Kapitel 4

 

Auf seinem Ausguck auf dem Dach der Taverne wandte sich der Junge mit den bernsteinfarbenen Augen und dem dunkelblonden Haar um und sah nach, wo das Geräusch herkam. Ein Bote galoppierte von der Porte Narbonnaise aus durch die überfüllten Straßen der Cité, ohne Rücksicht auf die Menschen. Männer brüllten, er solle absteigen. Frauen brachten ihre Kinder im letzten Augenblick vor den donnernden Hufen in Sicherheit. Ein paar nicht angekettete Hunde sprangen bellend an dem Pferd hoch und schnappten nach den Hinterbeinen. Der Reiter nahm sie gar nicht zur Kenntnis.

Das Pferd schwitzte stark. Selbst aus dieser Entfernung konnte Sajhë den weißen Schaum auf dem Widerrist und am Maul erkennen. Er beobachtete, wie der Reiter scharf auf die Brücke einbog, die zum Chateau Comtal führte.

Um besser sehen zu können, stand Sajhë auf und balancierte waghalsig dicht am Rand der holprigen Dachziegel, als er auf einmal Intendant Pelletier auf einem mächtigen braunen Wallach zwischen den Wachtürmen auftauchen sah. Hinterdrein ritt Alaïs. Sie wirkte aufgeregt, dachte er. Er fragte sich, was wohl geschehen war und woher sie kamen. Sie waren nicht für die Jagd gekleidet.

Sajhë mochte Alaïs. Wenn sie seine Großmutter Esclarmonde besuchen kam, unterhielt sie sich auch mit ihm, anders als viele Damen vom Hofe, die so taten, als wäre er gar nicht da. Ihnen ging es nur um die Gebräue und Arzneien, die menina, seine Großmutter, für sie zubereiten sollte - um Fieber zu senken, eine Schwellung zu lindern, Geburten einzuleiten oder für Glück in der Liebe zu sorgen.

Doch in all den Jahren, die er sie nun schon anhimmelte, hatte Sajhë Alaïs noch nie so gesehen wie vorhin. Der Junge rutschte die gelblichen Ziegel bis zum Rande des Daches hinunter und ließ sich vorsichtig herab. Er landete weich auf der Erde, wobei er um Haaresbreite ein Huhn verfehlte, das an einen schiefen Karren gebunden war.

»He! Pass doch auf!«, schrie eine Frau.

»Ist ja nichts passiert«, rief er und entwischte gerade noch ihrem Besen.

Es war Markttag, und die Cité war ein einziges Spiel aus Farben, Gerüchen und Klängen. In jedem Durchgang, jeder Gasse knallten hölzerne Fensterläden gegen Stein, als Diener und Hausbesitzer die Fenster zum Lüften öffneten, bevor die Sonne zu stark wurde. Böttcher sahen ihren Lehrlingen nach, die Fässer holpernd und polternd über das Kopfsteinpflaster rollten und versuchten, vor ihren Rivalen die Schänken zu erreichen. Karren auf dem Weg zum Marktplatz rumpelten schwerfällig über den unebenen Boden, in dem ihre quietschenden Räder ab und an stecken blieben.

Sajhë kannte jede Abkürzung in der Cité und huschte hin und her zwischen drängelnden Armen und Beinen, wich den klappernden Hufen von Schafen und Ziegen aus, den mit Waren und Körben beladenen Eseln und Maultieren, den Schweinen, die faul und träge durch die Straßen trotteten. Ein älterer Junge mit einem zornigen Ausdruck im Gesicht trieb eine Schar unbändiger Gänse vor sich her. Die Vögel kreischten und bissen sich gegenseitig und schnappten nach den nackten Beinen von zwei kleinen Mädchen, die in der Nähe standen. Sajhë zwinkerte den beiden zu, und um sie zum Lachen zu bringen, trottete er hinter der hässlichsten Gans her und schlug mit den Armen, als wären sie Flügel.

»Was soll das?«, rief der Junge. »Hau ab.«

Die Mädchen lachten. Sajhë stieß einen lauten Gänseschrei aus, und die alte graue Gans fuhr herum, reckte den Hals und fauchte ihm bösartig ins Gesicht. »Selber schuld, pec«, sagte der Junge. »Du blöder Idiot.«

Sajhë wich vor dem schnappenden orangegelben Schnabel zurück. »Du solltest besser auf sie aufpassen.«

»Bloß Hosenscheißer haben Angst vor Gänsen«, höhnte der Junge und baute sich vor Sajhë auf. »Hat der Hosenscheißer etwa Angst vor harmlosen kleinen Gänschen?«

»Ich hab keine Angst«, sagte Sajhë großspurig und zeigte auf die Mädchen, die sich jetzt hinter den Beinen ihrer Mutter versteckten. »Aber die beiden da. Also pass gefälligst auf.«

»Und was geht dich das an, e?«

»Ich sag ja bloß, du solltest besser aufpassen.«

Der Junge kam noch näher, fuchtelte mit seinem Stock vor Sajhës Gesicht.

»Und du meinst, ich lass mir von so einem Bürschchen wie dir was sagen? Hä?«

Der Junge war einen Kopf größer als Sajhë. Seine Haut bestand praktisch nur noch aus lila Blutergüssen und roten Flecken. Sajhë machte einen Schritt zurück und hob die Hände.

»Ich hab dich was gefragt«, sagte der Junge kampflustig.

Es hätte nicht viel gefehlt, und es wären die Fäuste geflogen, wenn nicht ein alter Trunkenbold aufgewacht wäre, der zusammengesunken an der Mauer saß. Er brüllte sie an, sie sollten sich verziehen und ihn in Ruhe lassen. Sajhë nutzte die günstige Ablenkung, um das Weite zu suchen.

Die Sonne erhob sich gerade über die Dächer der höheren Gebäude, durchflutete Teile der Straße mit hellen Lichtstreifen und funkelte auf dem Hufeisen, das über der Tür der Schmiede hing. Sajhë blieb stehen und schaute in die Werkstatt hinein, spürte noch hier draußen auf der Straße die Hitze des Feuers im Gesicht.

Vor der Schmiede warteten eine Gruppe Männer sowie etliche écuyers, die die Helme, Schilde und Kettenhemden ihrer Herren ausbessern lassen wollten. Er vermutete, dass der Schmied im Château mit der Arbeit nicht mehr nachkam.

Sajhë hatte nicht das Blut oder den Stammbaum, um sich Hoffnungen auf eine Stellung als Knappe machen zu können, aber er malte sich trotzdem gern aus, wie es wäre, ein chevalier mit eigenem Wappen zu sein. Er lächelte einigen der Jungen in seinem Alter zu, doch sie starrten durch ihn hindurch, wie sie es immer taten und immer tun würden.

Sajhë wandte sich ab und ging weiter.

Die meisten Markthändler kamen regelmäßig und hatten ihre Stände an ihrem Stammplatz aufgebaut. Der Geruch von heißem Fett drang Sajhë in die Nase, kaum dass er den Platz betreten hatte. Er lungerte ein bisschen vor dem Stand herum, wo ein Mann Pfannkuchen briet und sie auf einem heißen Backblech wendete. Der Duft von dicker Bohnensuppe und warmem mitadenc-Brot aus Gerste und Weizen ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er kam an Ständen vorbei, die Schnallen und Töpfe, Wollstoffe, Felle und Leder feilboten, sowohl Waren aus der Gegend als auch exotischere Gürtel und Geldbeutel aus Córdoba und noch weiter weg, aber er blieb nicht stehen. An einem Stand sah er sich kurz die Messer und Scheren zum Schafscheren an, ehe er weiter zu der Ecke des Platzes ging, wo die meisten lebenden Tiere eingepfercht waren. Es gab immer jede Menge Hühner und Kapaune in Holzkäfigen, manchmal auch Lerchen und Zaunkönige, die zwitscherten und trällerten. Am schönsten fand er die Kaninchen, die sich in einem einzigen Knäuel aus braunem, schwarzem und weißem Fell aneinander kuschelten.

Sajhë ging an den Händlern vorbei, die Getreide und Salz, helles Fleisch, Fassbier und Wein verkauften, bis sein Blick auf einen Stand für Kräuter und exotische Gewürze fiel. Vor dem Tisch stand ein Händler. Einen so groß gewachsenen, so dunklen Mann hatte Sajhë in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Er trug lange, schimmernde blaue Gewänder, einen glänzenden Seidenturban und spitze, rot-goldene Schuhe. Seine Haut war sogar noch dunkler als die der Zigeuner, die von Navarre und Aragon über die Berge hierher kamen. Er musste ein Sarazene sein, vermutete Sajhë, obwohl er noch nie einen gesehen hatte. Der Sarazene hatte seine Ware in einem farbenprächtigen Kreis ausgelegt, grün, gelb, orange, braun, rot und ocker in allen Schattierungen. Ganz vorn waren Rosmarin und Petersilie, Knoblauch, Ringelblume und Lavendel, aber weiter hinten lagen so seltene und kostbarere Gewürze wie Kardamom, Muskat und Safran. Von den anderen erkannte Sajhë kein einziges, aber er konnte es schon jetzt kaum erwarten, seiner Großmutter zu erzählen, was er gesehen hatte.

Er wollte gerade einen Schritt näher treten, um sich alles noch besser anschauen zu können, als der Sarazene plötzlich mit Donnerstimme losbrüllte. Seine starke, dunkle Hand umklammerte das magere Handgelenk eines Taschendiebes, der versucht hatte, ihm eine Münze aus dem bestickten Geldbeutel zu stehlen, den er an einer gezwirbelten roten Schnur an der Taille trug. Eine gepfefferte Ohrfeige schleuderte den Jungen gegen eine Frau, die hinter ihm stand und prompt losschimpfte. Sogleich sammelte sich eine Menschenmenge.

Sajhë machte, dass er wegkam. Er wollte keinen Ärger.

Sajhë wollte den Platz verlassen und in Richtung taberna »Sant Joan dels Evangelis« gehen. Er hatte kein Geld dabei, und insgeheim hoffte er, einige Botengänge erledigen zu können und dafür einen Becher brout zu bekommen. Da hörte er jemanden seinen Namen rufen.

Er drehte sich um und sah, dass eine Freundin seiner Großmutter, Na Marti, mit ihrem Mann an ihrem Stand saß und ihm winkte. Sie war Weberin und ihr Mann Wollkämmer. Die meisten Wochen waren sie an derselben Stelle zu finden, wo sie Wolle kämmten und spannen.

Sajhë ging zu ihnen. Wie Esclarmonde war auch Na Marti eine Anhängerin des neuen Glaubens. Ihr Mann, Senher Marti, war kein Gläubiger, obwohl er zu Pfingsten mit seiner Frau in Esclarmondes Haus gekommen war, um die Bons Homes predigen zu hören.

Na Marti zerzauste ihm das Haar.

»Wie geht es dir, junger Mann? Du wirst ja immer größer, ich hätte dich fast nicht erkannt.«

»Gut, danke«, erwiderte er mit einem Lächeln, wandte sich dann ihrem Mann zu, der Wolle zu Strängen kämmte, die verkauft werden sollten. »Bonjorn, Senher.«

»Und Esclarmonde?«, fragte Na Marti weiter. »Ist sie auch wohlauf? Passt gut auf, dass alles seinen rechten Gang geht, wie üblich?«

»Sie ist genauso wie immer«, grinste er.

»Ben, ben.« Gut.

Sajhë setzte sich im Schneidersitz zu ihren Füßen und schaute zu, wie das Spinnrad sich unermüdlich drehte.

»Na Marti?«, sagte er nach einer Weile. »Warum seid Ihr schon so lange nicht mehr zu uns zum Beten gekommen?«

Senher Marti unterbrach seine Arbeit und wechselte einen nervösen Blick mit seiner Frau.

»Ach, du weißt ja, wie das ist, Sajhë«, antwortete Na Marti, ohne ihm in die Augen zu blicken. »Wir haben in letzter Zeit einfach zu viel Arbeit. Wir können nicht mehr so oft nach Carcassonne kommen, wie wir es gern würden.«

Sie richtete ihre Spule und spann weiter, um die Stille zu überspielen, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

»Menina vermisst Euch.«

»Ich vermisse sie auch.«

Sajhë runzelte die Stirn. »Aber warum ...«

Senher Marti klopfte ihm heftig auf die Schulter. »Sprich nicht so laut«, sagte er mit leiser Stimme. »So etwas sollten wir lieber für uns behalten.« »Was sollten wir für uns behalten?«, fragte er verwundert. »Ich meine doch nur ...«

»Wir haben es gehört, Sajhë«, sagte Senher Marti und schaute über die eigene Schulter. »Der ganze Markt hat es gehört. Und jetzt kein Wort mehr von Gebeten, e?«

Sajhë begriff nicht, was Senher Marti so erbost hatte, und sprang auf. Na Marti blickte ihren Mann zornig an. Die beiden schienen ihn ganz vergessen zu haben.

»Sei nicht so barsch zu ihm, Rogier«, zischte sie zornig. »Er ist doch noch ein Junge.«

»Und braucht nur jemand anzuschwärzen, und wir werden wie die anderen zusammengetrieben. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wenn die Leute denken, wir hätten Umgang mit Häretikern ...«

»Häretiker, du meine Güte. Er ist ein Kind!«

»Den Jungen meine ich nicht. Esclarmonde. Jeder weiß, dass sie eine von denen ist. Und wenn sich herumspricht, dass wir in ihrem Haus beten, beschuldigen sie uns auch, wir hätten uns den Bons Homes angeschlossen, und dann werden wir verfolgt.«

»Also lassen wir lieber unsere Freunde im Stich? Bloß weil du ein paar Schauergeschichten gehört hast!«

Senher Marti senkte die Stimme noch mehr. »Ich sage nur, dass wir vorsichtig sein müssen. Du weißt, was geredet wird. Dass eine Armee herkommt, um die Häretiker zu vertreiben.«

»Das wird schon seit Jahren gesagt. Du nimmst das zu ernst. Und die päpstlichen Gesandten, diese >Gottesmänner<, treiben sich doch schon seit ewigen Zeiten im Lande herum, trinken sich ins Grab und haben nicht das Geringste zu Wege gebracht. Die Bischöfe können sich von mir aus die Köpfe heiß reden, aber uns sollen sie bitte schön in Frieden lassen.«

Sie wandte sich von ihrem Mann ab. »Hör nicht auf ihn«, sagte sie und legte Sajhë eine Hand auf die Schulter. »Du hast nichts Böses getan.«

Sajhë starrte auf seine Füße, weil er nicht wollte, dass sie ihn weinen sah.

Na Marti redete mit unnatürlich heiterer Stimme weiter. »Sajhë, hast du nicht neulich gesagt, du würdest gern ein Geschenk für Alaïs kaufen? Sollen wir nicht mal schauen, ob wir was finden?«

Sajhë nickte. Er wusste, dass sie ihn aufmuntern wollte, aber er war ganz verwirrt und verlegen.

»Ich hab aber kein Geld«, sagte er.

»Ach, mach dir deshalb keine Gedanken. Ich denke, dieses eine Mal geht es auch ohne. So, jetzt schau dich einmal um.« Na Marti strich mit der Hand über die farbenfrohen Garnstränge. »Wie wär's hiermit? Meinst du, die Wolle würde ihr gefallen? Passt wunderbar zu ihren Augen.«

Sajhë betastete das zarte, kupferbraune Garn.

»Ich weiß nicht.«

»Doch, die gefällt ihr bestimmt. Ich packe sie für dich ein.«

Sie drehte sich um und suchte ein kleines Stück Stoff zum Einschlagen des Garns.

Sajhë wollte nicht undankbar erscheinen und überlegte, was er Unverfängliches sagen konnte.

»Ich hab sie vorhin gesehen.«

»Alaïs, ja? Und wie geht es ihr? War sie mit ihrer Schwester zusammen?«

Er verzog das Gesicht. »Nein. Aber sie sah trotzdem nicht fröhlich aus.«

»Tja«, sagte Na Marti, »wenn sie heute Morgen traurig war, dann kommt das Geschenk ja wie gerufen. Das wird sie aufmuntern. Alaïs geht doch morgens immer auf den Markt, nicht wahr? Wenn du die Augen offen und die Gedanken beisammen hältst, findest du sie bestimmt.«

Froh, sich der angespannten Stimmung entziehen zu dürfen, schob Sajhë die Wolle unter seine Tunika und verabschiedete sich. Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um und winkte ihnen zu. Die Martis standen nebeneinander und sahen ihm nach, aber sie sprachen kein Wort miteinander.

 

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Sajhë spazierte eine Weile umher und fragte nach Alaïs. Niemand hatte sie gesehen. Er wurde langsam hungrig, und als er gerade beschlossen hatte, nach Hause zu gehen, entdeckte er sie vor einem Stand, wo Ziegenkäse verkauft wurde. Er lief hin, schlich sich von hinten an sie heran und schlang die Arme um ihre Taille.

»Bonjorn.«

Alaïs fuhr herum und belohnte ihn mit einem strahlenden Lächeln, als sie sah, dass er es war.

»Sajhë«, sagte sie und strich ihm durchs Haar. »Hast du mich erschreckt ! «

»Ich hab Euch überall gesucht.« Er grinste. »Geht es Euch gut? Ich hab Euch heute Morgen gesehen, und Ihr saht ganz durcheinander aus.«

»Heute Morgen?«

»Ihr seid ins Château geritten, mit Eurem Vater. Kurz nachdem der Bote angekommen ist.«

»Ach so«, sagte sie. »Keine Sorge, es geht mir gut. Es war nur ein anstrengender Morgen. Aber es tut gut, dein blühendes Gesicht zu sehen.« Sie küsste ihn oben auf den Kopf, und Sajhë lief dunkelrot an. Er starrte wütend auf seine Füße, wollte nicht, dass sie etwas merkte. »Und wo du schon einmal hier bist, hilf mir doch den besten Käse aussuchen.«

Die glatten, runden Scheiben aus frischem Ziegenkäse waren in einem gleichmäßigen Muster auf einem Bett aus Stroh ausgelegt, das fest in flache Holzkisten gepresst war. Manche sahen trocken aus und hatten eine gelbliche Haut. Sie hatten einen pikanteren Geschmack und waren schon gut zwei Wochen alt. Andere, die frischer waren, glänzten feucht und weich. Alaïs fragte nach den Preisen, deutete mal auf dieses, mal auf jenes Stück, wollte Sajhës Meinung hören, bis sie sich schließlich entschied. Sie gab ihm eine Münze zum Bezahlen und holte ein kleines, poliertes Holzbrett hervor, auf dem der feuchte Käse nach Hause getragen werden sollte. Sajhës Augen weiteten sich vor Überraschung, als er das Muster auf der Rückseite sah. Wieso hatte Alaïs das? Woher? In seiner Verwirrung ließ er die Münze zu Boden fallen. Verlegen tauchte er unter den Tisch, um Zeit zu gewinnen. Als er sich wieder aufrichtete, sah er zu seiner Erleichterung, dass Alaïs offenbar nichts gemerkt hatte, also machte er sich weiter keine Gedanken darum. Stattdessen nahm er, als der Käse schließlich bezahlt war, seinen Mut zusammen, um Alaïs ihr Geschenk zu geben.

»Ich habe etwas für Euch«, sagte er schüchtern und schob ihr unvermittelt das Päckchen in die Hand.

»Wie nett«, sagte sie. »Ist es von Esclarmonde?«

»Nein, von mir.«

»Was für eine schöne Überraschung. Darf ich es schon aufmachen?«

Sajhë nickte mit ernstem Gesicht, doch seine Augen strahlten vor Vorfreude, als Alaïs das Päckchen behutsam öffnete.

»Ach, Sajhë, das ist aber schön«, sagte sie und hielt das glänzende braune Garn hoch. »Es ist wunderschön.«

»Ich hab's nicht gestohlen«, sagte er rasch. »Na Marti hat es mir geschenkt. Ich glaube, sie wollte bei mir was wieder gutmachen.«

Kaum waren ihm die Worte entschlüpft, da bereute Sajhë sie auch schon.

»Was denn wieder gutmachen?«, fragte Alaïs sofort.

Genau in diesem Augenblick ertönte ein Ruf. Ein Mann, der in der Nähe stand, zeigte zum Himmel. Ein Schwarm großer schwarzer Vögel flog niedrig über die Cité hinweg, von Westen nach Osten, in Form eines Pfeils. Das Sonnenlicht schien von ihrem glänzenden dunklen Gefieder abzusprühen, wie Funken von einem Amboss. Irgendwer sagte, das sei ein Omen, doch niemand wusste, ob es ein gutes oder ein schlechtes war.

Sajhë hielt nichts von solchen abergläubischen Vorstellungen, aber heute befiel ihn trotzdem ein ungutes Gefühl. Alaïs schien es ähnlich zu gehen, denn sie legte den Arm um seine Schulter und zog ihn enger an sich.

»Was habt Ihr?«, fragte Sajhë.

»Res«, sagte sie zu schnell. Nichts.

Hoch über ihnen, gleichgültig gegenüber der Menschenwelt, setzten die Vögel ihren Weg fort, bis sie nur noch ein dunkler Fleck am Himmel waren.


Das Verlorene Labyrinth
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