Kapitel 12

 

Das Thermometer zeigte knapp unter dreiunddreißig Grad im Schatten an. Es war fast drei Uhr nachmittags. Alice saß unter dem Sonnenzelt, geschützt vor der sengenden Hitze, und trank gehorsam die Orangina, die ihr jemand in die Hand gedrückt hatte. Die warme Kohlensäure kribbelte ihr in der Kehle, und sie spürte förmlich, wie der Zucker in ihre Blutbahn drang. Es roch stark nach Gabardine, Zelten und beißendem Antiseptikum.

Die Wunde auf der Innenseite ihres Ellbogens war desinfiziert und frisch verbunden worden. Um das Handgelenk, das inzwischen auf Tennisballgröße angeschwollen war, hatte man ihr einen sauberen weißen Verband gewickelt. Die Knie und Schienbeine waren mit kleine Kratzern und Schürfwunden übersät, die allesamt mit einem Desinfektionsmittel behandelt worden waren. Das hast du dir selbst eingebrockt.

Sie warf einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel, der am Zeltpfosten hing. Ein kleines, herzförmiges Gesicht mit intelligenten braunen Augen starrte sie an. Unter den Sommersprossen und der gebräunten Haut war sie blass. Sie sah völlig zerzaust aus. Die Haare waren voller Staub, und vorn auf dem T-Shirt war getrocknetes Blut.

Sie hatte nur den einen Wunsch, endlich in ihr Hotel in Foix fahren zu dürfen, die schmutzigen Klamotten in die Wäsche zu geben und eine lange, kühle Dusche zu nehmen. Dann würde sie nach unten auf den Platz gehen, eine Flasche Wein bestellen und sich den Rest des Tages nicht mehr vom Fleck rühren.

Und nicht mehr daran denken, was geschehen war.

Die Chancen, dass sich der Wunsch erfüllen würde, standen allerdings schlecht.

Die Polizei war vor einer halben Stunde eingetroffen. Auf dem Parkplatz weiter unten stand eine Reihe von weiß-blauen Streifenwagen neben den ramponierten Citroens und Renaults der Archäologen. Es war eine regelrechte Invasion.

Alice hatte angenommen, dass sie sich zuerst mit ihr unterhalten würden, doch sie hatten sich nur vergewissert, dass sie diejenige war, die die Skelette gefunden hatte, und sie dann mit dem Hinweis, sie später befragen zu müssen, zurückgelassen. Auch von ihren Kollegen hatte sich niemand mehr für sie interessiert. Wofür Alice Verständnis hatte. Dieses ganze Tohuwabohu ging auf ihr Konto. Da gab es nicht viel zu sagen. Von Shelagh war nichts mehr zu sehen.

Die Polizei hatte den Charakter des Lagers verändert. Überall wimmelte es von Beamten in blassblauen Hemden und kniehohen schwarzen Stiefeln, mit Pistolen im Gürtel. Sie schwärmten über den Berghang wie Wespen, wirbelten Staub auf und riefen einander in ihrem stark dialektal gefärbten Französisch Anweisungen zu, so schnell, dass Alice kein Wort verstand.

Den Eingang zur Höhle hatten sie sofort mit Plastikband abgesperrt, und der Lärm, den sie veranstalteten, drang durch die stille Bergluft. Das Surren der Motorkameras wetteiferte mit dem Zirpen der Zikaden.

Vom Parkplatz trieb die leichte Brise Stimmen zu Alice herauf. Sie wandte sich um und sah Dr. Brayling mit Shelagh die Stufen heraufkommen. Bei ihnen war ein massiger Polizist, der offenbar das Sagen über das Polizeiaufgebot hatte.

»Die Skelette können unmöglich die beiden Leute sein, nach denen Sie suchen«, beteuerte Dr. Brayling gerade. »Die Knochen sind ganz eindeutig mehrere hundert Jahre alt. Als ich die Behörden verständigt habe, hätte ich nicht eine Sekunde damit gerechnet, dass Sie so einen Aufstand veranstalten.« Er wedelte mit den Armen. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Ihre Leute hier für einen Schaden anrichten? Ich kann Ihnen sagen, ich bin alles andere als glücklich.«

Alice betrachtete den Inspektor, einen kleinen, übergewichtigen Mann mittleren Alters, der mehr Bauch hatte als Haare. Er war kurzatmig, und die Hitze machte ihm offensichtlich sehr zu schaffen. Sogar auf diese Entfernung konnte sie die Schweißränder sehen, die er unter den Armen und an den Manschetten hatte.

»Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, Monsieur le Directeur«, sagte er in bedächtigem, höflichem Englisch. »Aber da es sich hier um eine private Ausgrabung handelt, können Sie Ihren Geldgebern die Situation gewiss erklären.«

»Der Umstand, dass wir das Glück haben, von einer Privatperson finanziert zu werden und nicht von einer Institution, ist völlig unerheblich. Diese ungerechtfertigte Unterbrechung unserer Arbeit ist überaus ärgerlich, von den Unannehmlichkeiten für uns mal ganz zu schweigen. Unsere Arbeit hier ist von größter Wichtigkeit.«

»Dr. Brayling«, sagte der Polizist in einem Tonfall, als würden sie diese Unterhaltung schon seit einer Weile führen, »mir sind die Hände gebunden. Wir ermitteln in einem Mordfall. Sie haben die Plakate mit den beiden vermissten Personen gesehen, oui? Und solange wir uns nicht hinlänglich davon überzeugt haben, dass die Skelette, die Sie gefunden haben, nicht die Überreste unserer beiden Vermissten sind, werden die Ausgrabungsarbeiten eingestellt, ob Ihnen das nun Unannehmlichkeiten bereitet oder nicht.«

»Seien Sie nicht albern, Inspektor Noubel. Die Skelette sind uralt!«

»Haben Sie sie untersucht?«

»Nun, nein«, stotterte er. »Nicht richtig, wie denn auch. Aber daran kann kein Zweifel bestehen. Ihre Gerichtsmediziner werden mir Recht geben.«

»Bestimmt werden sie das, Dr. Brayling, aber bis dahin ...« Noubel zuckte die Achseln. »Mehr kann ich nicht dazu sagen.« Shelagh schaltete sich ein. »Wir verstehen Ihre Position durchaus, Inspektor, aber können Sie uns wenigstens ungefähr sagen, wann Sie hier fertig sind?«

»Bientôt. Bald. Ich habe die Vorschriften nicht gemacht.«

Dr. Brayling warf frustriert die Arme in die Luft. »Wenn das so ist, bin ich leider gezwungen, mich mit Ihren Vorgesetzten in Verbindung zu setzen! Das Ganze ist doch lächerlich.«

»Wie Sie wünschen«, entgegnete Noubel. »In der Zwischenzeit muss ich mit der Dame sprechen, die die Toten gefunden hat, und ich brauche eine Liste aller Personen, die in der Höhle waren. Sobald wir unsere ersten Untersuchungen abgeschlossen haben, werden wir die Skelette aus der Höhle schaffen, und Sie und Ihre Mitarbeiter können gehen.«

Alice beobachtete die ganze Szene.

Brayling stakste von dannen, Shelagh legte eine Hand auf den Arm des Inspektors, zog sie aber sofort wieder weg. Sie schienen sich zu unterhalten. Einmal wandten sich beide um und schauten zum Parkplatz hinüber. Alice folgte ihrem Blick, bemerkte aber nichts Auffälliges.

 

Eine halbe Stunde verging, und noch immer kam niemand zu ihr.

Alice griff in ihren Rucksack, den vermutlich Stephen oder Shelagh vom Berg mit heruntergebracht hatte, und holte einen Stift und ihren Zeichenblock heraus. Sie blätterte bis zum ersten leeren Blatt.

Stell dir vor, du stehst am Eingang und blickst in den Tunnel. Alice schloss die Augen und sah sich selbst, die Finger rechts und links auf den schmalen Eingang gelegt. Glatt. Der Stein war erstaunlich glatt gewesen, als wäre er poliert oder abgeschliffen worden. Einen Schritt vorwärts, in die Dunkelheit hinein.

Der Boden war leicht abschüssig.

Alice begann zu zeichnen. Sie arbeitete schnell, jetzt, wo sie die Dimensionen des Raumes im Kopf hatte. Tunnel, Öffnung, Kammer. Auf einem zweiten Blatt zeichnete sie den unteren Bereich, von den Stufen zum Altar und die beiden Skelette auf halber Strecke dazwischen. Neben die Skizze vom Grab schrieb sie eine Liste mit den Gegenständen: Messer, Lederbeutel, Stoffreste, Ring. Der Ring war auf der Oberseite ganz glatt und eben gewesen, erstaunlich dick, mit einer schmalen Rille in der Mitte. Seltsam, dass die Gravur auf der Unterseite war, wo niemand sie sehen konnte. Nur sein Träger wusste von ihr. Eine Miniatur- replik des Labyrinths, das in die Wand hinter dem Altar gemeißelt war.

Alice lehnte sich zurück, irgendwie widerstrebte es ihr, das Bild zu Papier zu bringen. Wie groß? Vielleicht ein Meter achtzig im Durchmesser? Größer? Wie viele Umläufe?

Sie zeichnete einen Kreis, der fast das gesamte Blatt einnahm, dann hielt sie inne. Wie viele Linien? Alice wusste, dass sie das Muster wiedererkennen würde, wenn sie es sah, aber sie hatte den Ring nur für wenige Sekunden in der Hand gehalten und das in die Wand gemeißelte Labyrinth nur aus einiger Entfernung in dem dunklen Raum gesehen.

Irgendwo in den verwinkelten Räumen ihrer Erinnerung war das Wissen, das sie brauchte. Geschichts- und Lateinunterricht in der Schule, Dokumentarfilme im Fernsehen, die sie sich, gemütlich auf dem Sofa zusammengerollt, mit ihren Eltern angesehen hatte. In ihrem Zimmer ein kleines Holzregal mit ihrem Lieblingsbuch auf dem untersten Brett. Eine illustrierte Enzyklopädie alter Mythen, Hochglanzpapier, mit Eselsohren an den Seiten, die sie besonders oft las.

Da war ein Bild von einem Labyrinth.

Vor ihrem geistigen Auge schlug Alice die richtige Seite auf. Aber es war anders. Sie legte die Bilder nebeneinander, wie bei einem Fehlersuchspiel in der Zeitung.

Sie griff nach dem Stift und versuchte es erneut. Entschlossen, sich nicht so leicht entmutigen zu lassen, zeichnete sie einen zweiten Kreis in den ersten und versuchte, die beiden zu verbinden. Vergeblich. Auch ihr nächster Versuch kam der Sache nicht näher, der danach genauso wenig. Ihr wurde klar, dass es nicht allein darauf ankam, wie viele Ringe sich auf das Zentrum zubewegten, sondern dass mit ihrem Entwurf irgendwas grundsätzlich nicht stimmte.

Alice versuchte es weiter, doch ihre anfängliche Begeisterung machte dumpfer Frustration Platz. Die zusammengeknüllten Papierknäuel zu ihren Füßen wurden mehr.

»Madame Tanner?«

Alice zuckte zusammen, und der Stift rutschte ihr über das Blatt. »Docteur«, berichtigte sie automatisch und stand auf.

»Je vous demande pardon. Docteur. Je m'appelle Noubel. Police Judiciare, Département de l’Ariège.«

Noubel hielt ihr seinen Dienstausweis hin. Alice tat so, als studiere sie ihn, und stopfte derweil alles zurück in ihren Rucksack. Sie wollte nicht, dass der Inspektor die misslungenen Zeichnungen sah.

»Vous préférez parler en votre langue?«

»Das wäre wohl sinnvoll, ja, danke.«

Inspektor Noubel war in Begleitung eines uniformierten Polizisten mit wachen, flinken Augen. Er sah aus, als hätte er gerade erst die Schule abgeschlossen. Er wurde nicht vorgestellt. Noubel quetschte sich in einen der wackeligen Campingsessel. Er passte mit Mühe hinein. Seine Oberschenkel quollen rechts und links über die Segeltuchsitzfläche.

»Et alors, Madame. Ihren vollen Namen bitte.«

»Alice Helena Tanner.«

»Geboren?«

»Siebter Januar 1976.«

»Verheiratet?«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte sie bissig.

»Nur zur Information, Dr. Tanner«, sagte er nachsichtig.

»Nein«, sagte sie. »Nicht verheiratet.«

»Wo wohnen Sie?«

Alice nannte ihm die Anschrift des Hotels in Foix, in dem sie abgestiegen war, und ihre Anschrift zu Hause. Die unbekannten englischen Namen musste sie ihm buchstabieren.

»Eine ganz schöne Strecke, jeden Tag von Foix bis hierher.«

»Im Ausgrabungshaus war kein Zimmer mehr frei, deshalb ...« »Bien. Sie sind eine freiwillige Mitarbeiterin, wie ich höre. Ist das richtig?«

»Ja. Shelagh - Dr. O'Donnell - ist eine meiner engsten Freundinnen. Wir waren zusammen auf der Universität, bis ...« Beantworte einfach bloß die Frage. Er muss nicht deine Lebensgeschichte hören.

»Ich bin hier bloß auf Stippvisite. Dr. O'Donnell kennt die Gegend hier recht gut. Und da ich zufällig in Carcassonne zu tun habe, hat Shelagh vorgeschlagen, ich soll vorher einen Abstecher hierher machen, damit wir uns ein paar Tage sehen können. Da hab ich einfach mitgeholfen.«

Noubel kritzelte auf seinen Notizblock. »Sie sind keine Archäologin?«

Alice schüttelte den Kopf. »Aber es ist anscheinend üblich, für die einfacheren Arbeiten Freiwillige einzusetzen, interessierte Amateure, Archäologiestudenten.«

»Wie viele Freiwillige arbeiten denn hier außer Ihnen?«

Sie wurde rot, als hätte er sie bei einer Lüge ertappt. »Keiner, zumindest im Augenblick. Die anderen sind alles Archäologen oder Studenten.«

Noubel musterte sie. »Und Sie sind hier bis?«

»Heute ist mein letzter Tag. Das war so vorgesehen ... auch bevor das passiert ist.«

»Und in Carcassonne?«

»Mittwochmorgen habe ich dort einen Termin, und dann bleiben mir noch ein paar Tage, um mich ein bisschen umzuschauen. Sonntag fliege ich zurück nach England.« »Carcassonne ist eine schöne Stadt«, sagte Noubel.

»Ich war noch nie dort.«

Noubel seufzte und wischte sich zum wiederholten Mal mit dem Taschentuch über die rote Stirn. »Und was für ein Termin ist das?«

»Bei einem Anwalt. Eine Verwandte, die hier in Frankreich gelebt hat, hat mir etwas in ihrem Testament hinterlassen.« Sie zögerte, wollte nicht ins Detail gehen. »Genaueres werde ich erst am Mittwoch erfahren.«

Noubel machte sich eine weitere Notiz. Alice versuchte zu lesen, was er aufschrieb, konnte aber seine Handschrift verkehrt herum nicht entziffern. Sie war froh, als er das Thema wechselte. »Sie sind also Ärztin ...« Noubel sprach nicht weiter.

»Nein, ich bin keine Medizinerin«, stellte sie klar, erleichtert, sich endlich auf sicherem Boden zu bewegen. »Ich bin Lehrerin, Doktor für mittelenglische Literatur.« Noubel sah sie verständnislos an. »Pas médecin. Pas généraliste«, sagte sie. »Je suis universitaire.«

Noubel seufzte und notierte sich das.

»Bien. Aux affaires.« Er legte seinen Plauderton ab. »Sie haben da oben allein gearbeitet. Ist das üblich?«

Sofort war Alice auf der Hut. »Nein«, sagte sie langsam, »aber weil es mein letzter Tag war, wollte ich Weiterarbeiten, obwohl mein Partner nicht da war. Ich war sicher, etwas gefunden zu haben.«

»Unter dem Felsen, der den Eingang verdeckte? Nur damit ich das besser verstehe, wer entscheidet, wer wo gräbt?«

»Dr. Brayling und Shelagh - Dr. O'Donnell - haben einen genauen Plan, was innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit geschafft werden soll. Dementsprechend teilen sie die Grabung ein.«

»Dann hat Dr. Brayling Sie da oben hingeschickt? Oder Dr. O'Donnell?«

Instinkt. Ich wusste einfach, dass da was war.

»Nein. Ich bin weiter den Berg hoch, weil ich sicher war, dort etwas zu finden.« Sie zögerte. »Ich hätte Dr. O'Donnell um Erlaubnis fragen müssen, konnte sie aber nicht finden ... und deshalb ... habe ich ... eigenmächtig entschieden.«

Noubel zog die Stirn kraus. »Verstehe. Sie haben also gearbeitet. Der Felsbrocken hat sich gelöst. Ist umgekippt. Und was dann?«

Alice hatte eine richtige Erinnerungslücke, gab sich aber alle Mühe. Noubels Englisch war zwar förmlich, aber gut, und er stellte klare Fragen.

»Und dann hab ich hinter mir im Gang etwas gehört, und ich ...« Plötzlich blieben ihr die Worte im Hals stecken. Etwas, das sie verdrängt hatte, kam jäh zurück, das bohrende Gefühl in der Brust, als ob ...

Also ob was?

Alice beantwortete sich die Frage selbst. Als ob ich niedergestochen worden wäre. Eine Klinge, die in sie hineinstieß, präzise und sauber. Sie hatte keinen Schmerz gespürt, nur einen kalten Luftzug und unbestimmtes Grauen.

Und dann?

Das strahlende Licht, kalt und unwirklich. Und mitten darin ein Gesicht. Ein Frauengesicht.

Noubels Stimme brach durch die Erinnerungen, die an die Oberfläche drangen, und zerstreute sie in alle Winde.

»Dr. Tanner?«

Hatte ich Halluzinationen?

»Dr. Tanner? Soll ich jemanden kommen lassen?«

Alice starrte ihn einen Moment verständnislos an. »Nein, nein, danke. Alles in Ordnung. Das ist nur die Hitze.«

»Sie sagten gerade, dass ein Geräusch Sie erschreckt hat ...«

Sie zwang sich zur Konzentration. »Ja. In der Dunkelheit hab ich die Orientierung verloren. Ich konnte nicht sagen, wo das Geräusch herkam, und das hat mir Angst gemacht. Jetzt weiß ich ja, dass es nur Shelagh und Stephen waren.«

»Stephen?«

»Stephen Kirkland. K-i-r-k-l-a-n-d.«

Noubel drehte seinen Notizblock um, damit sie überprüfte, ob er den Namen richtig geschrieben hatte.

Alice nickte. »Shelagh war der umgestürzte Felsbrocken aufgefallen, und sie wollte nachsehen, was passiert war. Stephen ist wohl einfach mitgegangen.« Sie zögerte erneut. »Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr so genau.« Diesmal ging ihr die Lüge leicht über die Lippen. »Ich muss wohl über die Stufen gestolpert sein oder so. Dann weiß ich nur noch, dass Shelagh meinen Namen gerufen hat.«

»Dr. O'Donnell sagt, Sie waren bewusstlos, als sie Sie gefunden haben.«

»Nur ganz kurz. Höchstens ein oder zwei Minuten. Auf jeden Fall hatte ich nicht das Gefühl, dass es länger war.«

»Ist Ihnen das schon öfter passiert, dass Sie ohnmächtig geworden sind, Dr. Tanner?«

Alice fuhr zusammen, als ihr die schreckliche Erinnerung an das erste Mal durch den Kopf schoss. »Nein«, log sie.

Noubel bemerkte nicht, wie blass sie geworden war. »Sie sagen, es war dunkel«, sagte er, »und deshalb sind Sie gestürzt. Doch davor hatten Sie Licht?«

»Ich hatte ein Feuerzeug, aber das ist mir runtergefallen, als ich das Geräusch hörte. Zusammen mit dem Ring.«

Er reagierte sofort. »Ein Ring?«, fragte er eindringlich. »Von einem Ring haben Sie bisher nichts gesagt.«

»Zwischen den Skeletten lag ein kleiner Ring«, erklärte sie, und der Ausdruck in seinem Gesicht beunruhigte sie. »Ich hab ihn mit der Pinzette hochgehoben, um ihn mir genauer anzusehen, aber bevor ...«

»Was für ein Ring?«, fiel er ihr ins Wort. »Woraus war er gemacht?«

»Weiß ich nicht. Irgendein Stein, kein Silber oder Gold oder so. Ich bin nicht dazu gekommen, ihn mir richtig anzuschauen.« »War irgendwas eingraviert? Buchstaben, ein Siegel, ein Muster?«

Alice öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn dann wieder. Auf einmal wollte sie ihm gar nichts mehr erzählen.

»Ich weiß nicht. Es ging alles so schnell.«

Noubel betrachtete sie einen Augenblick finster, dann schnippte er mit den Fingern und winkte dem jungen Polizisten, der hinter ihm stand. Alice fand, dass auch der Uniformierte aufgeregt wirkte.

»Biau. On a trouvé quelque chose comme ça?«

»Je ne sais pas, Monsieur l'Inspecteur.«

»Dépêchez-vous, alors. Il faut le chercher ...Et informez-en Monsieur Authié. Allez! Vite!«

Die Wirkung der Schmerzmittel ließ allmählich nach, und ein hartnäckiger, dumpfer Schmerz lag hinter Alice' Augen. »Haben Sie sonst irgendetwas angerührt, Dr. Tanner

Sie massierte sich die Schläfen mit den Fingerspitzen. »Ich bin versehentlich mit dem Fuß gegen einen der beiden Schädel gestoßen. Aber abgesehen davon und abgesehen von dem Ring, nichts. Wie ich bereits sagte.«

»Was ist mit dem Fundstück unter dem Felsen?«

»Die Brosche? Die habe ich Dr. O'Donnell gegeben, nachdem wir die Höhle verlassen hatten.« Bei der Erinnerung rutschte sie unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich habe keine Ahnung, was sie damit gemacht hat.«

Noubel hörte nicht mehr zu. Er schaute immer wieder über seine Schulter nach hinten. Schließlich hörte er auf, ihr was vorzumachen, und klappte seinen Notizblock zu.

»Wenn Sie bitte hier warten würden, Dr. Tanner. Vielleicht ergeben sich noch weitere Fragen an Sie.«

»Aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen«, protestierte sie. »Kann ich denn nicht wenigstens zu den anderen?«

»Später. Vorläufig bleiben Sie bitte hier.«

Alice sank verärgert und müde in ihren Sessel zurück, während Noubel schwerfällig aus dem Zelt trat und den Berg hinauf zu einer Gruppe Uniformierter stapfte, die den Felsen untersuchten. Als Noubel näher kam, teilte sich der Kreis gerade so weit, dass Alice ganz kurz einen großen Mann in Zivil erblickte, der in der Mitte stand.

Ihr stockte der Atem.

Er trug einen maßgeschneiderten blassgrünen Sommeranzug und ein frisches weißes Hemd mit Krawatte, und er hatte offensichtlich das Sagen. Seine Autorität war unverkennbar, ein Mann, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen, die prompt ausgeführt wurden. Im Vergleich zu ihm wirkte Noubel ungepflegt und zerzaust. Alice spürte ein Prickeln der Beklommenheit. Doch der Mann fiel nicht nur durch seine Kleidung und Haltung auf. Selbst auf diese Entfernung konnte Alice seine starke Persönlichkeit, sein Charisma spüren. Sein Gesicht war blass und hager, was durch sein dunkles, glatt aus der hohen Stirn gekämmtes Haar noch betont wurde. Er hatte etwas Klösterliches an sich. Er kam ihr bekannt vor.

Sei nicht albern. Woher solltest du ihn kennen?

Alice stand auf, trat an den Rand des Sonnenzeltes und beobachtete aufmerksam, wie die beiden Männer sich von der Gruppe entfernten. Sie sprachen miteinander. Oder besser, Noubel sprach, während der andere Mann zuhörte. Kurz darauf drehte er sich um und stieg zum Höhleneingang hinauf. Der Polizeiposten dort hob das Absperrband hoch, der Mann duckte sich darunter hindurch und verschwand.

Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber ihre Handflächen waren vor Angst schweißnass. Ihr sträubten sich die Nackenhaare, genau wie in dem Augenblick, als sie in der Kammer das Geräusch gehört hatte. Sie konnte kaum atmen.

Das ist alles deine Schuld. Du hast ihn hierher geführt.

Alice riss sich zusammen. Was redest du dir da ein? Aber die Stimme in ihrem Kopf wollte nicht schweigen.

Du hast ihn hierher geführt.

Ihre Augen kehrten wie magnetisch angezogen zum Höhleneingang zurück. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Der Gedanke, dass er dort drin war, nach allem, was getan worden war, um das Labyrinth verborgen zu halten.

Er wird es finden.

»Was denn finden?«, murmelte sie vor sich hin. Sie wusste es nicht.

Aber sie wünschte, sie hätte den Ring an sich genommen, als sie die Gelegenheit dazu hatte.


Das Verlorene Labyrinth
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