona zurückkehren könnte.«

Das ist der richtige Zeitpunkt, um ihm zu erzählen, warum du gekommen bist.

»Vater, seit Eurer ...«

Er hob eine Hand, um sich nicht schon wieder unterbrechen zu lassen. »Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass dein Aufenthaltsort entdeckt worden ist, Simeon? Entweder von den Leuten, die dich schon in Chartres gesucht haben, oder von anderen?« Simeon schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit, nein. Es ist über fünfzehn Jahre her, seit ich in den Süden gekommen bin, und glaub mir, es ist in der ganzen Zeit nicht ein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht damit gerechnet hätte, ein Messer an der Kehle zu spüren. Aber wenn du mich fragst, ob mir irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, nein.«

Alaïs konnte nicht länger schweigen. »Vater, was ich zu sagen habe, betrifft diese Angelegenheit. Ich muss Euch erzählen, was geschehen ist, seit Ihr Carcassona verlassen habt. Bitte.«

 

Als Alaïs gesprochen hatte, war das Gesicht ihres Vaters dunkelrot angelaufen. Sie fürchtete, dass er die Beherrschung verlieren würde. Dann würde er sich weder von Alaïs noch von Simeon beruhigen lassen.

»Die Trilogie ist entdeckt worden«, tobte er. »Daran besteht kein Zweifel.«

»Ruhig, Bertrand«, sagte Simeon mit Nachdruck. »Dein Zorn trübt nur dein Urteilsvermögen.«

Alaïs sah zu den Fenstern hinüber, weil sie bemerkte, dass der Lärm auf den Straßen zunahm. Auch Pelletier hob nach kurzem Zögern den Kopf.

»Die Glocken haben längst aufgehört«, sagte er rasch. »Ich muss zurück in die Residenz des Suzeräns. Vicomte Trencavel erwartet mich.« Er stand auf. »Ich muss darüber nachdenken, was du mir erzählt hast, Alaïs, und überlegen, was zu tun ist. Jetzt jedoch müssen wir unseren Aufbruch planen.« Er wandte sich an seinen Freund. »Du wirst uns begleiten, Simeon.«

Während Pelletier sprach, hatte Simeon eine mit Schnitzereien verzierte Truhe geöffnet, die an der rückwärtigen Wand des Raumes stand. Alaïs trat näher. Der Deckel war mit dunkelrotem Samt ausgeschlagen, der in breite Falten gerafft war, wie die Vorhänge um ein Bett.

Simeon schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht mit euch reiten. Ich gehe mit meinem Volk. Deshalb solltet ihr das hier sicherheitshalber mitnehmen.«

Alaïs sah, wie Simeon mit der Hand über den Boden der Truhe strich. Ein Klicken war zu hören, und dann öffnete sich eine kleine, versteckte Schublade. Als er sich wieder aufrichtete, sah Alaïs, dass er einen Gegenstand in der Hand hielt, der in einem Futteral aus Schafsleder steckte.

Die beiden Männer wechselten Blicke, dann nahm Pelletier das Buch aus Simeons ausgestreckter Hand und verbarg es unter seinem Mantel.

»In seinem Brief erwähnt Harif eine Schwester in Carcassona«, sagte Simeon.

Pelletier nickte. »Eine Freundin der Noublesso, so deute ich seine Worte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mehr damit meint.«

»Weißt du, Bertrand, das zweite Buch wurde von einer Frau abgeholt«, sagt Simeon sanft. »Ich muss zugeben, damals vermutete ich wie du, dass sie nur eine Botin war, doch eingedenk des Briefes ...«

Pelletier tat die Andeutung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Unter keinen Umständen würde Harif eine Frau zur Hüterin machen, das kann ich einfach nicht glauben. So ein Risiko würde er nicht eingehen.«

Fast hätte Alaïs etwas gesagt, doch sie biss sich auf die Zunge. Simeon zuckte die Achseln. »Wir sollten die Möglichkeit in Erwägung ziehen.«

»Gut, was für eine Frau war sie denn?«, fragte Pelletier ungeduldig. »Jemand, von dem man einigermaßen erwarten darf, dass er einen so kostbaren Gegenstand hüten und bewahren kann?«

Simeon schüttelte den Kopf. »Das war sie, ehrlich gesagt, nicht. Sie war weder von hoher Geburt, noch gehörte sie zu den niedrigsten Schichten. Sie war über das gebärfähige Alter hinaus, wenngleich sie ein Kind bei sich hatte. Sie wollte über Servian, ihren Heimatort, nach Carcassona reisen.«

Alaïs setzte sich kerzengerade auf.

»Das sind ziemlich spärliche Auskünfte«, sagte Bertrand tadelnd. »Hat sie dir nicht gesagt, wie sie heißt?«

»Nein, und ich habe auch nicht danach gefragt, da sie einen Brief von Harif bei sich hatte. Ich gab ihr Brot, Käse, Obst für die Reise mit, und sie ging wieder.«

Inzwischen waren sie bis zur Haustür gegangen.

»Ich lasse Euch nicht gern hier zurück«, sagte Alaïs, die plötzlich Angst um ihn hatte.

Simeon lächelte. »Sorgt Euch nicht um mich, Kind. Esther wird mir die Dinge einpacken, die ich mit nach Carcassona nehmen will. Ich werde namenlos in der Menge mitreisen. Das wird für uns alle sicherer sein.«

Pelletier nickte. »Das jüdische Viertel liegt direkt am Fluss, nördlich von Carcassona, nicht weit vom Vorort Sant-Vicens. Schicke uns Nachricht, wenn du angekommen bist.«

»Das werde ich.«

Die beiden Männer umarmten einander, dann trat Pelletier hinaus auf die jetzt von Menschen wimmelnde Straße. Alaïs wollte ihm folgen, doch Simeon hielt sie am Arm fest.

»Ihr habt großen Mut bewiesen, Alaïs. Ihr seid Eurem Vater treu ergeben. Und der Noublesso auch. Doch habt ein Auge auf ihn. Sein Temperament kann ihn in die Irre leiten, und es liegen schwere Zeiten, schwere Entscheidungen vor uns.«

Alaïs warf einen Blick über die Schulter und senkte die Stimme, damit ihr Vater sie nicht hören konnte. »Worum handelte es sich bei dem zweiten Buch, das diese Frau nach Carcassona mitgenommen hat? Das Buch, das noch nicht wiedergefunden wurde?«

»Es war das Buch der Arzneien«, antwortete er. »Eine Auflistung von Kräutern und Pflanzen. Eurem Vater wurde das Buch der Wörter anvertraut und mir das Buch der Zahlen.« Jedem gemäß seinen Fähigkeiten.

»Ich denke, das verrät Euch, was Ihr wissen wolltet?«, sagte Simeon und sah sie vielsagend unter seinen buschigen Augenbrauen hinweg an. »Oder bestätigt vielleicht eine Vermutung?« Sie lächelte. »Benleu.« Vielleicht.

Alaïs gab ihm einen Kuss und lief dann ihrem Vater nach. Wegzehrung für die Reise. Und vielleicht auch ein poliertes Holzbrett.

Alaïs beschloss, den Gedanken vorläufig für sich zu behalten, bis sie ihrer Sache sicher war, obwohl sie nun schon zu wissen glaubte, wo das Buch zu finden war. All die zahllosen Verbindungsfäden, die ihrer aller Leben durchzogen wie ein Spinnennetz, waren ihr plötzlich klar. All die winzigen Hinweise und Anhaltspunkte, die man übersah, weil man nicht darauf achtete.


Das Verlorene Labyrinth
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