Kapitel 3

 

Intendant Pelletier war in einem der Lagerräume im Keller neben der Küche und hatte gerade die wöchentliche Überprüfung der Korn- und Mehlvorräte erledigt. Er war erleichtert, nirgendwo Schimmel entdeckt zu haben.

Bertrand Pelletier stand seit über achtzehn Jahren im Dienst des Vicomte Trencavel. Es war zu Beginn des kalten neuen Jahres 1191 gewesen, als er in seine Heimatstadt Carcassonne zurückgekehrt war, um die Position des Intendant - des Haushofmeisters - für den neunjährigen Raymond-Roger, den Erben der Trencavel-Ländereien, anzutreten. Er hatte auf das Angebot gewartet und es gern angenommen. Seine schwangere französische Frau und seine zweijährige Tochter hatte er mitgebracht. Die Kälte und Nässe von Chartres waren nie nach seinem Geschmack gewesen.

Er hatte einen frühreifen Jungen vorgefunden, der den Verlust seiner Eltern betrauerte und sich schwer tat, die Verantwortung zu tragen, die auf seinen jungen Schultern lastete. Seitdem stand Pelletier dem Vicomte Trencavel zur Seite, zuerst am Hofe von Raymond-Rogers Vormund, Bertrand de Saissac, dann unter der Protektion des Comte von Foix.

Als Raymond-Roger volljährig wurde und in das Chateau Comtal zurückkehrte, um seinen rechtmäßigen Platz als Vicomte von Carcassonne, Beziers und Albi einzunehmen, war Pelletier mitgekommen.

Als Haushofmeister war Pelletier für den reibungslosen Ablauf der Hofhaltung verantwortlich. Er befasste sich auch mit Verwaltung, Rechtsprechung und dem Eintreiben von Steuern, die im Namen des Vicomte von den Consuln erhoben wurden, den Männern, die die Angelegenheiten der Stadt Carcassonne gemeinsam regelten. Wichtiger jedoch war seine Stellung als anerkannter Vertrauter, Berater und Freund des Vicomte. Niemand hatte mehr Einfluss als er.

Das Chateau Comtal war voller hoch gestellter Gäste, und täglich trafen weitere ein. Die Seigneurs der bedeutendsten Châteaux im Herrschaftsbereich der Trencavel mitsamt ihren Gemahlinnen, die tapfersten und berühmtesten chevaliers des Südens, die besten Spielmänner und Troubadoure - alle waren sie zum traditionellen Sommerturnier geladen worden, das wie jedes Jahr Ende Juli zur Feier des Festtags von Sant-Nasari stattfand. In Anbetracht des drohenden Krieges, dessen Schatten nun schon seit gut einem Jahr über ihnen hing, war der Vicomte fest entschlossen, seinen Gästen ein unvergessliches Vergnügen zu bescheren. Es sollte das denkwürdigste Turnier seiner Herrschaft werden.

Pelletier wiederum war fest entschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen. Er verriegelte die Tür zum Kornlager mit einem der vielen schweren Schlüssel, die er an einem Metallring am Gürtel trug, und ging weiter den Gang hinunter.

»Als Nächstes ins Weinlager«, sagte er zu seinem Diener François. »Das letzte Fass war sauer.«

Während Pelletier den Gang entlangschritt, warf er immer wieder einen Blick in die anderen Räume. Das Wäschelager roch nach Lavendel und Thymian und war leer, als warte es darauf, dass jemand es endlich zu neuem Leben erweckte.

»Sind die Tischtücher gewaschen und bereit für die Tafel?«

»Oc, Messire.«

In dem Keller gegenüber dem Weinlager, am Fuße der Treppe, wendeten Männer große Fleischhälften in den Pökelkisten. Einige Stücke baumelten an Metallhaken von der Decke. Andere würden noch einen Tag länger in Fässern lagern. In einer Ecke fädelte ein Mann Pilze, Knoblauch und Zwiebeln auf Schnüre und hängte sie zum Trocknen auf.

Alle unterbrachen ihre Arbeit und verstummten, als Pelletier eintrat. Einige von den jüngeren Dienern erhoben sich verlegen. Er sagte nichts, blickte sich nur um, nahm den gesamten Raum prüfend in Augenschein, ehe er beifällig nickte und dann weiterging. Pelletier schloss gerade die Tür zum Weinlager auf, als er im Stockwerk über ihnen Rufe und das Geräusch von hastigen Schritten hörte.

»Sieh nach, was da los ist«, sagte er gereizt. »Bei solch einem Lärm kann ich nicht arbeiten.«

»Messire.«

François drehte sich um und lief rasch die Treppe hinauf. Pelletier stieß die schwere Tür auf und betrat den kühlen, dunklen Keller, atmete den vertrauten Geruch von feuchtem Holz und das säuerliche Aroma von vergossenem Wein und Bier ein. Langsam schritt er die Gänge entlang, bis er die Fässer gefunden hatte, die er suchte. Von einem Tablett, das auf einem Tisch bereitstand, nahm er einen Tonbecher, dann löste er den Spundzapfen ganz vorsichtig und langsam, um das Gleichgewicht im Fass nicht zu stören.

Er hörte ein Geräusch draußen auf dem Gang, und seine Nackenhaare sträubten sich. Er stellte den Becher ab. Jemand rief seinen Namen. Alaïs. Irgendetwas war geschehen.

Pelletier eilte durch den Raum und riss die Tür auf.

 

Alaïs kam die Treppe heruntergerannt, als wäre ihr eine Meute Hunde auf den Fersen, François hinterdrein.

Beim Anblick der ergrauten Gestalt ihres Vaters schrie Alaïs auf. Sie warf sich in seine Arme, vergrub das tränennasse Gesicht an seiner Brust. Sein vertrauter, tröstlicher Geruch umhüllte sie, und am liebsten hätte sie wieder geweint.

»Im Namen von Sant Foy, was ist passiert? Was hast du denn? Bist du verletzt? Sag es mir.«

Sie konnte die Sorge in seiner Stimme hören. Sie wich ein wenig zurück und wollte sprechen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, wollten nicht herauskommen. »Vater, ich ...« Verwirrt sah er, wie zerzaust und schmutzig sie war. Über ihren Kopf hinweg schaute er fragend zu François hinüber.

»Ich habe Dame Alaïs in diesem Zustand angetroffen, Messire.« »Und sie hat nicht gesagt, warum ... sie völlig aufgelöst ist?« »Nein, Messire. Nur, dass sie sofort zu Euch wollte.«

»Gut. Lass uns jetzt allein. Ich rufe, wenn ich dich brauche.« Alaïs hörte die Tür zufallen. Dann spürte sie den Druck seines Arms um ihre Schulter. Er bugsierte sie zu einer Bank an einer Seite des Kellers und drückte sie sacht nach unten.

»Komm, Filha«, sagte er mit sanfterer Stimme und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So kenne ich dich gar nicht. Erzähl mir, was passiert ist.«

Alaïs gewann allmählich die Fassung wieder. Es tat ihr Leid, ihren Vater so ängstlich und besorgt zu sehen. Sie rieb sich mit dem Taschentuch, das er ihr hinhielt, über die nassen Wangen und betupfte sich die geröteten Augen.

»Trink das«, sagte er und schob ihr einen Becher Wein in die Hände, ehe er sich neben sie setzte. Das alte Holz bog sich und knarrte unter seinem Gewicht. »François ist fort. Wir sind unter uns. Du musst jetzt aufhören zu weinen und mir sagen, weshalb du so verstört bist. Hat es etwas mit Guilhem zu tun ? Hat er dir wehgetan? Wenn ja, das schwöre ich dir, werde ich ...«

»Es hat nichts mit Guilhem zu tun, Paire«, sagte Alaïs rasch. »Niemand hat mir was getan ...«

Sie schaute kurz zu ihm hoch, senkte dann wieder den Blick, beschämt, in diesem Zustand vor ihm zu sitzen.

»Was dann?«, drängte er. »Wie soll ich dir helfen, wenn du mir nicht sagst, was geschehen ist?«

Sie schluckte schwer, verstört und voller Schuldgefühle. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Pelletier nahm ihre Hände. »Du zitterst ja, Alaïs.« Sie hörte die Sorge und Zuneigung in seiner Stimme, die Anstrengung, die es ihn kostete, seine Angst im Zaum zu halten. »Und sieh dir deine Kleider an«, sagte er und nahm den Saum ihres Gewandes zwischen die Finger. »Nass. Voller Schmutz.«

Alaïs sah ihm an, wie müde er war, wie besorgt. Er war sichtlich bestürzt von ihrem Zusammenbruch, sosehr er auch versuchte, es zu verbergen. Auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Furchen. Und wieso war ihr bisher nicht aufgefallen, dass sein Haar an den Schläfen so grau geworden war?

»Ich habe noch nie erlebt, dass dir die Worte fehlen«, sagte er, um sie zum Reden zu bringen. »Nun erzähl schon, was passiert ist, e.«

Sein Gesichtsausdruck war so voller Liebe und Vertrauen, dass es ihr schier das Herz zerriss. »Ich fürchte, Ihr werdet mir böse sein, Paire. Und das mit Fug und Recht.«

Seine Miene wurde härter, doch er behielt das Lächeln bei. »Ich verspreche, ich werde nicht mit dir schimpfen, Alaïs. Und jetzt sprich.«

»Auch wenn ich Euch erzähle, dass ich am Fluss war?«

Er zögerte kurz, doch seine Stimme blieb ruhig. »Nicht einmal dann.«

Bring es hinter dich.

Alaïs faltete die Hände im Schoß. »Heute Morgen kurz vor Tagesanbruch bin ich zum Fluss hinuntergegangen, zu einer Stelle, an der ich oft Pflanzen sammle.«

»Allein?«

»Ja, allein«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Ich weiß, ich habe Euch mein Wort gegeben, Paire, und ich bitte um Vergebung für meinen Ungehorsam.«

»Zu Fuß?«

Sie nickte und wartete ab, bis er ihr mit einer Handbewegung bedeutete weiterzureden.

»Ich war eine Weile dort. Ich habe niemanden gesehen. Als ich wieder gehen wollte und gerade meine Sachen zusammenpackte, bemerkte ich etwas, das ich zunächst für ein Kleiderbündel im Wasser hielt, Stoff von bester Güte. Doch es war ...« Alaïs stockte und spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. »Es war eine Leiche. Die Leiche eines Mannes, recht alt. Mit dunklem, lockigem Haar. Zuerst dachte ich, er wäre ertrunken. Ich konnte nicht viel erkennen. Dann sah ich, dass seine Kehle durchgeschnitten war.«

Seine Schultern versteiften sich. »Hast du die Leiche angefasst ?« Alaïs schüttelte den Kopf. »Nein, aber ...« Sie schlug verlegen die Augen nieder. »Es war entsetzlich, ihn zu finden. Ich habe einfach den Kopf verloren und bin weggerannt, habe alles dagelassen. Ich wollte nur noch zu Euch, um Euch alles zu erzählen.«

Wieder runzelte er die Stirn. »Und du hast niemanden gesehen?«

»Keine Menschenseele. Ich war ganz allein. Aber als ich die Leiche gefunden hatte, da bekam ich plötzlich Angst, die Männer, die den Mann getötet hatten, könnten noch irgendwo in der Nähe sein.« Ihre Stimme bebte. »Ich habe plötzlich ihre Blicke auf mir gespürt. Das habe ich mir wenigstens eingebildet.« »Dann ist dir also kein Leid geschehen?«, sagte er langsam, wählte seine Worte mit Bedacht. »Niemand hat sich an dir vergriffen? Dir wehgetan?«

Die Farbe, die ihr rasch in die Wangen stieg, verriet, dass sie die Bedeutung seiner Frage verstanden hatte.

»Mir ist kein Haar gekrümmt worden, nur mein Stolz ist gekränkt, und ich habe ... Euer Wohlwollen verloren.«

Sie sah, wie sich im Gesicht ihres Vaters Erleichterung breit machte. Er lächelte, und zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs erreichte das Lächeln auch seine Augen.

»Nun«, sagte er und atmete langsam aus. »Lassen wir erst einmal außer Acht, dass du leichtsinnig gehandelt hast, Alaïs, dass du ungehorsam warst ... es war richtig von dir, mir alles zu erzählen.« Er nahm ihre Hände, und seine großen Pranken umschlossen ihre kleinen, schlanken Finger. Seine Haut fühlte sich an wie gegerbtes Leder.

Alaïs lächelte, dankbar für die Begnadigung. »Es tut mir Leid, Paire. Ich wollte mein Versprechen wirklich halten, aber es ist einfach ...«

Er tat ihre Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Was den unglücklichen Mann betrifft, so können wir nichts tun. Die Räuber haben bestimmt längst das Weite gesucht. Sie würden wohl kaum das Risiko eingehen, entdeckt zu werden.«

Alaïs runzelte die Stirn. Die Worte ihres Vaters hatten irgendetwas in Bewegung gesetzt, das in ihrem Hinterkopf lauerte. Sie schloss die Augen. Stellte sich vor, wie sie in dem kalten Wasser gestanden und auf die Leiche gestarrt hatte.

»Das ist ja das Seltsame, Vater«, sagte sie langsam. »Ich glaube nicht, dass es Räuber waren. Sie haben seinen Mantel nicht mitgenommen, der sehr schön war und kostbar aussah. Und er trug noch seinen Schmuck. Goldketten an den Handgelenken, Ringe. Räuber hätten ihm das alles abgenommen.«

»Du hast gesagt, du hast die Leiche nicht angefasst«, sagte er scharf.

»Das habe ich auch nicht. Aber ich konnte seine Hände unter Wasser sehen, mehr nicht. Kostbarer Schmuck. Viele Ringe, Vater. Ein Goldarmband aus ineinander verschlungenen Ketten. Eine Kette um den Hals. Warum hätten sie so etwas zurücklassen sollen?«

Alaïs verstummte, als ihr die aufgedunsenen, geisterhaften Hände des Mannes einfielen, die im Wasser nach ihr fassten, und dort, wo der Daumen hätte sein sollen, nur ein roter Stumpf. Ihr wurde schwindelig. Sie drückte den Rücken gegen die feuchte, kalte Wand und konzentrierte sich auf das Gefühl der harten Holzbank unter ihr, auf den säuerlichen Geruch der Fässer in ihrer Nase, bis das Schwindelgefühl abklang.

»Es war kein Blut zu sehen«, sprach sie weiter. »Eine offene Wunde, rot wie ein Stück Fleisch.« Sie schluckte trocken. »Sein Daumen fehlte, es war ...«

»Fehlte?«, fragte er schneidend. »Was soll das heißen, fehlte?« Alaïs hob den Blick, überrascht von seinem veränderten Tonfall. »Der Daumen war abgeschnitten worden. Der Knochen einfach durch trennt.«

»An welcher Hand, Alaïs?«, fragte er. Jetzt war die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht zu überhören. »Denk nach. Es ist wichtig.«

»Ich weiß nicht ge...«

Er schien sie kaum zu hören. »Welche Hand?«, drängte er.

»Die linke Hand, die linke, ganz sicher. Das war die mir zugewandte Seite. Er lag flussaufwärts im Wasser.«

Pelletier ging mit großen Schritten durch den Raum, riss die Tür auf und rief barsch nach François.

»Was ist denn? Sagt es mir, ich flehe Euch an. Wieso ist es wichtig, ob es die linke oder die rechte Hand war?«

»François, mach sofort drei Pferde fertig. Meinen braunen Wallach, Dame Alaïs' graue Stute und eines für dich.«

François' Miene war so teilnahmslos wie immer. »Sehr wohl, Messire. Wird es ein weiter Ritt werden?«

»Nur hinunter zum Fluss«, erwiderte Pelletier. Er winkte ihn fort. »Schnell, Mann. Und hol mir mein Schwert und einen sauberen Mantel für Dame Alaïs. Wir treffen uns am Brunnen.« Sobald François außer Hörweite war, eilte Alaïs zu ihrem Vater. Er mied ihren Blick. Stattdessen ging er zurück zu den Fässern und goss sich mit zittriger Hand etwas Wein ein. Die dunkelrote Flüssigkeit schwappte über den Rand des Bechers und ergoss sich auf den Tisch, verfärbte das Holz.

»Paire«, sagte sie flehend. »Sagt mir, was mit Euch ist. Warum müssen wir zum Fluss? Das kann doch für Euch nicht so wichtig sein, oder? Schickt doch François. Ich kann ihm beschreiben, wo die Stelle ist.«

»Du verstehst das nicht.«

»Dann erklärt es mir, damit ich es verstehen kann. Ihr könnt mir vertrauen.«

»Ich muss mir den Toten selbst ansehen. Feststellen, ob ...« »Was müsst Ihr feststellen?«, fragte Alaïs rasch nach.

»Nein, nein«, sagte er und schüttelte seinen grauhaarigen Kopf. »Das geht dich nichts an ...« Pelletiers Stimme erstarb.

»Aber ... «

Er hob eine Hand, hatte seine Gefühle wieder im Griff. »Genug jetzt, Alaïs. Tu einfach, was ich dir sage. Ich wünschte, ich könnte dir das ersparen, aber ich kann nicht. Ich habe keine andere Wahl.« Er hielt ihr den Becher hin. »Trink. Das wird dich stärken, dir Mut geben.«

»Ich fürchte mich nicht«, widersprach sie, gekränkt, weil er ihren Widerwillen für Feigheit hielt. »Ich habe keine Angst davor, den Toten noch einmal zu sehen. Ich war vorhin so mitgenommen, weil ich mich erschrocken hatte.« Sie zögerte. »Aber ich flehe Euch an, Messire, sagt mir, warum ...«

Pelletier fuhr herum. »Genug jetzt, es reicht!«, schrie er sie an. Alaïs machte einen Schritt zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Verzeih mir«, sagte er sofort. »Ich kenne mich selbst nicht mehr.« Er hob den Arm und berührte ihre Wange. »Niemand könnte sich eine treuere, standhaftere Tochter wünschen.« »Warum vertraut Ihr Euch mir dann nicht an?«

Er zögerte, und Alaïs glaubte schon, sie hätte ihn überzeugt. Doch dann senkte sich wieder dieser verschlossene Ausdruck über sein Gesicht.

»Du musst ihn mir nur zeigen«, sagte er tonlos. »Alles Übrige liegt bei mir.«

 

Die Glocken von Sant-Nasari schlugen die Terz, als sie zum Westtor des Chateau Comtal hinausritten.

Pelletier ritt voran, gefolgt von seiner Tochter und François. Alaïs war elend zu Mute, einerseits hatte sie Schuldgefühle, weil ihr Verhalten diese sonderbare Veränderung bei ihrem Vater ausgelöst hatte, andererseits war sie wütend, weil er ihr nichts verraten hatte.

Sie folgten dem schmalen, ausgetrockneten Trampelpfad, der unterhalb der Mauern der Cité im Zickzack mit zahllosen Spitzkehren den Berg hinabführte. Sobald sie unten angekommen waren, fielen sie in leichten Galopp.

Sie ritten stromaufwärts am Fluss entlang. Eine erbarmungslose Sonne brannte ihnen auf den Rücken, als sie ins Marschland kamen. Schwärme von Mücken und schwarzen Sumpffliegen schwebten über den Wasserläufen und trüben Tümpeln. Die Pferde stampften immer wieder auf und schlugen wild mit dem Schwanz, vergebens bemüht, sich das Sommerfell nicht von unzähligen Blutsaugern durchstechen zu lassen.

Alaïs sah eine Gruppe Frauen im schattigen seichten Wasser am anderen Ufer der Aude beim Wäschewaschen. Sie standen halb im Wasser, halb auf dem Trockenen und schlugen die Kleidungsstücke klatschend auf flache graue Steine. Von der einzigen Holzbrücke, die das Marschland und die Dörfer im Norden mit Carcassonne und seinen Vororten verband, war das gleichförmige Rumpeln von Rädern zu hören. Andere wateten einfach an der flachsten Stelle durch den Fluss, ein steter Strom von Landarbeitern, Bauern und Händlern. Einige trugen Kinder auf den Schultern, manche trieben Tiere vor sich her, und alle wollten zum Wochenmarkt auf dem Hauptplatz.

Sie ritten, ohne miteinander zu reden. Als sie von dem offenen Gelände in den Schatten der Sumpfweiden kamen, merkte Alaïs, dass ihre Gedanken abschweiften. Die vertraute Bewegung des Pferdes unter ihr, das Zwitschern der Vögel und das endlose Zirpen der Zikaden im Schilf, das alles beruhigte sie, und eine Zeit lang vergaß Alaïs beinahe den Zweck ihres Ausflugs.

Das ungute Gefühl kehrte zurück, als sie die Ausläufer des Waldes erreichten. Sie ritten jetzt hintereinander zwischen den Bäumen hindurch. Ihr Vater wandte sich kurz um und lächelte ihr zu. Alaïs war ihm dafür dankbar, denn ihre Nervosität war wieder da. Sie war angespannt, lauschte auf das kleinste Anzeichen von Gefahr. Die Sumpfweiden schienen bedrohlich über ihr aufzuragen, und sie stellte sich Augen in den dunklen Schatten vor, die sie beobachteten, warteten. Bei jedem Rascheln im Unterholz, bei jedem Flattern eines Vogels raste ihr Herz.

 

Alaïs wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte, aber als sie die Lichtung erreichten, war alles ruhig und friedlich. Da stand ihr panier noch immer unter den Bäumen, wo sie ihn stehen gelassen hatte, und die Spitzen der Pflanzen lugten aus den Leinenstreifen hervor.

Sie stieg aus dem Sattel und reichte François die Zügel, dann ging sie zum Wasser. Ihr Werkzeug lag noch an derselben Stelle, wo sie es zurückgelassen hatte.

Als die Hand ihres Vaters sie am Ellbogen berührte, fuhr Alaïs zusammen.

»Zeig mir, wo«, sagte er.

Wortlos führte sie ihn am Ufer entlang, bis sie zu der Stelle kamen. Zuerst sah sie nichts, und einen Augenblick lang dachte sie, es wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Doch da, etwas weiter flussabwärts als zuvor, trieb die Leiche im Wasser zwischen dem Schilfrohr.

Sie zeigte. »Da, neben dem Beinwell.«

Zu ihrer Überraschung rief ihr Vater nicht François, sondern warf seinen Mantel ab und watete selbst in den Fluss.

»Bleib da«, rief er ihr über die Schulter hinweg zu.

Alaïs setzte sich ans Ufer, zog die Knie ans Kinn und sah zu, wie ihr Vater schnell durch das seichte Wasser pflügte, ohne sich daran zu stören, dass ihm das Wasser über die Stiefelränder lief. Als er die Leiche erreichte, blieb er stehen und zog sein Schwert. Er zögerte einen Augenblick, als wollte er sich innerlich auf das Schlimmste gefasst machen, dann hob er mit der Klingenspitze den linken Arm des Mannes aus dem Wasser. Die verstümmelte Hand, aufgedunsen und blau, blieb kurz darauf liegen, dann glitt sie über die silberne glatte Klinge hinunter zum Heft, als lebte sie noch. Mit einem leisen Platschen fiel sie wieder in den Fluss.

Pelletier steckte das Schwert zurück in die Scheide, beugte sich vor und drehte die Leiche herum. Der Körper hüpfte im Wasser auf und ab, der Kopf pendelte schwer hin und her, als wollte er sich vom Hals lösen.

Alaïs wandte sich rasch ab. Sie wollte den Ausdruck des Todes im Gesicht des Unbekannten nicht sehen.

 

Auf dem Rückweg nach Carcassonne war die Stimmung ihres Vaters sehr verändert. Er war ganz offensichtlich erleichtert, als wäre ihm eine Last von den Schultern gefallen. Er plauderte unbeschwert mit François, und wenn sein Blick den seiner Tochter traf, lächelte er sie liebevoll an.

Trotz ihrer Erschöpfung und der Frustration, nicht zu verstehen, was da vorhin Wichtiges geschehen war, empfand Alaïs ein Gefühl der Geborgenheit. Genau wie früher, wenn sie mit ihrem Vater ausgeritten war, als sie noch mehr Zeit füreinander hatten.

Sie bogen vom Fluss ab und ritten wieder bergauf zum Chateau, und schließlich konnte Alaïs ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und stellte ihrem Vater die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte.

»Habt Ihr herausgefunden, was Ihr wissen wolltet, Paire?«

»Das habe ich.«

Alaïs wartete auf mehr, bis ihr klar wurde, dass sie ihm die Erklärung würde aus der Nase ziehen müssen, Wort für Wort.

»Aber er war es nicht, habe ich Recht?«

Ihr Vater warf ihr einen scharfen Blick zu.

Sie ließ sich nicht beirren. »Aufgrund meiner Beschreibung habt Ihr geglaubt, dass Ihr den Mann vielleicht kennt. Und deshalb wolltet Ihr ihn mit eigenen Augen sehen.« Das Blitzen in seinen Augen verriet Alaïs, dass sie richtig vermutet hatte.

»Ich hielt es für möglich, dass ich ihn kenne«, sagte er schließlich. »Aus meiner Zeit in Chartres. Ein Mann, der mir teuer ist.«

»Aber er war Jude.«

Pelletier zog die Augenbrauen hoch. »Ja, in der Tat.«

»Ein Jude«, wiederholte sie. »Und doch ein Freund?« Schweigen. Alaïs ließ nicht locker. »Aber er war es nicht, dieser Freund?«

Diesmal lächelte Pelletier. »Nein, er war es nicht.«

»Wer denn dann?«

»Das weiß ich nicht.«

Alaïs schwieg einen Augenblick. Sie war sicher, dass ihr Vater einen solchen Freund niemals erwähnt hatte. Er war ein guter Mensch, ein toleranter Mensch, aber dennoch. Wenn er von einem solchen Freund in Chartres erzählt hätte, dann hätte sie das nicht vergessen. Da sie sehr wohl wusste, dass es keinen Sinn hatte, bei einem Thema nachzuhaken, über das ihr Vater nicht sprechen wollte, versuchte sie es anders.

»Es war kein Raubüberfall, nicht wahr?«

Darauf gab ihr Vater bereitwillig Auskunft. »Nein. Sie wollten ihn töten. Die Wunde war zu tief, zu gezielt. Außerdem haben sie fast alle Wertsachen dagelassen.«

»Fast alle?«

Pelletier sagte nichts.

»Vielleicht sind sie gestört worden?«, wagte Alaïs sich noch ein wenig weiter vor.

»Ich denke nicht.«

»Oder sie haben nach etwas Bestimmtem gesucht?«

»Schluss jetzt, Alaïs. Das ist weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort.«

Sie öffnete den Mund, wollte nicht so schnell aufgeben, doch dann schloss sie ihn wieder. Das Gespräch war offensichtlich beendet. Sie würde nichts weiter erfahren. Sie wartete besser ab, bis er wieder zum Reden aufgelegt war. Den Rest des Weges schwiegen sie.

Als das Westtor in Sicht kam, ritt François voraus.

»Es wäre ratsam, niemandem von unserem kleinen Ausflug zu erzählen«, sagte Pelletier rasch.

»Nicht einmal Guilhem?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Gemahl erfreut wäre, wenn er erfährt, dass du ohne Begleitung zum Fluss gegangen bist«, sagte er trocken. »Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Du solltest dich jetzt ausruhen und versuchen, den ganzen unangenehmen Vorfall zu vergessen.«

Alaïs erwiderte seinen Blick mit einer Unschuldsmiene. »Natürlich. Wie Ihr wollt. Ich gebe Euch mein Wort, Vater, dass ich mit niemandem darüber sprechen werde, außer mit Euch.«

Pelletier zögerte, als habe er den Verdacht, dass sie irgendwas im Schilde führte, dann lächelte er. »Du bist eine folgsame Tochter, Alaïs. Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen.« Unwillkürlich errötete Alaïs.


Das Verlorene Labyrinth
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