Kapitel 81
Pic de Soularac

 

Marc 1244

 

Guilhem schaffte es nicht, Alaïs einzuholen. Ihr Vorsprung war zu groß. Er taumelte den dunklen Gang entlang. Stechende Schmerzen jagten ihm durch die Seite, und die gebrochenen Rippen machten ihm das Atmen schwer. Alaïs' Worte, die ihm durch den Kopf wirbelten, und die Angst, die sich in seiner Brust verfestigte, trieben ihn weiter.

Die Luft schien kälter zu werden, eisig, als würde das Leben aus der Höhle gesaugt. Er verstand es nicht. Wenn das hier ein heiliger Ort war, die Labyrinth-Höhle, wieso hatte er dann das Gefühl, dass ihn etwas Böses umfing?

Plötzlich gelangte er auf eine steinerne Plattform. Ein paar breite, flache Stufen direkt vor ihm führten zu einem Bereich hinunter, wo der Boden eben und glatt war. Eine calelh brannte auf dem Steinaltar und warf ein wenig Licht.

Die beiden Schwestern standen einander gegenüber, und Oriane hielt Bertrande noch immer das Messer an die Kehle. Alaïs war völlig reglos.

Guilhem duckte sich, betete, dass Oriane ihn nicht gesehen hatte. Ganz leise schob er sich im Schatten an der Wand entlang, bis er hören und sehen konnte, was sich zwischen den beiden abspielte.

Oriane warf Alaïs etwas vor die Füße.

»Nimm ihn«, schrie sie. »Öffne das Labyrinth. Ich weiß, dass das Buch der Wörter dort versteckt ist.«

Guilhem sah, wie Alaïs' Augen sich vor Verblüffung weiteten. Voller Scham bemerkte er Orianes hochmütige Miene.

»Hast du denn nie das Buch der Zahlen gelesen? Du erstaunst mich, Schwester. Darin findet sich die Erklärung für den Schlüssel.«

Alaïs zögerte.

»Der Ring mit dem eingefügten merel darin öffnet die Kammer im Herzen des Labyrinths.«

Oriane riss Bertrande den Kopf nach hinten, sodass die Haut am Hals straff gespannt wurde. Die Klinge blitzte im Licht.

»Tu es, Schwester, sofort.«

Bertrande schrie auf. Das Geräusch war für Guilhem wie ein Messerstich in den Kopf. Er sah zu Alaïs hinüber, die mit finsterer Miene dastand. Ihr verletzter Arm hing schlaff und nutzlos herab.

»Erst musst du sie gehen lassen«, sagte sie.

Oriane schüttelte den Kopf. Ihr Haar hatte sich gelöst, und ihre Augen waren wild, besessen. Sie hielt Alaïs' Blick fest und ritzte Bertrande dann langsam mit voller Absicht die Haut.

Wieder schrie Bertrande auf, und Blut rann ihr am Hals hinab. »Der nächste Schnitt wird tiefer«, sagte Oriane mit vor Hass bebender Stimme. »Hol endlich das Buch.«

Alaïs bückte sich und hob den Ring auf, dann trat sie vor das Labyrinth. Oriane folgte ihr, zerrte Bertrande mit sich. Alaïs hörte ihre Tochter immer schneller atmen, als würde sie langsam das Bewusstsein verlieren, während sie auf den noch immer gefesselten Füßen nach vorne taumelte.

Sie blieb kurz stehen und ließ ihre Gedanken zu dem Augenblick zurückwandern, als sie zum ersten Mal sah, wie Harif dieselbe Handlung vollzog.

Alaïs legte die linke Hand an das raue Steinlabyrinth. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den verletzten Arm. Sie brauchte keine Kerze, um das ägyptische Symbol des Lebens zu sehen, das Anch genannt wurde, wie sie von Harif gelernt hatte.

Sie drehte den Rücken so, dass Oriane nicht sehen konnte, was sie tat. Dann schob sie den Ring in eine kleine Öffnung unten am Mittelkreis des Labyrinths, direkt vor ihrem Gesicht. Um Bert- rande willen betete sie inbrünstig, dass es funktionieren würde. Nichts war so gesprochen, nichts so vorbereitet worden, wie es hätte sein sollen. Die Umstände konnten sich gar nicht stärker von damals unterscheiden, dem einzigen Mal, dass sie als Bittende vor dem Steinlabyrinth gestanden hatte.

»Dai Anch dschet«, murmelte sie. Die uralten Worte waren wie Asche in ihrem Mund. Ein deutliches Klicken war zu hören, wie ein Schlüssel im Schloss. Einen Augenblick lang tat sich nichts. Dann drang aus der Tiefe der Wand ein Geräusch, als bewegte sich Stein gegen Stein.

Alaïs trat beiseite, und Guilhem sah in dem Dämmerlicht, dass sich genau in der Mitte des Labyrinths eine Art Nische geöffnet hatte.

»Nimm es heraus«, befahl Oriane. »Leg es auf den Altar.«

Alaïs tat wie geheißen, ohne die Augen vom Gesicht ihrer Schwester zu nehmen.

»Und jetzt lass sie los. Du brauchst sie nicht mehr.«

»Schlag es auf«, schrie Oriane. »Ich will sichergehen, dass du mich nicht betrügst.«

Guilhem schob sich noch näher heran. Auf der ersten Seite war ein goldschimmerndes Symbol, das er noch nie gesehen hatte. Ein Oval, fast tropfenförmig, über einer Art Kreuz, so ähnlich wie ein Hirtenstab.

»Weiter«, sagte Oriane. »Ich will alles sehen.«

Alaïs' Hand zitterte, als sie die Seiten umblätterte. Guilhem sah seltsame Zeichnungen und Linien, Reihe um Reihe mit dicht gedrängten Symbolen, die das gesamte Blatt bedeckten.

»Nimm es, Oriane«, sagte Alaïs, bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten. »Nimm das Buch, und gib mir meine Tochter zurück.« Guilhem sah die Klinge aufblitzen. Plötzlich wusste er, was geschehen würde, den Bruchteil einer Sekunde, bevor es geschah.

Er wusste, dass Oriane aus Neid und Bitterkeit alles zerstören würde, was Alaïs liebte oder schätzte.

Er warf sich gegen Oriane und riss sie zur Seite. Er spürte, wie seine Rippen nachgaben, und hätte vor Schmerzen fast das Bewusstsein verloren, aber er hatte sie mit solcher Wucht getroffen, dass sie Bertrande losließ.

Das Messer fiel ihr aus der Hand und schlitterte in den Schatten hinter dem Altar. Bertrande wurde bei dem Zusammenprall nach vorn geschleudert, schlug mit dem Kopf auf die Ecke des Altars und sackte sofort zusammen.

»Guilhem, nimm Bertrande«, schrie Alaïs. »Sie ist verletzt, Sajhë ist verletzt. Hilf ihnen. Im Dorf wartet ein Mann namens Harif. Er wird dir helfen.«

Guilhem zögerte.

»Bitte, Guilhem. Rette sie!«

Ihre letzten Worte gingen fast unter, als Oriane taumelnd wieder auf die Beine kam. Sie hatte wie durch ein Wunder das Messer wieder in der Hand und warf sich auf Alaïs. Die Klinge schnitt ihr tief in den bereits verletzten Arm.

Guilhem hatte das Gefühl, als zerrisse ihm das Herz in der Brust. Er wollte Alaïs nicht mit Oriane allein lassen, aber er sah auch, dass Bertrande bleich und reglos auf dem Boden lag.

»Bitte, Guilhem. Schnell!«

Mit einem letzten Blick zu Alaïs hob er seine Tochter auf, versuchte, möglichst nicht auf das Blut zu achten, das aus der Wunde strömte, und lief los. Genau wie Alaïs es wollte.

Als er schwerfällig durch die Kammer taumelte, hörte er ein Grollen, wie Donner zwischen den Bergen. Er strauchelte und glaubte schon, seine Beine könnten ihn nicht mehr tragen. Er lief weiter, erreichte die oberste Stufe und den Tunnel, obwohl er auf losen Steinen ausrutschte und ihm die Beine und Arme vor Schmerz brannten. Dann wurde ihm klar, dass der Boden sich bewegte, vibrierte. Die Erde unter seinen Füßen bebte.

Er hatte fast keine Kraft mehr. Bertrande hing schlaff in seinen Armen und schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Und das grollende Geräusch wurde lauter, während er sich weiterkämpfte. Staub und erste Felsstücke lösten sich aus der Decke und fielen herab.

Jetzt konnte er die frische Luft spüren, die ihn begrüßte. Noch ein paar Schritte, und er war wieder draußen in der grauen Dämmerung.

 

Guilhem lief zu Sajhë, der noch immer bewusstlos war, jedoch gleichmäßig atmete.

Bertrande war totenblass, aber sie begann zu wimmern und sich in seinen Armen zu bewegen. Er legte sie neben Sajhë auf den Boden. Dann lief er zu den toten Soldaten, zerrte jedem den Mantel vom Rücken, um die beiden damit zuzudecken. Schließlich riss er sich den eigenen Mantel von den Schultern, so heftig, dass die Fibel aus Silber und Kupfer im hohen Bogen in den Schmutz flog. Er rollte ihn zusammen und schob ihn als Kissen unter Bertrandes Kopf.

Er zögerte kurz und küsste seine Tochter auf die Stirn.

»Filha«, murmelte er. Es war der erste Kuss, den er ihr gab, und es würde der letzte sein.

Ein gewaltiges Krachen war aus der Höhle zu hören, wie ein Blitzschlag nach dem Donnergrollen. Guilhem eilte zurück in den Tunnel. In dem engen Raum war das Geräusch ohrenbetäubend.

Er merkte, dass ihm etwas aus der Dunkelheit entgegengestürzt kam.

»Ein Geist ... ein Gesicht«, stammelte Oriane, die Augen halb wahnsinnig vor Angst. »Ein Gesicht in der Mitte des Labyrinths.«

»Wo ist sie?«, schrie er und packte ihren Arm. »Was habt Ihr mit Alaïs gemacht?«

Oriane hatte überall Blut, an den Händen, an der Kleidung.

»Da sind Gesichter im ... Labyrinth.«

Oriane schrie kreischend auf. Guilhem fuhr herum, um zu sehen, was hinter ihm war, konnte aber nichts erkennen. Und im selben Augenblick stieß Oriane ihm das Messer in die Brust.

Er wusste, dass sie ihm einen tödlichen Stoß versetzt hatte. Er spürte sofort, wie der Tod sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Augen trübten sich, und er sah sie wie durch Wolken von ihm weglaufen. Aber er spürte auch, wie die Rachsucht in ihm starb. Sie war nicht mehr wichtig.

Oriane lief in das graue Licht des vergehenden Tages, während Guilhem blind hinunter zur Kammer torkelte, von dem einzigen Gedanken beseelt, Alaïs in dem Chaos aus Felsen und Steinen und Staub zu finden.

Sie lag in einer kleinen Senke im Boden, die Finger um den Beutel geschlungen, der das Buch der Wörter enthalten hatte, den Ring fest in der Hand umklammert.

»Mon cer«, flüsterte er.

Beim Klang seiner Stimme öffneten sich ihre Augen flackernd. Sie lächelte, und Guilhem wurde warm ums Herz.

»Bertrande?«

»Sie ist in Sicherheit.«

»Sajhë

»Auch er wird überleben.«

Ihr Atem stockte. »Oriane ...«

»Ich habe sie laufen lassen. Sie ist schwer verletzt und wird nicht weit kommen.«

Die letzte Flamme der Lampe, die noch immer auf dem Altar brannte, flackerte und erstarb. Alaïs und Guilhem merkten es nicht. Sie lagen sich in den Armen und nahmen weder die Dunkelheit noch den Frieden wahr, der sich über die Kammer senkte. Sie spürten nichts außer einander.


Das Verlorene Labyrinth
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