Kapitel 68
Pic de Soularac

 

Was machst du da?«, fragte François-Baptiste, als er das kleine, unscheinbare Chalet nicht weit vom Pic de Soularac betrat.

Marie-Cécile saß am Tisch und hatte das Buch der Zahlen vor sich aufgeschlagen auf einem schwarz bespannten Lesepult liegen. Sie schaute nicht auf.

»Ich seh mir den Grundriss der Kammer an.«

François-Baptiste setzte sich neben sie. »Aus einem bestimmten Grund?«

»Ich will mir die Unterschiede zur Labyrinth-Höhle einprägen.« Sie spürte, dass er ihr über die Schulter schaute.

»Gibt's viele?«, fragte er.

»Ein paar. Den hier zum Beispiel«, sagte sie und zeigte mit dem Finger, ohne das Buch zu berühren. Ihr roter Nagellack schimmerte unter den Schutzhandschuhen aus Baumwolle. »Unser Altar ist hier, wie eingezeichnet. In der richtigen Höhle ist er näher an der Wand.«

»Aber ist denn dann nicht das Labyrinth an der Wand verdeckt?«

Sie wandte den Kopf und sah ihn an, weil sie über die intelligente Frage erstaunt war.

»Und wenn die ursprünglichen Hüter das Buch der Zahlen bei ihren Zeremonien benutzt haben, so wie die Noublesso Véritable auch, dann müssten diese Dinge doch eigentlich gleich sein, oder?«

»Das sollte man meinen, ja«, sagte sie. »Aber es gibt kein Grabmal, das ist der offensichtlichste Unterschied, obwohl das Grab, in dem die Skelette lagen, interessanterweise an genau der gleichen Stelle war.«

»Hast du noch irgendwas Neues über die beiden Toten aus der Höhle erfahren?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann wissen wir also noch immer nicht, wer sie sind?«

Sie zuckte die Achseln. »Spielt das eine Rolle?« »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte er, obwohl sie ihm ansah, dass ihn ihr mangelndes Interesse störte.

»Unterm Strich glaube ich kaum, dass die Unterschiede wirklich wichtig sind«, fuhr sie fort. »Bedeutsam ist nur das Muster, der Weg, den der Navigataire abschreitet, während die Worte gesprochen werden.«

»Und du glaubst wirklich, dass du das Pergament im Buch der Wörter lesen kannst?«

»Wenn es aus derselben Zeit stammt wie die anderen beiden, dann ja. Die Hieroglyphen sind eigentlich recht simpel.«

Eine Vorfreude erfasste sie so unvermutet, so plötzlich, dass sie die Finger hob, als hätte sich ihr eine Hand um die Kehle gelegt. Heute Abend würde sie die vergessenen Worte sprechen. Heute Abend würde sich die Kraft des Grals auf sie senken. Die Zeit selbst würde besiegt werden.

»Und wenn O'Donnell lügt?«, gab Frarnjois-Baptiste zu bedenken. »Wenn sie das Buch doch nicht hat? Und Authié es auch nicht gefunden hat?«

Marie-Cecile riss die Augen auf, fühlte sich durch den schroffen, provozierenden Ton ihres Sohnes in die Gegenwart zurückgerissen. Sie betrachtete ihn voller Widerwillen. »Das Buch der Wörter wird da sein«, sagte sie.

Verärgert, dass ihr so die Stimmung verdorben wurde, klappte Marie-Cecile das Buch der Zahlen zu und schob es zurück in die Schutzhülle. Dann legte sie das Buch der Arzneien auf das Lesepult.

Von außen sahen die Bücher genau gleich aus. Die gleichen lederbezogenen Holzdeckel, die von schmalen Lederbändern zusammengehalten wurden.

Die erste Seite war frei bis auf einen kleinen goldenen Kelch in der Mitte. Die Rückseite war leer. Auf der dritten Seite waren die Wörter und Zeichen zu sehen, die sich auch oben an den Wänden der Kellerkammer in der Rue du Cheval Blanc befanden. Der erste Buchstabe auf jeder Seite war rot, blau oder gelb mit goldener Umrandung illuminiert, doch ansonsten war der Text fortlaufend, ein Wort ging ins nächste über, ohne dass Zwischenräume erkennen ließen, wo das eine endete und das andere begann.

Marie-Cecile blätterte bis zu dem Pergament in der Mitte des Buches.

Zwischen den Hieroglyphen waren hier und da winzige Bilder von Pflanzen und grüne Symbole eingestreut. Nach jahrelangen Untersuchungen und Forschungen, die mit dem Vermögen der de l'Oradores finanziert wurden, hatte ihr Großvater erkannt, dass keine dieser Illustrationen wichtig war.

Nur die Hieroglyphen auf den beiden Gralspergamenten waren von Bedeutung. Alles Übrige - die Worte, die Bilder, die Farben - sollten die Wahrheit nur verschleiern, ausschmücken, verbergen.

»Es wird da sein«, sagte sie und musterte Francois-Baptiste mit einem wilden Blick. Sie sah die Skepsis in seinem Gesicht, aber er beschloss klugerweise, nichts zu sagen. »Hol meine Sachen«, sagte sie scharf. »Und dann finde raus, wo der Wagen steckt.«

 

Augenblicke später kehrte er mit ihrem quadratischen Schminkkoffer zurück.

»Wo soll ich ihn hinstellen?«

»Da drüben«, sagte sie und zeigte auf den Frisiertisch. Sobald er wieder gegangen war, ging Marie-Cecile hinüber und setzte sich. Die Außenseite des Koffers war aus weichem braunem Leder und trug ihre Initialen in Gold. Er war ein Geschenk von ihrem Großvater.

Sie klappte den Deckel auf. Auf der Innenseite waren ein großer Spiegel und mehrere Fächer für Bürsten, Schönheitsaccessoires, Kosmetiktücher und eine kleine goldene Schere. Das Make-up steckte im oberen Koffereinsatz in ordentlichen Reihen. Lippenstift, Lidschatten, Mascara, Kajalstifte, Puder. In dem Einsatz darunter befanden sich drei Schmuckschatullen aus rotem Leder. Sie hörte die Tür aufgehen.

»Wo sind sie?«, fragte sie, ohne sich umzuwenden.

»Nicht weit weg«, antwortete Francois-Baptiste. Sie konnte die Anspannung in seiner Stimme hören.

»Geht's ihm gut?«

Er trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. »Bist du besorgt, Maman?«

Marie-Cecile starrte ihr Spiegelbild an, dann betrachtete sie ihren Sohn, der über ihrem Kopf im Spiegel umrahmt wurde, als ob er für ein Porträt posierte. Seine Stimme klang gleichgültig. Seine Augen verrieten ihn.

»Nein«, erwiderte sie und sah, dass sich sein Gesicht ein wenig entspannte. »Bloß interessiert.«

Er drückte ihre Schultern, dann nahm er die Hände weg.

»Er lebt, um deine Frage zu beantworten. Hat ein bisschen Ärger gemacht, als sie ihn rausgeholt haben. Sie mussten ihn etwas beruhigen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Hoffentlich nicht zu sehr«, sagte sie. »Halb ohnmächtig nutzt er mir nichts.«

»Mir?«, fragte Francois-Baptiste scharf.

Marie-Cecile biss sich auf die Zunge. Sie brauchte Francois- Baptiste in gefügiger Stimmung. »Uns«, sagte sie.


Das Verlorene Labyrinth
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