Kapitel 79
Alaïs wachte mit einem Ruck auf. Sie war steif und kalt. Ein zartes, purpurnes Licht zog sich mit dem Morgengrauen über die graue und grüne Landschaft. Dünner weißer Nebel hing in den Rinnen und Spalten des Berges, schweigend und reglos.
Sie schaute zu Harif hinüber. Er schlief friedlich, hatte sich den pelzgefütterten Mantel bis zu den Ohren hochgezogen. Sie waren seit einem Tag und einer Nacht unterwegs, und die Reise setzte ihm zu.
Stille lag schwer auf dem Berg. Trotz der Kälte in den Knochen und obwohl sie sich wie zerschlagen fühlte, genoss Alaïs die Einsamkeit nach den langen Monaten in der überfüllten Enge von Montsegur. Ganz leise, um Harif nicht zu stören, stand sie auf und reckte sich, griff dann in eine der Satteltaschen, um ein Stück Brot abzubrechen. Es war hart wie Holz. Sie füllte einen Becher mit dem starken Rotwein hier aus den Bergen, der fast zu kalt zum Trinken war. Sie tunkte das Brot, um es einzuweichen, und aß dann rasch, bevor sie den anderen etwas zu essen machte.
Sie wagte es kaum, an Bertrande und Sajhë zu denken, sich die Frage zu stellen, wo sie in diesem Augenblick wohl waren. Noch im Lager? Zusammen oder getrennt?
Der Ruf einer Schleiereule, die von der nächtlichen Jagd zurückkehrte, durchschnitt die Luft. Sie lächelte, beruhigt von den vertrauten Lauten. Tiere raschelten im Unterholz, jähes Huschen von Krallen und blitzenden Zähnen. Im Wald, weiter unten im Tal, heulten Wölfe. Es erinnerte sie daran, dass die Welt weiter ihren Lauf nahm, dass die Jahreszeiten ihrem alten Wechsel folgten, unabhängig von ihr.
Sie weckte die beiden Führer und sagte ihnen, dass das Essen fertig war, dann ging sie mit den Pferden zum Bach und brach das Eis mit dem Heft ihres Schwertes auf, damit sie trinken konnten. Als das Licht stärker wurde, ging sie zu Harif, um ihn zu wecken. Sie flüsterte ihm Worte in seiner Sprache zu und legte ihm sacht eine Hand auf den Arm. In letzter Zeit hatte er oft Schmerzen, wenn er aufwachte.
Harif schlug die tief liegenden braunen Augen auf, die im Alter blass geworden waren.
»Bertrande?«
»Ich bin's, Alaïs«, sagte sie leise.
Harif blinzelte, verwundert, sich an diesem grauen Berghang wiederzufinden. Alaïs vermutete, dass er wieder von Jerusalem geträumt hatte, von den anmutig geschwungenen Moscheen und dem Ruf, der die gläubigen Sarazenen zum Gebet lockte, von seinen Reisen über das endlose Meer der Wüste.
Während ihrer gemeinsamen Jahre hatte Harif ihr von den aromatischen Gewürzen erzählt, den strahlenden Farben und dem pfeffrigen Geschmack des Essens, dem schrecklichen Leuchten der blutroten Sonne. Er hatte ihr geschildert, wie er die vielen, vielen Jahre seines langen Lebens genutzt hatte. Er hatte von dem Propheten berichtet und der alten Stadt Avaris, seiner ersten Heimat. Er hatte ihr Geschichten aus der Jugend ihres Vaters erzählt und von der Noublesso.
Als sie auf ihn hinunterschaute, auf die olivenfarbene Haut, die jetzt grau geworden war, auf sein weißes, früher tief schwarzes Haar, wurde ihr weh ums Herz. Er war zu alt für diese Mühsal. Er hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt, als dass es so hart enden durfte.
Harif hatte seine letzte Reise zu spät angetreten. Und obwohl er das nie gesagt hatte, wusste Alaïs, dass nur der Gedanke an
Los Seres und Bertrande ihm die Kraft verlieh, weiter durchzuhalten.
»Alaïs«, sagte er leise, als er wieder wusste, wo er war. »Ja.«
»Es ist nicht mehr weit«, sagte sie, als sie ihm auf die Beine half. »Wir sind schon fast zu Hause.«
Guilhem und Sajhë sprachen kaum ein Wort, während sie im Schutz des Berges kauerten, wo der beißende Wind sie nicht erreichen konnte.
Guilhem hatte mehrmals ein Gespräch angefangen, war aber von Sajhës einsilbigen Antworten entmutigt worden. Schließlich gab er es auf und zog sich in seine eigene Gedankenwelt zurück, wie Sajhë es offenbar wollte.
Den jüngeren Mann quälte das Gewissen. Sein Leben lang hatte er Guilhem zuerst beneidet, dann gehasst und schließlich hatte er mühsam gelernt, ihn zu vergessen. Er hatte Guilhems Platz an Alaïs' Seite eingenommen, aber nie in ihrem Herzen. Sie war ihrer ersten Liebe treu geblieben. Und diese Liebe hatte fortgedauert, trotz Trennung und Schweigen.
Sajhë wusste von Guilhems Mut, von seinem furchtlosen, langjährigen Kampf, die Kreuzfahrer aus dem Pays d'Oc zu vertreiben, aber er sträubte sich, Guilhem zu mögen, ihn zu bewundern. Und er wollte auch kein Mitleid für ihn empfinden. Er sah, wie er um Alaïs trauerte. In seinem Gesicht spiegelten sich tiefer Schmerz und Reue. Sajhë brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber er verachtete sich selbst dafür.
Sie warteten den ganzen Tag. Während der eine schlief, wachte der andere. Kurz vor Anbruch der Dämmerung flatterte ein Krähenschwarm weiter unten am Hang auf, flog in die Luft wie Asche aus einem erlöschenden Feuer. Die Vögel kreisten und schwebten und krächzten flügelschlagend in der eiskalten Luft.
»Da kommt jemand«, sagte Sajhë, schlagartig hellwach.
Er spähte hinter dem großen Felsen hervor, der auf dem schmalen Sims über dem Höhleneingang lag, als hätte ihn die Hand eines Riesen dort abgelegt.
Er konnte nichts erkennen, nichts rührte sich weiter unten. Vorsichtig verließ Sajhë das Versteck. Alles tat ihm weh, sein ganzer Körper war stocksteif von den brutalen Schlägen, die er eingesteckt hatte, und dem langen, untätigen Warten. Er hatte kein Gefühl in den Händen, und die aufgeschürfte Haut an den Knöcheln war wund und rissig. Sein Gesicht war eine einzige Masse aus Blutergüssen und Platzwunden.
Sajhë ließ sich von dem Felsensims herab und das letzte Stück fallen. Er landete unbeholfen. Ein Schmerz jagte ihm von dem verstauchten Knöchel das Bein hoch.
»Gebt mir mein Schwert«, sagte er und hob den Arm.
Guilhem reichte ihm die Waffe nach unten, sprang dann selbst hinab. Gemeinsam blickten sie über das Tal.
Plötzlich waren in der Ferne Stimmen zu hören. Dann entdeckte Sajhë in dem schwächer werdenden Licht einen dünnen Rauchfaden, der sich durch die spärliche Deckung der Bäume schlängelte.
Sajhë schaute zum Horizont, wo sich das in Rot getauchte Land und der dunkelnde Himmel berührten.
»Sie sind auf dem südöstlichen Pfad«, sagte er. »Das heißt, Oriane war nicht im Dorf. Aus der Richtung kommen sie mit Pferden nicht weiter. Das Gelände ist zu unwegsam. Es gibt da Gebirgsrinnen mit Steilwänden auf beiden Seiten. Sie müssen zu Fuß weiter.«
Plötzlich übermannte ihn der Gedanke, dass Bertrande jetzt so nah war.
»Ich geh runter.«
»Nein!«, sagte Guilhem rasch, dann ruhiger: »Nein. Das ist zu riskant. Wenn sie Euch sehen, bringt Ihr Bertrandes Leben in Gefahr. Wir wissen, dass Oriane zur Höhle will. Hier können wir sie überrumpeln. Wir müssen abwarten, bis sie zu uns kommt.« Er hielt inne. »Ihr dürft Euch keine Vorwürfe machen, Freund. Ihr hättet es nicht verhindern können. Ihr dient Eurer Tochter besser, wenn Ihr an unserem Plan festhaltet.«
Sajhë schüttelte Guilhems Hand von seinem Arm.
»Ihr habt keine Ahnung, was ich empfinde«, sagte er mit wutbebender Stimme. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch einzubilden, dass Ihr mich kennt?«
Guilhem hob die Hände in gespielter Kapitulation. »Es tut mir Leid.«
»Sie ist doch noch ein Kind.«
»Sie soll neun oder zehn sein.«
»Neun«, erwiderte er schroff.
Guilhem runzelte die Stirn. »Dann ist sie jedenfalls alt genug, um schon einiges zu verstehen«, überlegte er laut. »Also, selbst wenn Oriane sie überreden konnte, mit ihr das Lager zu verlassen, und sie nicht zwingen musste, dann hat Bertrande inzwischen sicherlich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Hatte sie gewusst, dass Oriane im Lager war? Weiß sie überhaupt, dass sie eine Tante hat?«
Sajhë nickte. »Sie weiß, dass Oriane es nicht gut meint mit Alaïs. Sie wäre freiwillig nicht mitgegangen.«
»Nicht, wenn sie gewusst hätte, wer sie war«, pflichtete Guilhem ihm bei. »Aber wenn nicht?«
Sajhë überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie mit einer Fremden mitgehen würde. Wir hatten besprochen, dass sie auf uns warten würde ...«
Er brach ab, weil er merkte, dass er sich fast verraten hätte, doch Guilhem hing seinen eigenen Gedanken nach. Sajhë atmete erleichtert auf.
»Ich glaube, sobald wir Bertrande befreit haben, müssten wir mit den Soldaten fertig werden«, sagte Guilhem. »Je länger ich darüber nachdenke, desto eher glaube ich, dass Oriane ihre Männer weiter unten ein Lager aufschlagen lässt und mit Eurer Tochter allein hier heraufkommt.«
Sajhë hörte ihm immer aufmerksamer zu. »Weiter.«
»Oriane wartet seit über dreißig Jahren auf diesen Augenblick. Verstellung und Geheimhaltung sind für sie so selbstverständlich geworden wie Atmen. Ich glaube, sie wird nicht riskieren, dass noch irgendjemand anderer erfährt, wo die Höhle genau liegt. Das Geheimnis will sie für sich behalten, und da sie davon ausgeht, dass außer ihrem Sohn keiner weiß, dass sie hier ist, rechnet sie bestimmt nicht mit Widerstand.«
Guilhem stockte kurz. »Oriane ist ...« Er setzte neu an. »Um in den Besitz der Labyrinth-Trilogie zu gelangen, hat Oriane betrogen, gemordet, ihren Vater und ihre Schwester verraten. Sie hat sich für diese Bücher selbst verdammt.«
»Gemordet?«
»Ihr erster Gemahl, Jehan Congost, ohne Frage, obwohl sie nicht selbst das Messer geführt hat.«
»François«, murmelte Sajhë so leise, dass Guilhem es nicht hören konnte. Eine blitzartige Erinnerung: Schreie, das verzweifelte Schlagen von Pferdehufen, während Ross und Reiter immer tiefer in den Sumpf gezogen wurden.
»Und ich glaube bis heute, dass sie auch für den Tod einer Frau verantwortlich ist, die Alaïs sehr viel bedeutet hat«, sprach Guilhem weiter. »Ihr Name ist mir nach so langer Zeit entfallen, aber sie war eine weise Frau, die in der Ciutat lebte. Sie hat Alaïs alles über Arzneien und Heilkräuter gelehrt, wie man die Gaben der Natur zum Wohl der Menschen einsetzt.« Er hielt inne. » Alaïs hat sie geliebt.«
Aus Halsstarrigkeit hatte Sajhë sich bisher nicht zu erkennen gegeben. Aus Halsstarrigkeit und Eifersucht hatte er nichts von seinem Leben mit Alaïs verraten.
»Esclarmonde ist damals nicht gestorben«, sagte er, weil er sich nicht länger verstellen konnte. Guilhem wurde ganz ruhig. »Was?«, sagte er. »Wusste Alaïs das?«
Sajhë nickte. »Nach ihrer Flucht aus dem Chateau Comtal suchte sie Hilfe bei Esclarmonde - und deren Enkelsohn. Sie ging ...«
Der Klang von Orianes durchdringender Stimme, herrisch und kalt, unterbrach das Gespräch. Die beiden Männer, erfahrene Bergkämpfer, ließen sich sofort zu Boden fallen. Ohne einen Laut krochen sie mit gezückten Schwertern in Deckung. Sajhë versteckte sich hinter einem Felsbrocken, der etwas unterhalb vom Höhleneingang lag, Guilhem hinter Weißdornbüschen, deren stachelige Zweige spitz und bedrohlich in die Dämmerung ragten.
Die Stimmen wurden lauter. Sie hörten die Stiefel der Soldaten, das Klappern von Rüstung und Waffen, als sie über das Geröll und die Steine auf dem felsigen Pfad bergauf kletterten.
Sajhë hatte das Gefühl, als würde er jeden Schritt mit Bertrande machen. Jeder Augenblick dehnte sich ewig lang. Die Geräusche der Schritte, das Echo der Stimmen, alles wiederholte sich wieder und wieder und schien doch nicht näher zu kommen. Endlich tauchten zwei Gestalten unter den Bäumen auf. Oriane und Bertrande. Wie Guilhem vermutet hatte, waren sie allein. Er sah, dass Guilhem zu ihm herüberstarrte und ihn mit Blicken mahnte, noch nichts zu unternehmen, sondern abzuwarten, bis Oriane in Reichweite war und sie Bertrande gefahrlos in Sicherheit bringen konnten.
Als sie näher kamen, ballte Sajhë die Fäuste, um nicht vor Zorn laut aufzuschreien. Auf der Wange des Kindes war eine Schnittwunde, die rot in dem weißen starren Gesicht leuchtete. Oriane hatte Bertrande einen Strick um den Hals gebunden, der über den Rücken hinunter zu den gefesselten Händen verlief. Das andere Ende des Stricks hatte Oriane in der linken Hand. In der rechten hielt sie einen Dolch, mit dem sie Bertrande immer wieder in den Rücken piekste, um sie anzutreiben.
Bertrande ging unbeholfen und stolperte häufig. Dann bemerkte Sajhë unter den Röcken das Seil zwischen ihren Knöcheln, das ihr nur ganz kleine Schritte erlaubte.
Sajhë zwang sich, ruhig zu bleiben, abzuwarten, bis sie die Lichtung direkt unterhalb der Höhle erreichten.
»Du hast gesagt, es wäre gleich hinter den Bäumen.«
Bertrande murmelte etwas, aber so leise, dass Sajhë nichts verstand.
»Ich hoffe für dich, dass du die Wahrheit sagst«, entgegnete Oriane.
»Es ist da vorn«, sagte Bertrande. Ihre Stimme klang ruhig, doch Sajhë konnte trotzdem die nackte Angst heraushören, und sein Herz verkrampfte sich.
Sie hatten geplant, Oriane am Höhleneingang zu überrumpeln. Sajhë sollte Bertrande aus Orianes Reichweite schaffen, und Guilhem würde sie entwaffnen, ehe sie dazu kam, ihr Messer zu benutzen.
Sajhë schaute zu Guilhem hinüber, der ihm mit einem Nicken signalisierte, dass er bereit war.
»Aber Ihr dürft da nicht rein«, sagte Bertrande gerade. »Es ist ein heiliger Ort. Den dürfen nur die Hüter betreten.«
»Ach ja?«, höhnte Oriane. »Wer will mich denn daran hindern? Du etwa?« Ein verbitterter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Du bist ihr so ähnlich, dass es mich anwidert«, sagte sie und zog ruckartig an dem Seil, sodass Bertrande vor Schmerz aufschrie. »Alaïs hat auch immer allen gesagt, was sie zu tun haben. Hat sich immer für was Besseres gehalten.«
»Das stimmt nicht«, rief Bertrande, die trotz ihrer hoffnungslosen Lage nicht den Mut verlor. Sajhë betete, dass sie sich zügelte. Alaïs wäre stolz auf sie, das wusste er. Genau wie er stolz auf sie war. Sie war wahrhaftig das Kind ihrer Eltern. Bertrande hatte angefangen zu weinen. »Es ist nicht richtig. Ihr dürft da nicht reingehen. Es wird Euch daran hindern. Das Labyrinth wird sein Geheimnis schützen. Vor Euch und jedem anderen, der zu Unrecht danach strebt.«
Oriane stieß ein kurzes Lachen aus. »Mit solchen Geschichten jagt man nur dummen kleinen Mädchen wie dir Angst ein.« Bertrande ließ sich nicht einschüchtern. »Ich führe Euch nicht mehr weiter.«
Oriane hob die Hand und schlug Bertrande so heftig ins Gesicht, dass sie nach hinten gegen einen Felsen prallte. Ein roter Nebel füllte Sajhës Kopf. Mit drei, vier Schritten stürzte er sich mit mörderischem Gebrüll auf Oriane.
Oriane reagierte zu schnell für ihn. Sie zerrte Bertrande auf die Beine und presste ihr das Messer an die Kehle.
»Wie ärgerlich. Ich dachte, mein Sohn hätte das kleine Problem aus der Welt geschafft. Ihr wart schließlich Gefangener - so hat man mir zumindest gesagt -, aber sei's drum.«
Sajhë lächelte Bertrande an, um ihr Mut zu machen.
»Lasst das Schwert fallen«, sagte Oriane ruhig, »oder ich töte sie.«
»Sajhë, es tut mir Leid, dass ich dir nicht gehorcht habe«, rief Bertrande, »aber sie hatte deinen Ring. Und sie hat gesagt, du hättest sie geschickt, um mich zu holen.«
»Nicht meinen Ring, brava«, sagte Sajhë. Er ließ das Schwert fallen. Es fiel laut scheppernd auf den harten Boden.
»Schon besser. Und jetzt komm näher, damit ich dich besser sehen kann. Das reicht. Halt.« Sie lächelte. »So ganz allein?« Sajhë sagte nichts. Oriane drückte Bertrande die Klinge fester gegen die Kehle und brachte ihr dann einen kleinen Schnitt unter dem Ohr bei. Bertrande schrie auf, und ein Blutfaden rann ihr den Hals herab, wie ein rotes Band auf der blassen Haut. »Lass sie los, Oriane. Es geht dir doch um mich, nicht um sie.«
Als Alaïs Stimme erklang, schien selbst dem Berg der Atem zu stocken.
Ein Geist? Guilhem hätte es nicht sagen können.
Er hatte das Gefühl, als wäre ihm die Luft aus dem Körper gesaugt worden, hätte ihn hohl und schwerelos zurückgelassen. Er wagte es nicht, aus seinem Versteck zu kommen, weil er Angst hatte, die Erscheinung zu vertreiben. Er blickte Bertrande an, die ihrer Mutter so ähnlich sah, und dann den Hang hinunter zu der Stelle, wo Alaïs stand, wenn sie es denn war.
Eine Pelzkapuze umrahmte ihr Gesicht, und ihr Reitmantel, schmutzig von dem langen Ritt, glitt über den weißen, frostigen Boden. Ihre Hände steckten in warmen Lederhandschuhen und waren vor dem Körper gefaltet.
»Lass sie los, Oriane.«
Ihre Worte brachen den Bann.
»Mama«, schrie Bertrande und streckte verzweifelt die Arme aus.
»Das kann nicht sein ...«, sagte Oriane und kniff die Augen zusammen. »Du bist tot. Ich habe gesehen, wie du gestorben bist.« Sajhë machte einen weiteren Versuch, Bertrande zu befreien, aber er war wieder nicht schnell genug.
»Keinen Schritt näher«, rief Oriane und gewann die Fassung zurück. Sie zerrte Bertrande nach hinten auf den Höhleneingang zu. »Ich bring sie um, das schwöre ich.«
»Mama!«
»Das kann nicht sein ... ich hab dich doch sterben sehen.«
Alaïs machte einen Schritt nach vorn. »Lass sie los, Oriane. Es geht dir doch um mich.«
»Nicht um dich, Schwester. Du hast das Buch der Wörter. Allein darum geht es mir. Ce n'est pas difficile.«
»Und wenn du es dann hast?«
Guilhem war wie gelähmt. Er wollte seinen Augen noch immer nicht trauen, dass das wirklich Alaïs war, wie er sie sich so oft erträumt hatte, wenn er wach war oder schlief.
Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit, das Funkeln von stählernen Helmen. Guilhem spähte in die Richtung. Zwei Soldaten schlichen sich durch das Buschwerk von hinten an Alaïs heran. Und von links hörte er das Geräusch eines Stiefels auf Stein.
»Ergreift sie!«
Der Soldat, der Sajhë am nächsten war, packte seine Arme und hielt ihn fest, während die anderen aus der Deckung hervorbrachen. Blitzschnell zog Alaïs ihr Schwert, wirbelte herum und stieß die Klinge in die Seite des Soldaten, der als Erster bei ihr
war. Er fiel. Der andere Soldat stürzte sich auf sie. Funken sprühten, als die Klingen wirbelnd aufeinander prallten.
Alaïs hatte den Vorteil, etwas höher zu stehen, aber sie war kleiner und schwächer.
Guilhem sprang aus seinem Versteck und rannte zu ihr, doch genau in dem Augenblick strauchelte sie und fiel. Der Soldat machte einen Satz nach vorn und stieß ihr die Klinge in den Arm. Alaïs schrie auf, ließ das Schwert fallen und presste den Handschuh auf die blutende Wunde.
»Mama!«
Guilhem hechtete die letzten Meter nach vorn und rammte sein Schwert in den Bauch des Mannes. Blut schoss dem Getroffenen aus dem Mund. Die Augen traten ihm vor Schreck aus den Höhlen, dann fiel er.
Guilhem blieb keine Zeit, Atem zu schöpfen.
»Guilhem!«, schrie Alaïs. »Achtung.«
Er fuhr herum und sah zwei weitere Soldaten den Hang heraufkommen. Mit einem Knurren zog er sein Schwert aus dem am Boden Liegenden und ging auf sie los. Die Klinge zischte durch die Luft, als er sie mit wilden, gnadenlosen Hieben zurücktrieb. Er war der bessere Schwertkämpfer, aber sie waren zu zweit. Sajhë war jetzt gefesselt und lag auf den Knien. Einer der Soldaten bewachte ihn, die Spitze seines Messers an Sajhës Nacken, während der andere seine Kameraden gegen Guilhem unterstützte. Er kam in Alaïs' Reichweite. Obwohl sie viel Blut verloren hatte, schaffte sie es mit letzter Kraft, ihr Messer aus dem Gürtel zu ziehen und zuzustechen. Der Mann brüllte auf, als ihm die Klinge tief in den Oberschenkel drang.
Blind vor Schmerz schlug er um sich. Guilhem sah, wie Alaïs nach hinten flog und mit dem Kopf gegen einen Felsen schlug. Sie versuchte stehen zu bleiben, aber sie war benommen, taumelte, und die Beine gaben unter ihr nach. Sie sank zu Boden. Blut strömte aus einer Platzwunde an ihrem Kopf.
Der Soldat, in dessen Bein noch immer das Messer steckte, kam wie ein verwundeter, gehetzter Bär schwerfällig auf Guilhem zu. Guilhem sprang zurück, um ihm auszuweichen, und rutschte auf dem schlüpfrigen Boden aus. Geröll prasselte den Hang hinunter. Die beiden anderen nutzten die Gelegenheit aus. Sie stürzten sich auf ihn, rissen ihn zu Boden und pressten ihm das Gesicht nach unten.
Er spürte eine Rippe brechen, als ein Stiefel ihn in die Seite traf. Er zuckte vor Schmerzen, als er den nächsten Tritt abbekam. Er schmeckte Blut.
Alaïs gab keinen Laut von sich. Reglos lag sie da.
Dann hörte er Sajhë schreien. Guilhem hob den Kopf und sah gerade noch, wie Sajhë von seinem Bewacher mit der flachen Schwertseite seitlich am Kopf getroffen wurde und bewusstlos umkippte.
Oriane war inzwischen mit Bertrande in der Höhle verschwunden.
Brüllend brachte Guilhem seine letzten Kräfte auf und stemmte die auf ihm liegenden Soldaten hoch. Einer stürzte rücklings den Hang hinunter, dem anderen rammte er sein Schwert in den Hals, während Alaïs unsicher auf die Knie kam, dem dritten das Messer aus dem Bein riss und es ihm in den Rücken stieß. Der Mann heulte vor Schmerz auf, doch der Laut erstickte ihm in der Kehle. Sajhës Bewacher ließ mit schreckgeweiteten Augen sein Schwert fallen und ergriff die Flucht.
Plötzlich merkte Guilhem, dass alles ruhig geworden war.
Einen Augenblick lang starrte er Alaïs nur an. Noch immer fürchtete er sich, seinen Augen zu trauen, aus Angst, sie könnte ihm wieder genommen werden. Dann streckte er ihr die Hand entgegen.
Guilhem spürte, wie sich ihre und seine Finger ineinander schlangen. Er spürte ihre Haut, rau und wund, wie seine und ebenso kalt. Greifbar und wirklich.
»Ich dachte ...«
»Ich weiß«, sagte sie rasch.
Guilhem wollte sie nicht wieder loslassen, doch der Gedanke an Bertrande rief ihn zur Besinnung.
»Sajhë ist verletzt«, sagte er und eilte mit großen Schritten zum Höhleneingang. »Er braucht Eure Hilfe. Ich kümmere mich um Oriane.«
Alaïs bückte sich und sah nach Sajhë, dann lief sie sofort hinter Guilhem her.
»Er ist nur bewusstlos«, sagte sie. »Bleibt Ihr bei ihm. Sagt ihm, was geschehen ist. Ich muss Bertrande finden.«
»Nein, genau das will sie ja. Sie wird Euch zwingen, ihr das Versteck des Buches zu zeigen, und dann wird sie euch beide töten. Ohne Euch habe ich eine größere Chance, Eure Tochter lebend herauszuholen, versteht Ihr?«
»Unsere Tochter«, sagte sie.
Guilhem hörte die Worte, aber er verstand sie zunächst nicht. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
»Alaïs, was ...?«, setzte er an, doch da hatte sie sich schon unter seinem Arm hindurchgeduckt und rannte den Gang entlang in die Dunkelheit hinein.