Kapitel 8

 

Die Vesperglocke war längst verstummt, als Pelletier endlich aus dem Tour Pinte trat.

Er spürte jedes einzelne seiner zweiundfünfzig Jahre, als er den Vorhang beiseite hob und zurück in den Großen Saal ging. Mit müden Händen rieb er sich die Schläfen, um das unaufhörliche Hämmern in seinem Kopf zu lindern.

Vicomte Trencavel hatte im Anschluss an die Versammlung noch stundenlang mit seinen stärksten Verbündeten erörtert, wie man sich dem Comte von Toulouse am besten nähern sollte. Sie hatten etliche Entscheidungen gefällt, und Boten waren aus dem Chateau Comtal galoppiert, um Briefe nicht nur zu Raymond VI. zu bringen, sondern auch zu den päpstlichen Legaten, dem Abt von Citeaux und Trencavels Consuln und viguiers in Beziers. Die chevaliers, die den Vicomte begleiten sollten, waren in Kenntnis gesetzt worden. In den Ställen und in der Schmiede liefen bereits Vorbereitungen, die noch bis spät in die Nacht dauern würden.

Es lag eine gedämpfte, aber erwartungsvolle Stille im Saal. Da man am nächsten Morgen schon in aller Frühe aufbrechen würde, sollte statt des geplanten Banketts ein zwangloseres Abendessen stattfinden. Tischplatten waren in langen Reihen aufgebockt worden, die quer durch den Raum von Norden nach Süden verliefen. Es gab keine Tischtücher, aber in der Mitte jedes Tisches flackerten schummrige Kerzen. In den Halterungen hoch an der Wand loderten bereits die Fackeln und ließen die Schatten tanzen und springen.

Am hinteren Ende des Raumes gingen Diener ein und aus. Sie trugen Platten herein, die eher üppig als festlich waren. Hirsch- und anderes Wildbret, Hähnchenschenkel mit spanischem Pfeffer, Tonschüsseln mit Bohnen und Wurst und frisch gebackenem weißen Brot, in Honig gedämpfte dunkelblaue Pflaumen, hellroter Wein aus den Weinbergen der Corbières und Krüge mit Bier für alle, die nicht so viel vertrugen.

Pelletier nickte beifällig. Er war zufrieden. In seiner Abwesenheit hatte François ihn gut vertreten. Alles sah so aus, wie es aussehen sollte, und bot das richtige Maß an Höflichkeit und Gastlichkeit, wie es die Gäste des Vicomte Trencavel mit Recht erwarten konnten.

François war ein guter Diener, trotz seines unglücklichen Einstiegs in das Leben. Seine Mutter hatte im Dienst von Pelletiers französischer Frau Marguerite gestanden und war als Diebin gehenkt worden, als François noch ein Kind war. Sein Vater war unbekannt. Als Pelletiers Frau vor neun Jahren gestorben war, hatte er sich François' angenommen, ihn ausgebildet und als Diener eingestellt. Von Zeit zu Zeit gönnte er sich einen gewissen Stolz darauf, wie gut François sich entwickelt hatte.

Pelletier trat hinaus in den Cour d'Honneur. Hier war die Luft kühl, und er blieb einen Augenblick im Eingang stehen. Kinder tollten um den Brunnen, ernteten dann und wann von ihren Kinderfrauen einen Klaps auf die Beine, wenn sie zu ausgelassen wurden. Ältere Mädchen, die Arme eingehakt, schlenderten im Zwielicht umher, plauderten, flüsterten einander Geheimnisse zu.

Den kleinen dunkelhaarigen Jungen, der im Schneidersitz an der Kapelle vor der Mauer saß, bemerkte er zunächst gar nicht.

»Messire! Messire!«, rief der Junge und sprang auf. »Ich habe etwas für Euch.«

Pelletier achtete nicht auf ihn. »Messire.« Der Junge gab nicht auf und zupfte ihn sogar am Ärmel, um auf sich aufmerksam zu machen. »Intendant Pelletier, bitte. Wichtig.«

Er spürte, wie etwas in seine Hand geschoben wurde. Als er gereizt nach unten blickte, sah er, dass es ein Brief war, geschrieben auf dickem, cremefarbenem Pergament. Auf der Vorderseite stand sein Name in einer altvertrauten, unverwechselbaren Handschrift. Pelletier hatte sich eingeredet, dass er sie nie Wiedersehen würde.

Er packte den Jungen beim Nacken. »Woher hast du den Brief?«, fragte er beschwörend und schüttelte ihn grob. »Sprich.« Der Junge zappelte wie ein Fisch am Haken, versuchte sich loszureißen. »Sag schon. Sofort.«

»Den hat mir ein Mann am Tor gegeben«, wimmerte der Kleine. »Tut mir nicht weh. Ich habe nichts getan.«

Pelletier schüttelte ihn noch fester. »Was für ein Mann?«

»Ein Mann eben.«

»So einfach kommst du mir nicht davon«, schnauzte Pelletier ihn an, und seine Stimme wurde lauter. »Du kannst dir einen soi verdienen, wenn du mir sagst, was ich wissen will. War der Mann jung? Alt? War es ein Soldat?« Er stockte. »Ein Jude?«

Er schoss Frage um Frage ab, bis er dem Jungen, er hieß Pons, alles aus der Nase gezogen hatte. Viel war es nicht. Pons erzählte, dass er mit seinen Freunden in dem Graben vom Château Comtal gespielt hatte. Sie wollten von einer Seite der Brücke zur anderen gelangen, ohne von den Wachen erwischt zu werden. Als es anfing zu dämmern, hatte ein Mann sie angesprochen und gefragt, ob einer von ihnen den Intendant Pelletier vom Sehen kenne. Pons hatte bejaht, und der Mann hatte ihm einen soi dafür gegeben, dass er den Brief überbrachte. Er hatte gesagt, es sei sehr wichtig und sehr dringend.

Der Mann hatte nichts Auffälliges an sich gehabt. Er war mittleren Alters, weder jung noch alt. Seine Haare und seine Haut waren nicht besonders dunkel und auch nicht besonders hell. Ihm war nicht aufgefallen, ob der Mann einen Ring trug, weil seine Hände unter dem Mantel versteckt gewesen waren.

Als Pelletier endlich überzeugt war, dass aus dem Jungen nicht mehr herauszuholen war, griff er in seinen Geldbeutel und gab ihm eine Münze.

»Hier. Das ist für deine Mühe. Und nun geh.«

Das ließ sich Pons nicht zweimal sagen. Er rannte davon, so schnell ihn seine Beine trugen.

 

Pelletier ging wieder hinein, den Brief fest an die Brust gedrückt. Er bemerkte niemanden, als er durch den Gang eilte, der zu seinem Gemach führte.

Die Tür war verschlossen. Pelletier verfluchte seine eigene Vorsicht, als er vor lauter Hast den Schlüssel nicht gleich ins Schloss bekam. François hatte die calèlhs angezündet, die Öllampen, und ihm wie jeden Abend für die Nacht ein Tablett mit einem Krug Wein und zwei Tonbechern auf den Tisch in der Mitte des Raumes gestellt. Das glänzend polierte Messingtablett schimmerte in dem flackernden goldenen Licht.

Pelletier goss sich einen Becher ein, um seine Nerven zu beruhigen, und in seinem Kopf überschlugen sich angestaubte Bilder, Erinnerungen an das Heilige Land und die langen roten Schatten der Wüste. An die drei Bücher und das uralte Geheimnis, das ihre Seiten bargen.

Der deftige Wein schmeckte sauer auf der Zunge und rann ihm schmerzhaft durch die Kehle. Er leerte den Becher in einem Zug und füllte ihn erneut. Viele Male hatte er sich vorzustellen versucht, wie er sich in diesem Augenblick fühlen würde. Und jetzt, wo der Augenblick endlich gekommen war, fühlte er sich taub.

Pelletier setzte sich, legte den Brief auf den Tisch und die Hände flach daneben. Er wusste, was darin stand. Es war die Botschaft, die er seit vielen Jahren erwartet und gefürchtet hatte, seit er nach Carcassonne gekommen war. In jener Zeit war das blühende und aufgeschlossene Land des Midi ein scheinbar sicheres Versteck gewesen.

Und dann, während Jahr für Jahr verging, hatte Pelletier immer weniger damit gerechnet, irgendwann gerufen zu werden. Der Alltag hatte sein Leben bestimmt. Die Gedanken an die Bücher waren aus seinem Kopf gewichen. Am Ende hatte er fast vergessen, dass er überhaupt auf etwas wartete.

Über zwanzig Jahre waren vergangen, seit er den Verfasser des Briefes zuletzt gesehen hatte. Bis jetzt, so wurde ihm klar, hatte er nicht einmal gewusst, ob sein Lehrer und Mentor noch lebte. Denn Harif war es gewesen, der ihn im Schatten der Olivenhaine auf den Hügeln vor den Toren Jerusalems lesen gelehrt hatte. Harif war es, der seine Sinne für eine Welt geöffnet hatte, die herrlicher war, wunderbarer war als alles, was Pelletier je gekannt hatte. Harif war es, der ihn darüber aufgeklärt hatte, dass Sarazenen, Juden und Christen alle nur unterschiedliche Pfade zu dem einen Gott beschritten. Und Harif war es, der ihm offenbart hatte, dass jenseits von allem Wissen eine Wahrheit lag, die viel älter, ehrwürdiger und absoluter war als alles, was die Welt seiner Zeit zu bieten hatte.

Die Nacht von Pelletiers Aufnahme in die Noublesso de los Ser es stand ihm noch so deutlich und klar vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Die schimmernden goldfarbenen Gewänder und das gebleichte Weiß des Altartuches, so blendend wie die Festungen, die auf den Bergen oberhalb von Aleppo zwischen Zypressen und Orangenhainen leuchteten. Der Duft des Weihrauchs, das Auf und Nieder der Stimmen, die in der Dunkelheit raunten. Erleuchtung.

In jener Nacht, die eine Ewigkeit zurücklag, wie es Pelletier inzwischen erschien, hatte er in das Herz des Labyrinths geblickt und geschworen, das Geheimnis mit seinem Leben zu schützen. Er zog die Öllampe näher heran. Selbst wenn das Siegel nicht wäre, hätte er keinen Zweifel daran, dass der Brief von Harif war. Seine Handschrift war unverwechselbar, die Eleganz der Buchstaben und die exakten Proportionen.

Pelletier schüttelte den Kopf, versuchte die Erinnerungen zu vertreiben, die ihn zu überwältigen drohten. Er holte tief Luft, schob dann das Messer unter das Siegel. Das Wachs riss mit einem leisen Knacken auf. Er strich das Pergament glatt.

Der Brief war kurz. Oben auf dem Blatt waren die Symbole, die Pelletier an den gelben Wänden der Labyrinth-Höhle in den Bergen außerhalb der Heiligen Stadt gesehen hatte. Es waren Schriftzeichen der alten Sprache von Harifs Ahnen, und außer den Eingeweihten der Noublesso verstand sie niemand mehr.

 

Pelletier sprach die Wörter laut, und ihr vertrauter Klang beruhigte ihn. Dann las er Harifs Brief.

 

Fraire,

es ist Zeit. Dunkelheit senkt sich über dieses Land. Schreckliches liegt in der Luft, etwas Böses, das alles Gute zerstören und verderben wird. Die Texte sind in den Ebenen des Pays d'Oc nicht mehr sicher. Es ist Zeit, die Trilogie wieder zu vereinen. Euer Bruder erwartet Euch in Besiers, Eure Schwester in Carcassona. Euch fällt die Aufgabe zu, die Bücher an einen sichereren Ort zu bringen.

Zaudert nicht. Die Sommerpässe nach Navarra werden an Toussaints geschlossen sein, vielleicht auch früher, wenn der Schnee früh kommt. Ich werde Euch zum Festtag von Sant Miquel erwarten.

Pas a pas, se va luenh.

 

Der Stuhl knarrte, als Pelletier sich jäh zurücklehnte. Es war nicht mehr, als er erwartet hatte. Harifs Anweisungen waren klar. Er verlangte nur das, was Pelletier einmal geschworen hatte. Und doch fühlte er sich, als wäre ihm die Seele aus dem Leib gesaugt worden und hätte eine hohle Leere hinterlassen.

Seinen Schwur, die Bücher zu hüten, hatte er freiwillig gegeben, aber voll jugendlicher Naivität. Jetzt, am Ende seiner mittleren Lebensjahre, war alles komplizierter geworden. Er hatte sich hier in Carcassonne ein anderes Leben geschaffen. Er hatte andere Bindungen, liebte andere Menschen und diente anderen.

Erst jetzt wurde ihm klar, wie felsenfest er sich eingeredet hatte, dass der Augenblick der Erfüllung seiner Pflicht nicht mehr zu seinen Lebenszeiten kommen würde. Dass er nie gezwungen werden würde, sich zwischen seiner Treue und Freundschaft zu Vicomte Trencavel und seiner Pflicht gegenüber der Noublesso entscheiden zu müssen.

Niemand konnte zwei Herren ehrenhaft dienen. Wenn er tat, was Harif von ihm verlangte, musste er den Vicomte in der Stunde größter Not im Stich lassen. Doch jeder Augenblick, den er an Raymond-Rogers Seite blieb, wäre eine Verweigerung seiner Pflicht gegenüber der Noublesso.

Pelletier las den Brief erneut, betete darum, dass ihm eine Lösung einfiel. Diesmal stachen ihm bestimmte Worte, bestimmte Formulierungen ins Auge. »Euer Bruder erwartet Euch in Besiers.«

Damit konnte Harif nur Simeon meinen. Aber in Beziers? Pelletier hob den Becher an die Lippen und trank, ohne etwas zu schmecken. Wie seltsam, dass Simeon ihm nach vielen Jahren der Abwesenheit gerade heute mit solcher Macht in den Sinn gekommen war.

Eine Laune des Schicksals ? Zufall ? Pelletier glaubte weder an das eine noch an das andere. Aber wie war dann das Grauen zu erklären, das ihn erfasst hatte, als Alaïs die Leiche des Mannes beschrieb, der ermordet im Wasser der Aude trieb? Es gab keinen Grund für die Befürchtung, dass es Simeon wäre, und doch war er sich so sicher gewesen.

Und dann: »Eure Schwester in Carcassona.«

Verwundert malte Pelletier mit der Fingerspitze ein Muster in die dünne Staubschicht auf dem Holztisch. Ein Labyrinth.

Sollte Harif eine Frau zur Hüterin gemacht haben? War sie die ganze Zeit hier in Carcassonne gewesen, direkt vor seiner Nase? Er schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein.


Das Verlorene Labyrinth
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