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Carcassonne
Südwestfrankreich
Wenige Kilometer Luftlinie nach Osten entfernt, in einem vergessenen Dorf in den Sabarthès-Bergen, sitzt ein Mann in einem hellen Anzug allein an einem Tisch aus dunklem, glänzend poliertem Holz.
Der Raum hat eine niedrige Decke und ist mit großen, quadratischen Fliesen von der Farbe roter Bergerde ausgelegt, die ihn trotz der Hitze draußen kühl halten. Die Läden vor dem einzigen Fenster sind geschlossen, daher ist es dunkel, bis auf den kreisrunden gelben Lichtschein einer kleinen Öllampe auf dem Tisch. Das schwere Wasserglas neben der Lampe ist fast bis zum Rand mit einer roten Flüssigkeit gefüllt.
Auf dem Tisch verstreut liegen etliche Blätter dickes, cremefarbenes Papier, jedes davon Zeile um Zeile mit schwarzer Tinte in einer akkuraten Handschrift beschrieben. In dem Zimmer ist es still, bis auf das Kratzen und Schaben des Stiftes und das Klimpern der Eiswürfel im Glas, wenn er trinkt, hört man nichts. Feiner Duft nach Alkohol und Kirschen. Das Ticken der Uhr markiert das Vergehen der Zeit, wenn er innehält, nachdenkt und dann weiterschreibt.
Was wir in diesem Leben zurücklassen, ist die Erinnerung daran, wer wir waren und was wir getan haben. Ein Abdruck, mehr nicht. Ich habe viel gelernt. Ich bin weise geworden. Aber habe ich etwas bewegt? Ich weiß es nicht. Pas a pas, se va luenh.
Ich habe gesehen, wie das Grün des Frühlings dem Gold des Sommers wich, das Kupfer des Herbstes dem Weiß des Winters, während ich dasaß und auf das Verschwinden des Lichtes wartete. Immer und immer wieder habe ich mich gefragt, warum. Wenn ich gewusst hätte, wie es sein würde, völlig allein zu sein, der einzige Zeuge des endlosen Kreislaufs von Geburt und Leben und Tod, was hätte ich getan? Alaïs, meine Einsamkeit ist eine quälende Last. Ich habe dieses lange Leben mit Leere im Herzen erduldet, einer Leere, die mit den Jahren wuchs und wuchs, bis sie größer wurde als mein Herz selbst.
Ich habe versucht, die Versprechen, die ich dir gab, zu halten. Das eine ist erfüllt, das andere blieb unerfüllt. Bis jetzt. Schon seit einiger Zeit spüre ich deine Nähe. Unsere Zeit ist beinahe wieder da. Alles deutet darauf hin. Bald wird die Höhle geöffnet werden. Ich spüre diese Wahrheit überall um mich herum. Und auch das Buch, das so lange Zeit in Sicherheit war, wird gefunden werden.
Der Mann hält inne und greift erneut nach dem Glas. Seine Augen sind von der Erinnerung getrübt, doch der Guignolet ist stark und süß und belebt ihn.
Ich habe sie gefunden. Endlich. Und ich frage mich, ob es sich vertraut anfühlen wird, wenn ich das Buch in ihre Hände lege. Steckt die Erinnerung daran in ihrem Blut und ihren Knochen? Wird sie sich erinnern, wie der Einband schimmert und die Farbe verändert? Wenn sie die Bänder löst und es öffnet, behutsam, um das trockene, spröde Pergament nicht zu beschädigen, wird sie sich der Worte entsinnen, die durch die Jahrhunderte zurückhallen?
Ich bete, dass ich jetzt, wo mein langes Leben sich dem Ende nähert, endlich die Chance habe, den Fehler, den ich einst beging, wieder gutzumachen, dass ich endlich die Wahrheit erfahre. Die Wahrheit wird mich befreien.
Der Mann lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und legt die vom Alter braun gefleckten Hände flach auf den Tisch. Die Chance, nach so langer Zeit zu erfahren, was am Ende geschah.
Das ist alles, mehr will er nicht.