Kapitel 72

 

Am Mittwoch, dem 16. März, versammelten sie sich im Morgengrauen hinter dem großen Tor von Montségur. Die Soldaten der Garnison beobachteten von den Brustwehren aus, wie die Kreuzfahrer, die gesandt worden waren, um die Bon Homes festzunehmen, den letzten Teil des Felsenpfades hinaufkletterten, der zu dieser frühen Stunde noch immer schlüpfrig vom Frost war.

Bertrande stand mit Sajhë und Rixende ganz vorn in der Menge. Es war alles sehr still.

Nach monatelangem unaufhörlichem Beschuss hatte sie sich jetzt, da mangomels und Katapulte schwiegen, noch immer nicht daran gewöhnt, dass das Geräusch verstummt war.

Die vergangenen zwei Wochen waren friedliche Tage gewesen. Für viele die letzten Tage. Sie hatten Ostern gefeiert. Die parfaits und einige parfaites hatten gefastet. Obwohl allen, die ihrem Glauben abschwören würden, die Begnadigung versprochen worden war, hatte sich fast die halbe Bevölkerung der Zitadelle, unter ihnen auch Rixende, entschlossen, das consolament zu empfangen. Sie wollten lieber als Bons Chrétiens sterben als besiegt unter der französischen Krone leben. Wer dazu verdammt war, für seinen Glauben zu sterben, hatte seine Habseligkeiten jenen vermacht, die dazu verdammt waren, ohne ihre Lieben weiterzuleben.

Bertrande hatte geholfen, Geschenke zu verteilen, Wachs, Pfeffer, Salz, Tuch, Schuhe, einen Geldbeutel, Beinkleider, sogar einen Filzhut.

Pierre-Roger de Mirepoix war mit einer Decke voller Münzen beschenkt worden. Andere hatten ihm Getreide und Kleidung gegeben, die er an seine Männer verteilen sollte. Marquesia de Lanatar hatte alles, was sie besaß, ihrer Enkelin Phillipa geschenkt, Pierre-Rogers Gemahlin.

Bertrande blickte in die Runde der stillen Gesichter und sprach ein lautloses Gebet für ihre Mutter. Alaïs hatte Rixendes Kleidung sorgfältig ausgewählt. Das dunkelgrüne Gewand und ein roter Mantel, der an den Rändern und am Saum mit einem komplizierten Muster aus blau-grünen Rechtecken und Karos und gelben Blüten bestickt war. Sie hatte Bertrande erklärt, dass sie genauso einen Mantel bei ihrer Hochzeit in der capèla Sant- Maria im Château Comtal getragen hatte. Alaïs war sicher, dass Oriane sich daran erinnern würde, trotz der vielen Jahre, die vergangen waren.

Vorsichtshalber hatte Alaïs außerdem noch einen Beutel aus Schafsleder gefertigt, der auf dem roten Mantel getragen wurde, eine Nachbildung des chemise, in dem jedes Buch der Labyrinth- Trilogie aufbewahrt wurde.

Bertrande hatte geholfen, ihn mit Stoff und Pergamentbögen zu füllen, sodass er zumindest auf einige Entfernung täuschend echt aussah. Sie verstand nicht ganz, wozu das alles dienen sollte, nur dass es wichtig war. Und sie war froh gewesen, dass sie dabei helfen durfte.

Bertrande streckte den Arm aus und nahm Sajhës Hand.

Die Oberhäupter der Katharerkirche, Bischof Bertrand Marty und Raymond Aiguilher, beide inzwischen alte Männer, standen ruhig da in ihren dunkelblauen Roben. Jahrelang hatten sie ihr geistliches Amt von Montségur aus ausgeübt, waren immer wieder von der Zitadelle aufgebrochen und hatten den credentes in den einsamen Bergdörfern und auf dem flachen Land das Wort gepredigt und ihnen Trost gebracht. Nun waren sie bereit, ihr Volk ins Feuer zu führen.

»Mamä wird nichts zustoßen«, flüsterte Bertrande, um Sajhë Mut zu machen, aber ebenso auch sich selbst. Sie spürte Rixendes Hand auf ihrer Schulter.

»Ich wünschte, du würdest nicht ...«

»Ich habe mich entschieden«, sagte Rixende rasch. »Ich bin entschlossen, in meinem Glauben zu sterben.«

»Was, wenn Mama ergriffen wird?«, flüsterte Bertrande. Rixende streichelte ihr Haar. »Wir können nichts tun außer beten.«

Bertrande merkte, dass ihr Tränen in die Augen schossen, als die Soldaten sie erreichten. Rixende hielt die Handgelenke hin, um sich fesseln zu lassen. Der junge Mann schüttelte den Kopf. Sie hatten nicht erwartet, dass sich so viele für den Tod entscheiden würden, und deshalb waren nicht genug Ketten für alle da.

Bertrande und Sajhë sahen schweigend zu, wie Rixende und die anderen durch das große Tor gingen und zum letzten Mal den steilen, gewundenen Bergpfad hinabstiegen. Zwischen den gedämpften Braun- und Grüntönen hob sich das Rot von Alaïs' Mantel leuchtend gegen den grauen Himmel ab.

Angeführt von Bischof Marty, begannen die Gefangenen zu singen. Montsegur war gefallen, aber sie waren nicht besiegt worden.

Bertrande wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, stark zu sein. Sie wollte ihr Möglichstes tun, um Wort zu halten.

 

Unten auf den Wiesen der tieferen Hänge waren Tribünen für die Zuschauer errichtet worden. Sie waren bis auf den letzten Platz besetzt. Die neue Oberschicht des Midi, französische Adelige, Kollaborateure, katholische Legaten und Inquisitoren, war der Einladung des Seneschalls von Carcassonne, Hugues des Ar- cis, gefolgt. Alle waren gekommen, um mitzuerleben, wie nach über dreißig Jahren Bürgerkrieg der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.

Guilhem hüllte sich tiefer in seinen Umhang, um nicht erkannt zu werden. Nach seinem lebenslangen Kampf gegen die Franzosen war sein Gesicht bekannt. Er konnte es sich nicht leisten, ergriffen zu werden. Unauffällig schaute er sich um.

Falls seine Informationen richtig waren, dann steckte Oriane irgendwo in dieser Menge. Er war entschlossen, sie von Alaïs fern zu halten. Nach all der Zeit genügte noch immer allein der Gedanke an Oriane, um seinen Zorn aufwallen zu lassen. Er ballte die Fäuste, brannte darauf zu handeln, statt sich verstellen oder warten zu müssen, brannte darauf, ihr einfach ein Messer ins Herz zu stoßen, wie er es schon vor dreißig Jahren hätte tun sollen. Doch Guilhem wusste, dass er sich in Geduld fassen musste. Wenn er jetzt zuschlug, würde er niedergestochen, bevor er sein Schwert ziehen könnte.

Er ließ den Blick über die Zuschauerreihen gleiten, bis er das Gesicht sah, das er suchte. Oriane saß in der Mitte der vordersten Reihe. Nichts erinnerte mehr an die Dame aus dem Süden. Sie war erlesen gekleidet, aber im strengeren, edleren Stil des Nordens. Ihr blauer Samtmantel mit Kapuze hatte einen Goldbesatz und einen dicken Hermelinkragen. Dazu trug sie passende Winterhandschuhe. Ihr Gesicht war zwar noch immer eindrucksvoll schön, aber es war hager geworden und hatte einen harten, verbitterten Ausdruck angenommen.

In ihrer Begleitung war ein junger Mann. Die Ähnlichkeit war groß, und Guilhem vermutete, dass es einer ihrer Söhne war. Er hatte gehört, dass Louis, der älteste, an dem Kreuzzug teilnahm. Er hatte Orianes Hautton und dunkle Locken und das Adlerprofil seines Vaters.

Ein Ruf erschallte. Guilhem wandte sich um und sah die Prozession der Gefangenen, die den Fuß des Berges erreicht hatten und jetzt auf den Scheiterhaufen zugetrieben wurden. Sie gingen ruhig und würdevoll. Sie sangen. Wie ein Engelschor, dachte Guilhem, als er sah, mit welch unbehaglicher Miene die Zuschauer auf den lieblichen Gesang reagierten.

Der Seneschall von Carcassonne, Hugues des Arcis, stand Schulter an Schulter mit dem Erzbischof von Narbonne. Auf sein Zeichen hin wurde ein goldenes Kreuz hoch in die Luft gehoben, und die Dominikanermönche und übrigen Geistlichen bewegten sich nach vorn, um sich vor der Palisade aufzustellen.

Hinter ihnen sah Guilhem eine Reihe von Soldaten mit brennenden Fackeln. Die Flammen flackerten und loderten in dem schneidenden, böigen Nordwind, und die Soldaten bemühten sich, so gut sie konnten, dass der Rauch nicht zu den Tribünen hinüberwehte.

Die Namen der Häretiker wurden einzeln aufgerufen. Sie traten vor und stiegen die Leitern zum Scheiterhaufen hoch. Guilhem war vor Entsetzen wie betäubt. Es quälte ihn, dass er die Hinrichtungen nicht verhindern konnte. Aber er wusste auch, dass er den Todgeweihten keinen Gefallen damit täte, selbst wenn er genug Männer bei sich hätte. Guilhem hatte viel Zeit in Gesellschaft der Bons Homes verbracht, umständehalber, nicht aus Glaubensgründen. Er bewunderte und achtete sie, aber er konnte nicht behaupten, dass er sie verstand.

Die Reisig- und Strohhaufen waren mit Pech getränkt worden. Ein paar Soldaten waren hinaufgeklettert und ketteten die par- faits und parfaites nun an die Pfähle in der Mitte.

Bischof Marty begann zu beten.

»Payre sant, Dieu dreiturier dels bons esperits.«

Nach und nach fielen andere Stimmen ein. Das Raunen wurde stärker, bis es zu einem lauten Sprechchor angeschwollen war. Die Zuschauer auf den Tribünen warfen einander peinlich berührte Blicke zu und wurden unruhig. So etwas hatten sie nicht sehen wollen.

Eilig gab der Erzbischof ein Zeichen, und die Geistlichen, deren schwarze Kutten im Wind flatterten, stimmten den Psalm an, der gleichsam zur Hymne des Kreuzzugs geworden war. Laut sangen sie die Worte Veni Spirite Sancti, bis sie die Gebete der Katharer übertönten.

Der Bischof trat vor und warf die erste Fackel hinter die Palisade. Die Soldaten taten es ihm gleich. Eine nach der anderen flogen die brennenden Fackeln hinein. Zunächst wollte das Feuer nicht recht in Gang kommen, doch schon bald wurde das Knistern und Prasseln laut und unüberhörbar. Die ersten Flammen züngelten wie Schlangen durch das Stroh, zuckten mal hierhin mal dorthin, blähten sich lodernd auf, wogten wie Schilf im Fluss.

Durch den Rauch hindurch sah Guilhem etwas, das sein Blut zu Eis gefrieren ließ. Ein roter Mantel, mit Blumen bestickt, ein dunkelgrünes Gewand, moosfarben. Er drängte sich bis ganz nach vorn.

Er konnte - wollte - seinen Augen nicht trauen.

Die Jahre fielen von ihm ab, und er sah sich selbst, den Mann, der er einmal gewesen war, als jungen chevalier, arrogant, stolz, selbstbewusst, wie er in der capela Sant-Maria kniete. Alaïs war an seiner Seite. Eine Hochzeit zu Weihnachten brachte Glück, wie manche sagten. Blühender Weißdorn auf dem Altar und flackernde rote Kerzen, als sie einander das Eheversprechen gaben. Guilhem rannte an der Rückseite der Tribüne vorbei, versuchte verzweifelt näher heranzukommen, sich zu vergewissern, dass sie es nicht war. Das Feuer war hungrig. Der widerwärtige, überraschend süßliche Geruch von brennendem Menschenfleisch trieb zu den Zuschauern hinüber. Die Soldaten traten zurück. Selbst die Geistlichen mussten sich ein Stück von dem lodernden Flammenmeer zurückziehen.

Blut zischte, als Fußsohlen aufplatzten und Gliedmaßen ins Feuer glitten, als würden Tiere am Spieß gebraten. Die Gebete schlugen um in Schreie.

Guilhem musste würgen, aber er blieb nicht stehen. Zum Schutz gegen den Ekel erregenden, beißenden Qualm hielt er sich den Mantel vor Mund und Nase und versuchte näher an die Palisade heranzukommen, doch die wirbelnden Rauchwolken nahmen ihm die Sicht.

Plötzlich erklang eine Stimme aus dem Feuer, klar und deutlich.

»Oriane!«

War das Alaïs' Stimme? Guilhem war sich nicht sicher. Mit den Händen schützend vor dem Gesicht, taumelte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

»Oriane!«

Diesmal antwortete jemand laut von der Tribüne her. Guilhem fuhr herum, und durch eine Lücke im Rauch sah er Orianes wutverzerrtes Gesicht. Sie war aufgesprungen und gestikulierte wild Richtung Wachen.

Guilhem wollte schon Alaïs ' Namen rufen, aber er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er war gekommen, um sie zu retten. Er war gekommen, weil er ihr helfen wollte, Oriane zu entkommen, so wie er ihr schon einmal geholfen hatte.

Jene drei Monate, die er nach der Flucht vor den Inquisitoren in Toulouse mit Alaïs verbracht hatte, waren die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Alaïs hatte nicht länger bleiben wollen, und er hatte sie nicht umstimmen, ihr nicht einmal entlocken können, warum sie wegwollte. Aber sie hatte gesagt - und Guilhem hatte ihr geglaubt -, dass sie, wenn diese schlimme Zeit vorüber wäre, wieder Zusammenkommen würden.

»Mon cor«, flüsterte er beinahe schluchzend.

Dieses Versprechen und die Erinnerung an die gemeinsamen Tage hatten ihn in den zehn langen, leeren Jahren aufrecht gehalten. Wie ein Licht in der Dunkelheit.

Guilhem spürte, wie sein Herz brach. »Alaïs

An dem roten Mantel brannte ein kleines weißes Lederpäckchen, ungefähr so groß wie ein Buch. Die Hände, die es gehalten hatten, gab es nicht mehr, nur noch Knochen und spritzendes Fett und verkohltes Fleisch.

Er wusste, ihm war nichts mehr geblieben.

Für Guilhem wurde die Welt plötzlich ganz still. Es gab keine Geräusche mehr, keinen Schmerz, nur noch eine helle weiße

Weite. Der Berg war verschwunden, der Himmel und der Rauch und die Schreie waren verschwunden. Alle Hoffnung war verschwunden.

Seine Beine trugen ihn nicht länger. Guilhem sank auf die Knie, und die Verzweiflung übermannte ihn.

 


Das Verlorene Labyrinth
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