Kapitel 16
Toulouse

 

Es war elf Uhr abends, als Alice den Stadtrand von Toulouse erreichte. Sie war zu müde, um jetzt noch nach Carcassonne zu fahren, daher beschloss sie, sich im Stadtzentrum ein Zimmer für die Nacht zu nehmen.

Die Reise war im Nu vergangen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Bilder von den Skeletten, dem Messer zwischen ihnen, dem reglosen Körper auf dem Platz in Foix. War er tot?

Und das Labyrinth. Am Ende kehrte sie immer wieder zu dem Labyrinth zurück. Alice sagte sich, dass sie paranoid reagierte, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Du warst einfach im falschen Moment am falschen Ort. Aber sie konnte sich das noch so oft sagen, überzeugt war sie nicht.

Sie streifte ihre Schuhe ab und legte sich vollständig angezogen aufs Bett. Alles an diesem Zimmer war billig. Gesichtsloses Plastik und Sperrholz, graue Fliesen und Holzimitat. Die Laken waren bretthart und kratzten an ihrer Haut wie Papier.

Sie holte den Bushmills Single Malt aus ihrem Rucksack. Es war noch ein kleiner Rest in der Flasche. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Diese paar Schlucke hatte sie für ihren letzten Abend bei der Ausgrabung verwahrt. Wieder versuchte sie, Shelagh zu erreichen, doch ihre Freundin hatte das Handy noch immer ausgeschaltet. Sie kämpfte ihre Gereiztheit nieder und hinterließ eine weitere Nachricht auf der Mailbox. Sie wünschte, Shelagh würde aufhören, die beleidigte Leberwurst zu spielen.

Alice schluckte zwei Schmerztabletten, spülte mit dem Whiskey nach, ging dann ins Bett und schaltete das Licht aus. Sie war völlig erschöpft, aber sie konnte nicht einschlafen. Ihr dröhnte der Kopf, ihr Handgelenk war heiß und geschwollen, und die Wunde am Arm brannte wie verrückt. Schlimmer denn je.

Das Zimmer war stickig und heiß. Nachdem sie sich eine Ewigkeit hin und her gewälzt hatte und die Glocken zuerst Mitternacht, dann ein Uhr geschlagen hatten, stand Alice auf und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Es half nichts. Ihr Verstand kam einfach nicht zur Ruhe. Sie versuchte an weißen Sand und klares blaues Wasser zu denken, an karibische Strände und Sonnenuntergänge auf Hawaii, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem grauen Felsen und der kalten unterirdischen Luft des Berges zurück.

Sie hatte Angst davor einzuschlafen. Was, wenn der Traum wiederkam ?

Die Stunden schlichen dahin. Ihr Mund war trocken, und ihr Herz stolperte von dem Whiskey. Erst als das blassweiße Morgenlicht unter den zerschlissenen Rändern der Vorhänge ins Zimmer drang, schlief sie endlich ein.

 

Diesmal war es ein anderer Traum.

Sie ritt auf einer Fuchsstute durch den Schnee. Das Winterfell des Pferdes war dicht und glänzend, und in die helle Mähne und den Schwanz waren rote Bänder eingeflochten. Sie trug Jagdkleidung, ihre beste pelisse mit Eichhörnchenfell und Kapuze, und lange Lederhandschuhe, die ihr bis zu den Ellbogen reichten und mit Marderfell gefüttert waren.

Neben ihr ritt ein Mann auf einem grauen Wallach, ein größeres, kräftigeres Ross mit schwarzer Mähne und schwarzem Schwanz. Er zerrte immer wieder am Zügel, um es zu bändigen. Sein braunes Haar war lang für einen Mann, reichte ihm bis auf die Schultern. Sein blauer Samtmantel flatterte hinter ihm her, während er sein Pferd weitertrieb. Alice sah, dass er einen Dolch am Gürtel trug. Um den Hals hatte er eine Silberkette mit einem einzelnen grünen Stein darin, der ihm im Rhythmus des Pferdes gegen die Brust wippte.

Immer wieder schaute er zu ihr herüber, und in seinem Blick lag Besitzerstolz. Die Verbindung zwischen ihnen war stark und innig. Im Schlaf regte Alice sich und lächelte.

Irgendwo in der Ferne ertönte ein Jagdhorn, schneidend und schrill in der frischen Dezemberluft, und verkündete, dass die Hunde die Fährte eines Wolfes verfolgten. Sie wusste, es war Dezember, ein besonderer Monat. Sie wusste, sie war glücklich. Dann veränderte sich das Licht.

Jetzt war sie allein in einem Teil des Waldes, den sie nicht kannte. Die Bäume standen höher und dichter, die kahlen Äste hoben sich schwarz und verbogen wie Leichenfinger vor dem weißen, schneeschweren Himmel ab. Irgendwo hinter ihr kamen die Hunde näher, unbemerkt und bedrohlich, angelockt von der Hoffnung auf Blut.

Sie war keine Jägerin mehr, sondern die Beute.

Durch den Wald dröhnte das Donnern von tausend Hufen, die näher und näher kamen. Jetzt konnte sie schon die Rufe der Jäger hören. Sie verständigten sich in einer Sprache, die sie nicht verstand, aber sie wusste, dass sie nach ihr suchten.

Ihr Pferd strauchelte. Alice wurde aus dem Sattel geschleudert und stürzte auf die harte winterliche Erde. Sie hörte den Knochen in ihrer Schulter brechen, dann kam der sengende Schmerz. Entsetzt sah sie nach unten. Ein Stück altes, steifgefrorenes Holz, das aussah wie eine Pfeilspitze, hatte sich durch den Ärmel in ihren Arm gebohrt.

Mit tauben und zittrigen Fingern, die Augen vor Schmerzen fest geschlossen, zog Alice das Stück Holz behutsam heraus. Sofort strömte das Blut, aber davon konnte sie sich nicht aufhalten lassen.

Alice rappelte sich hoch, stillte die Blutung mit dem Saum ihres Mantels und kämpfte sich weiter durch die kahlen Äste und das harte Unterholz hindurch. Die spröden Zweige knackten unter ihren Füßen, und von der eiskalten Luft, die ihr in die Wangen kniff, tränten ihr die Augen.

Das Klingeln in ihren Ohren wurde jetzt lauter, nachdrücklicher, und sie fühlte sich schwach. Körperlos wie ein Geist. Plötzlich war der Wald verschwunden, und Alice stand am Rand einer Klippe. Sie konnte nirgends mehr hin. Zu ihren Füßen ging es im freien Fall nach unten in einen waldigen Abgrund. Vor ihr erstreckten sich schneebedeckte Berge, so weit das Auge reichte. Sie waren so nah, dass sie das Gefühl hatte, sie könnte die Hand ausstrecken und sie berühren.

Alice bewegte sich unruhig im Schlaf.

Lass mich aufwachen. Bitte.

Sie kämpfte darum, aufzuwachen, aber sie konnte nicht. Der Traum hielt sie zu fest umfangen.

Hinter ihr brachen die Hunde bellend und zähnefletschend aus dem Schutz der Bäume hervor. Sie stießen Atemwolken aus, wenn sie schnappten, und blutige Speichelfäden hingen von ihren Zähnen. In der einsetzenden Dämmerung glänzten die Speerspitzen der Jäger hell. Ihre Augen waren erfüllt von Hass, von Lust. Alice konnte sie flüstern hören, höhnisch, spöttisch.

»Hérétique, hérétique.«

In dem Sekundenbruchteil fiel die Entscheidung. Wenn sie sterben musste, dann jedenfalls nicht durch die Hände solcher Männer. Alice breitete die Arme aus und sprang, übergab ihren Körper der Luft.

Schlagartig verstummte die Welt.

Die Zeit verlor jede Bedeutung, während sie fiel, langsam und sanft, und ihre grünen Gewänder sich um sie aufblähten. Jetzt merkte sie, dass etwas an ihrem Rücken haftete, ein Stück Stoff in Form eines Sterns. Nein, kein Stern, sondern ein Kreuz. Ein gelbes Kreuz. Rouelle. Als das unbekannte Wort ihr in den Sinn kam und dann wieder verschwand, löste sich das Kreuz und schwebte von ihr weg, wie ein Blatt, das im Herbst vom Baum fällt.

Der Boden kam näher. Alice hatte keine Angst mehr. Denn selbst als sich die Traumbilder nach und nach auflösten, begriff ihr Unterbewusstsein, was ihr Bewusstsein nicht verstehen konnte. Dass nicht sie - Alice - diejenige war, die da fiel, sondern jemand anders.

Dass es kein Traum war, sondern eine Erinnerung. Ein Fragment aus einem Leben, das vor langer, langer Zeit gelebt worden war.


Das Verlorene Labyrinth
titlepage.xhtml
index_split_000.xhtml
index_split_001.xhtml
index_split_002.xhtml
index_split_003.xhtml
index_split_004.xhtml
index_split_005.xhtml
index_split_006.xhtml
index_split_007.xhtml
index_split_008.xhtml
index_split_009.xhtml
index_split_010.xhtml
index_split_011.xhtml
index_split_012.xhtml
index_split_013.xhtml
index_split_014.xhtml
index_split_015.xhtml
index_split_016.xhtml
index_split_017.xhtml
index_split_018.xhtml
index_split_019.xhtml
index_split_020.xhtml
index_split_021.xhtml
index_split_022.xhtml
index_split_023.xhtml
index_split_024.xhtml
index_split_025.xhtml
index_split_026.xhtml
index_split_027.xhtml
index_split_028.xhtml
index_split_029.xhtml
index_split_030.xhtml
index_split_031.xhtml
index_split_032.xhtml
index_split_033.xhtml
index_split_034.xhtml
index_split_035.xhtml
index_split_036.xhtml
index_split_037.xhtml
index_split_038.xhtml
index_split_039.xhtml
index_split_040.xhtml
index_split_041.xhtml
index_split_042.xhtml
index_split_043.xhtml
index_split_044.xhtml
index_split_045.xhtml
index_split_046.xhtml
index_split_047.xhtml
index_split_048.xhtml
index_split_049.xhtml
index_split_050.xhtml
index_split_051.xhtml
index_split_052.xhtml
index_split_053.xhtml
index_split_054.xhtml
index_split_055.xhtml
index_split_056.xhtml
index_split_057.xhtml
index_split_058.xhtml
index_split_059.xhtml
index_split_060.xhtml
index_split_061.xhtml
index_split_062.xhtml
index_split_063.xhtml
index_split_064.xhtml
index_split_065.xhtml
index_split_066.xhtml
index_split_067.xhtml
index_split_068.xhtml
index_split_069.xhtml
index_split_070.xhtml
index_split_071.xhtml
index_split_072.xhtml
index_split_073.xhtml
index_split_074.xhtml
index_split_075.xhtml
index_split_076.xhtml
index_split_077.xhtml
index_split_078.xhtml
index_split_079.xhtml
index_split_080.xhtml
index_split_081.xhtml
index_split_082.xhtml
index_split_083.xhtml
index_split_084.xhtml
index_split_085.xhtml
index_split_086.xhtml
index_split_087.xhtml
index_split_088.xhtml
index_split_089.xhtml
index_split_090.xhtml
index_split_091.xhtml
index_split_092.xhtml
index_split_093.xhtml
index_split_094.xhtml
index_split_095.xhtml
index_split_096.xhtml