Kapitel 39
Carcassonne

 

Mittwoch, 6. Juli 2005

 

Alice schwamm zwanzig Bahnen im Swimmingpool des Hotels und frühstückte dann auf der Terrasse, wobei sie zusah, wie die Sonnenstrahlen über die Baumwipfel schlichen. Um halb zehn stand sie in der Schlange vor dem Chateau Comtal und wartete auf den Einlass. Sie bezahlte und bekam eine Broschüre über die Geschichte des Schlosses.

An zwei Stellen der Brustwehr waren hölzerne Aussichtsplattformen errichtet worden, rechts vom Tor und rund um den hufeisenförmigen Tour des Casernes herum, wie der Ausguck an einem Schiffsmast.

Als sie durch die eindrucksvolle, aus Metall und Holz gefertigte Doppeltür des östlichen Wachhauses trat, senkte sich eine seltsame Ruhe über sie.

Der Cour d'Honneur lag größtenteils im Schatten. Schon jetzt waren viele Besucher wie sie hier, schlenderten umher, lasen und sahen sich um. Zur Zeit der Trencavels hatte eine Ulme in der Mitte des Hofes gestanden, unter der drei Generationen von Vicomtes Recht gesprochen hatten. Die Ulme war nicht mehr da, ersetzt durch zwei vollkommen harmonische Platanen, die nun ihre Schatten auf die Westmauer des Hofes warfen, als die Sonne über die zinnenbewehrte Mauer gegenüber lugte.

Die hinterste nördliche Ecke des Cour d'Honneur lag bereits in der prallen Sonne. Ein paar Tauben nisteten über den leeren Türeingängen und in Mauer spalten und auf den verlassenen Bögen des Tour du Major und des Tour du Degré. Ein Erinnerungsblitz - das Gefühl einer groben Holzleiter, die Sprossen mit Stricken festgebunden, wie ein Lausbub von Stockwerk zu Stockwerk klettern.

Alice blickte auf, versuchte im Kopf das, was sie vor Augen hatte, von der körperlichen Empfindung in ihren Fingerspitzen zu trennen.

Es gab wenig zu sehen.

Und dann überkam sie ein fürchterliches Gefühl des Verlustes. Trauer legte sich wie eine Faust um ihr Herz.

Hier hat er gelegen. Hier hat sie um ihn geweint.

Alice blickte nach unten. Zwei erhabene Bronzelinien auf der Erde markierten die Stelle, wo einmal ein Gebäude gewesen war, mit einer in den Boden eingelassenen Schrifttafel. Sie ging in die Hocke und las, dass sich hier einmal die Kapelle des Chateau Comtal befunden hatte, die der Sainte-Marie geweiht war. Santa-Maria.

Nichts war geblieben.

Alice schüttelte den Kopf, aufgewühlt von der Macht ihrer Gehle. Die Welt, die vor achthundert Jahren bestanden hatte, unter diesem hohen Himmel des Südens, existierte noch immer, nur unter der Oberfläche. Sie hatte das starke Gefühl, dass jemand dicht hinter ihr stand, als ob sich die Grenze zwischen ihrer Gegenwart und der Vergangenheit eines anderen Menschen auflöste.

Sie schloss die Augen, sperrte die modernen Farben und Formen und Klänge aus, stellte sich die Menschen vor, die hier gelebt hatten, gab ihren Stimmen Raum, zu ihr zu sprechen.

Hier hatte man einmal gut leben können. Flackernde rote Kerzen auf einem Altar, blühender Weißdorn, Hände bei der Trauung vereint.

Die Stimmen anderer Besucher holten Alice zurück in die Gegenwart, und die Vergangenheit verklang, als sie ihren Rundgang fortsetzte. Jetzt war sie im Innern des Châteaus, sie sah die hölzernen Galerien entlang der Brustwehre, die nach hinten hin offen waren. In den Mauern waren wieder diese kleinen, tiefen, viereckigen Löcher, die ihr schon am Vorabend bei ihrem Gang über die Lices aufgefallen waren. Der Broschüre entnahm sie, dass in ihnen die Balken gesteckt hatten, von denen die oberen Stockwerke getragen worden waren.

Alice schaute auf die Uhr und stellte erfreut fest, dass sie noch Zeit hatte, sich das Museum anzusehen, ehe sie zu ihrem Termin musste. Die Räume aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die einzigen, die noch von den ursprünglichen Bauten erhalten waren, beherbergten eine Sammlung von steinernen Altären, Säulen, Kragsteinen, Brunnen und Gräbern aus römischer Zeit bis ins 15. Jahrhundert.

Sie schlenderte herum, war aber nicht sonderlich gefesselt. Die mächtigen Empfindungen, die sie im Hof übermannt hatten, waren verschwunden, doch sie spürte seitdem eine leichte Unruhe. Sie folgte den Pfeilen durch die Räume, bis sie im Runden Zimmer ankam, das trotz des Namens rechteckig war.

Die Nackenhaare sträubten sich ihr. Der Raum hatte eine Tonnengewölbedecke, und auf den beiden Längswänden waren die Überreste eines Freskos zu sehen, das eine Schlachtszene zeigte. Das dazugehörige Schild klärte sie darüber auf, dass Bernard Aton Trencavel, der am Ersten Kreuzzug teilgenommen und in Spanien gegen die Mauren gekämpft hatte, das Fresko Ende des 11. Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte. Unter den Fabeltieren und Vögeln, die das Fries bevölkerten, waren ein Leopard, ein Zebu, ein Schwan, ein Stier und etwas, das aussah wie ein Kamel.

Alice bewunderte die himmelblaue Decke, verblasst und rissig, aber noch immer schön. Auf dem Wandbild zu ihrer Linken kämpften zwei chevaliers gegeneinander. Der schwarz gekleidete hielt einen runden Schild und war dazu verdammt, für alle Zeit unter der Lanze des anderen zu fallen. Auf der Wand gegenüber spielte sich ein Kampf zwischen acht Sarazenen und christ- liehen Rittern ab. Sie war besser erhalten und vollständiger, und Alice trat näher, um sich das Ganze genauer anzusehen. In der Mitte drangen zwei Kämpfer aufeinander ein, der eine auf einem ockerfarbenen Pferd, der andere, der christliche Ritter, saß auf einem weißen Pferd und hielt einen mandelförmigen Schild. Ohne nachzudenken, hob Alice die Hand, um das Bild zu berühren. Die Aufseherin schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf.

Als Letztes, bevor sie das Schloss verließ, besichtigte sie einen kleinen Garten, der vom Haupthof abging, der Cour du Midi. Die Gebäude drum herum waren verfallen, nur die hohen Bogenfenster hielten die Erinnerung wach. Grüne Efeuranken und andere Pflanzen wanden sich durch die hohlen Säulen und Risse in den Mauern. Über allem lag ein Hauch von vergangener Pracht.

Als sie nach einem Rundgang wieder in die Sonne zurückkehrte, war Alice nicht mehr von einem Gefühl der Trauer erfüllt, sondern der Reue.

 

Die Straßen der Cité waren noch belebter, als Alice aus dem Chateau Comtal kam.

Sie hatte noch immer ein wenig Zeit bis zu ihrem Termin bei der Anwältin, daher ging sie in die entgegengesetzte Richtung als am Abend zuvor und gelangte zur Place Saint-Nazaire, die von der Basilika beherrscht wurde. Zunächst jedoch verweilte ihr Blick auf der Fin-de-Siècle-Fassade des Hôtel de la Cité, die dezent und eindrucksvoll zugleich war. Von Efeu umrankt, mit schmiedeeisernen Toren, Bogenfenstern mit Bleiglas und mit tiefroten Markisen von der Farbe reifer Kirschen, roch es förmlich nach Geld.

Während Alice davor stand, glitten die Türen auf und gewährten ihr einen Blick auf die holzvertäfelten und mit Teppichen behängten Wände. Eine Frau kam heraus. Groß, mit hohen Wangenknochen und makellos geschnittenem schwarzen Haar, das von einer goldgeränderten Sonnenbrille aus dem Gesicht gehalten wurde. Ihre blassbraune, ärmellose Bluse und die passende Hose schienen zu schimmern und das Licht zu spiegeln, wenn sie sich bewegte. Sie trug einen goldenen Armreif am Handgelenk und eine eng anliegende Kette um den Hals, und sie sah aus wie eine ägyptische Prinzessin.

Alice war sicher, dass sie die Frau schon einmal gesehen hatte. In einer Illustrierten oder irgendeinem Film. Oder vielleicht im Fernsehen?

Die Frau stieg in einen Wagen. Alice sah dem Auto nach, bis es verschwunden war, dann ging sie zum Portal der Basilika. Eine Bettlerin stand davor, eine Hand ausgestreckt. Alice kramte in ihrer Tasche, drückte der Frau eine Münze in die Hand und wollte dann hineingehen.

Als ihre Hand schon an der Tür war, erstarrte sie. Es kam ihr vor, als stünde sie in einem Tunnel aus kalter Luft.

Sei nicht albern.

Alice versuchte sich einen Ruck zu geben, entschlossen, derlei irrationalen Gefühlen nicht nachzugeben. Doch das gleiche Grauen, das sie in Saint-Etienne in Toulouse erfasst hatte, hielt sie zurück.

Sie entschuldigte sich bei den Leuten hinter ihr, trat zur Seite und sank auf einen schattigen Steinsims neben dem Nordportal. Was zum Teufel ist bloß mit mir los?

Ihre Eltern hatten sie beten gelehrt. Als sie alt genug war, um sich zu fragen, warum es das Böse in der Welt gibt, und feststellte, dass die Kirche ihr keine hinreichende Antwort geben konnte, hatte sie sich das Beten selbst wieder abgewöhnt. Aber sie erinnerte sich noch an das Gefühl von Sinnhaftigkeit, das die Religion vermitteln kann. Die Gewissheit, die Aussicht auf Erlösung, die irgendwo jenseits der Wolken liegt, das war ihr nie ganz abhanden gekommen. Wenn sie Zeit hatte, hielt sie es mit Philip Larkin und ging in eine Kirche. Sie fühlte sich in Kirchen geborgen. Sie weckten in ihr ein Gefühl von Geschichte, von einer gemeinsamen Vergangenheit, die durch die Architektur, die Fenster, das Chorgestühl zu ihr sprach.

Aber hier nicht.

In diesen katholischen Kathedralen des Midi empfand sie nicht Frieden, sondern Bedrohung. Der Geruch von Bosheit und Hass schien aus diesen Steinen zu sickern. Sie blickte hinauf zu den scheußlichen Fratzen, die auf sie niedergrinsten, sah ihre entstellten Mäuler, verzerrt und höhnisch.

Rasch stand Alice auf und verließ den Platz. Immer wieder blickte sie sich um, sagte sich, dass sie sich das bloß einbildete, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand ihr folgte.

Das ist reine Einbildung.

Auch als sie die Cité verließ und die Rue Trivalle hinab zur Unterstadt ging, blieb sie nervös. Sosehr sie auch versuchte, sich zu beruhigen, sie war sicher, dass sie verfolgt wurde.

 

Die Kanzlei von Daniel Delagarde lag in der Rue George Brassens. Das Messingschild an der Wand glänzte im Sonnenlicht. Alice war etwas zu früh für ihren Termin und nahm sich daher die Zeit, die Namen zu studieren, bevor sie hineinging. Karen Fleury war eine von nur zwei Frauen in der Kanzlei.

Alice stieg die grauen Steinstufen hoch, öffnete die Glastür und betrat einen gefliesten Empfangsbereich. Hinter einem auf Hochglanz polierten Mahagonitisch saß eine Sekretärin, bei der Alice sich anmeldete und die sie ins Wartezimmer schickte. Die Stille war bedrückend. Ein etwas bäurisch aussehender Mann Ende fünfzig nickte ihr zu, als sie eintrat. Ausgaben von Paris Match, Immo Média und ein paar alte Vogwe-Exemplare lagen ordentlich gestapelt auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes. Auf einem weißen Kaminsims stand eine vergoldete Uhr und im Kamin selbst eine eckige Glasvase mit Sonnenblumen.

Alice setzte sich in einen schwarzen Ledersessel direkt am Fenster und tat so, als würde sie lesen.

»Ms. Tanner? Karen Fleury. Schön, dass Sie da sind.«

Alice stand auf und fand die Frau auf Anhieb sympathisch. Ms. Fleury war Mitte dreißig, trug einen strengen schwarzen Hosenanzug mit weißer Bluse und strahlte Kompetenz aus. Ihre gepflegten blonden Haare waren kurz geschnitten. Um den Hals hatte sie ein Goldkettchen mit Kreuz.

»Meine Beerdigungsgarderobe«, sagte sie, als sie Alice' Blick bemerkte. »Sehr heiß bei diesem Wetter.«

»Kann ich mir vorstellen.«

Sie hielt für Alice die Tür auf. »Sollen wir?«

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragte Alice, als sie durch ein zunehmend unelegant wirkendes Wirrwarr von Gängen marschierten.

»Wir sind vor zwei Jahren hierher gezogen. Mein Mann ist Franzose. Hier in der Gegend lassen sich jede Menge Engländer nieder, die alle juristische Beratung brauchen. Ich kann mich also über mangelnde Arbeit nicht beklagen.«

Karen führte sie in ein kleines Büro im rückwärtigen Teil des Gebäudes.

»Wunderbar, dass Sie persönlich herkommen konnten«, sagte sie und forderte Alice mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Ich hatte gedacht, wir müssten das meiste telefonisch regeln.«

»Das hat sich so ergeben. Kurz nachdem ich Ihren Brief bekommen hatte, hat mich eine Freundin, die in der Nähe von Foix arbeitet, eingeladen, sie zu besuchen. Die Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen.« Sie stockte. »Und außerdem, angesichts der Größe und Art des Erbes hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich wenigstens herkommen müsste.«

Karen lächelte. »Nun, aus meiner Sicht vereinfacht es die Dinge und beschleunigt das Ganze auch.« Sie nahm einen braunen Umschlag. »Nach dem, was Sie mir am Telefon erzählt haben, wissen Sie anscheinend nicht viel über Ihre Tante.«

Alice verzog das Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich hatte noch nie von ihr gehört. Ich hatte keine Ahnung, dass Dad überhaupt lebende Verwandte hatte, ganz zu schweigen eine Halbschwester. Ich hab immer gedacht, meine Eltern wären beide Einzelkinder gewesen. Bei irgendwelchen Weihnachts- oder Geburtstagsfeiern waren jedenfalls nie Tanten oder Onkel dabei.«

Karen warf einen Blick auf ihre Notizen. »Sie haben Ihre Eltern vor einigen Jahren verloren.«

»Sie starben bei einem Autounfall, als ich siebzehn war«, sagte Alice. »Im Mai 1993. Kurz vor meiner Abschlussprüfung.«

»Wie furchtbar.«

Alice nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

»Sie haben keine Geschwister?«

»Nein. Meine Eltern haben zu spät mit Kinderkriegen angefangen. Sie waren beide schon relativ alt, als ich zur Welt kam. Über vierzig.«

Karen nickte. »Nun, unter den gegebenen Umständen, denke ich, ist es am besten, wenn ich kurz alles zusammenfasse, was ich hier in den Unterlagen über den Besitz Ihrer Tante und ihr Testament habe. Wenn wir hier fertig sind, können Sie sich das Haus ja ansehen, wenn Sie möchten. Es ist in Salleles d'Aude, einem kleinen Ort gut eine Autostunde von hier entfernt.«

»Einverstanden.«

»Also, was ich hier habe«, begann Karen und klopfte auf die Akte, »ist ziemlich trockenes Zeug, Namen und Daten und so weiter. Im Haus selbst können Sie sich anhand der privaten Papiere und der persönlichen Sachen bestimmt ein besseres Bild davon machen, was Ihre Tante für ein Mensch war. Schauen Sie sich in Ruhe alles an und entscheiden Sie dann, ob wir das Haus räumen lassen sollen oder ob Sie das lieber selbst erledigen möchten. Wie lange bleiben Sie?«

»Eigentlich bis Sonntag, aber ich überlege, ob ich nicht noch länger bleibe. Ich muss nicht unbedingt schon zurück.«

Karen nickte und überflog dabei ihre Notizen.

»Also, fangen wir an. Grace Alice Tanner war die Halbschwester Ihres Vaters. Sie wurde 1912 in London geboren, als jüngstes und einziges überlebendes Kind von fünfen. Zwei andere Mädchen starben im Säuglingsalter, und die beiden Jungen fielen im Ersten Weltkrieg. Ihre Mutter verstarb« - sie hielt inne und fuhr mit dem Finger über die Seite, bis sie fündig wurde - »1928 nach langer Krankheit, und die Familie brach auseinander. Grace verließ damals das Elternhaus, und ihr Vater zog aus der Gegend weg und heiratete später erneut. Aus dieser Ehe ging nur ein Kind hervor, Ihr Vater, der im Jahr nach der Hochzeit zur Welt kam. Soweit ich das anhand der Unterlagen beurteilen kann, scheint es von da an wenig oder gar keinen Kontakt zwischen Miss Tanner und ihrem Vater - also Ihrem Großvater - gegeben zu haben.«

»Ich wusste das alles nicht, aber halten Sie es für wahrscheinlich, dass mein Vater von der Existenz seiner Halbschwester wusste?«

»Keine Ahnung. Aber ich würde vermuten, dass er es nicht wusste.«

»Aber Grace wusste eindeutig von ihm.«

»Ja, obwohl ich auch nicht weiß, wie und wann sie es herausgefunden hat. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie von Ihnen wusste. 1993, nach dem Tod Ihrer Eltern, hat sie nämlich ihr Testament geändert und Sie als Alleinerbin eingesetzt. Damals lebte sie schon eine ganze Weile in Frankreich.«

Alice runzelte die Stirn. »Wenn sie von mir wusste und auch, was mit meinen Eltern passiert war, dann verstehe ich nicht, warum sie keinen Kontakt zu mir aufgenommen hat.«

Karen zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sie gedacht, es wäre Ihnen nicht recht. Wir wissen ja nicht, was zu dem Bruch in der Familie geführt hat, und womöglich hat sie gedacht, Ihr Vater hätte schlecht von ihr gesprochen und Sie wären ihr gegenüber voreingenommen. Aus Angst vor Zurückweisung — was nicht selten berechtigt ist - melden die Betreffenden sich dann lieber nicht. Ist der Kontakt erst einmal abgebrochen, ist es oft sehr schwierig, den Schaden zu beheben.«

»Sie haben das Testament wohl nicht aufgesetzt?«

Karen lächelte. »Nein, das war weit vor meiner Zeit. Aber ich habe mit dem Kollegen gesprochen, der das gemacht hat. Er ist jetzt im Ruhestand, aber er erinnert sich an Ihre Tante. Sie war sehr sachlich, ohne viel Getue oder Gefühlsduselei. Sie wusste ganz genau, was sie wollte, und zwar, dass alles an Sie gehen soll.«

»Dann wissen Sie auch nicht, wie es gekommen ist, dass sie hier in Frankreich gelebt hat?«

»Leider nein.« Sie hielt kurz inne. »Aus unserer Sicht ist die Sachlage ziemlich klar. Also, wie gesagt, ich halte es für das Beste, wenn Sie sich das Haus einfach ansehen. Vielleicht finden Sie ja so etwas mehr über sie heraus. Und wenn Sie ein paar Tage länger bleiben, können wir uns Ende der Woche noch einmal treffen. Morgen und Freitag bin ich im Gericht, aber wenn es Ihnen recht ist, können wir gerne für Samstagmorgen einen Termin machen.« Sie stand auf und streckte Alice die Hand entgegen. »Geben Sie doch meiner Sekretärin Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben.«

»Ich würde auch gerne ihr Grab besuchen, wo ich schon hier bin.«

»Selbstverständlich. Ich lasse Ihnen die entsprechenden Angaben heraussuchen. Wenn ich mich recht entsinne, waren die Umstände ein wenig ungewöhnlich.« Sie gingen aus dem Zimmer, und Karen blieb am Schreibtisch ihrer Sekretärin stehen. »Dominique, tu peux me trouver le numéro du lot de cimetière de Madame Tanner? La cimetière de la Cité. Merci.«

»Inwiefern ungewöhnlich?«

»Madame Tanner wurde nicht in Sallèles d'Aude beigesetzt, sondern hier in Carcassonne, auf dem Friedhof vor den Mauern der Cité, im Familiengrab einer Freundin.« Karen nahm ein Blatt von ihrer Sekretärin entgegen und überflog es kurz. »Genau, jetzt fällt's mir wieder ein. Jeanne Giraud, eine Einheimische, obwohl irgendwie nichts darauf hindeutete, dass die beiden Frauen sich überhaupt gekannt hatten. Ich habe hier Madame Girauds Anschrift und die Angaben, wo sich die Grabstätte befindet.«

»Vielen Dank. Ich melde mich.«

»Dominique bringt Sie zum Ausgang«, lächelte Karen. »Sagen Sie mir Bescheid, wie es weitergehen soll.«


Das Verlorene Labyrinth
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