Kapitel 78
Los Seres

 

Marc 1244

 

Trotz Sajhës Verletzungen kamen sie gut voran. Von Montsegur aus folgten sie dem Verlauf des Flusses nach Süden. Sie hatten wenig Gepäck und ritten scharf, hielten nur an, um kurz zu rasten und die Pferde an zugefrorenen Bächen zu tränken, wo sie mit den Schwertern ein Loch ins Eis brachen. Guilhem merkte rasch, dass Sajhë die Gegend viel besser kannte als er.

Er wusste ein wenig über Sajhës Vergangenheit, zum Beispiel, dass er Botschaften von den parfaits in die einsamen und weit verstreuten Dörfer der Pyrenäen gebracht und die Rebellen mit Informationen versorgt hatte. Es war offensichtlich, dass der jüngere Mann jedes Tal, jeden Pass und jeden verborgenen Pfad in den Wäldern, Schluchten und Ebenen kannte.

Zugleich spürte Guilhem, dass Sajhë ihn aus tiefstem Herzen ablehnte, wenngleich er nichts sagte. Es war, als würde ihm eine gnadenlose Sonne im Nacken brennen. Guilhem kannte Sajhës Ruf als verlässlichen, tapferen und ehrbaren Mann, der bereit war, sein Leben für das, woran er glaubte, zu opfern.

Und trotz seiner Feindseligkeit konnte Guilhem verstehen, warum Alaïs diesen Mann lieben und ein Kind mit ihm haben konnte, auch wenn der Gedanke für ihn wie ein Stich ins Herz war.

Sie hatten Glück. In der Nacht fiel kein frischer Schnee. Der folgende Tag, der 19. März, war hell und klar, mit nur wenigen Wolken und kaum Wind.

Sajhë und Guilhem erreichten Los Seres in der Abenddämmerung. Das Dorf duckte sich versteckt in einem kleinen abgeschiedenen Tal, und trotz der Kälte lag der weiche Duft des Frühlings in der Luft. Die Bäume am Rande des Dorfes waren mit grünen und weißen Knospen übersät. Die allerersten Frühlingsblumen lugten verschämt aus den Hecken und Böschungen, als sie den Pfad entlangritten, der zu der kleinen Ansammlung von Häusern führte. Das Dorf schien menschenleer zu sein, verlassen.

Die beiden Männer saßen ab und führten ihre Pferde das letzte Stück bis zur Dorfmitte. Das Geräusch der Hufeisen auf Stein und Pflaster und harter Erde hallte laut durch die Stille. Aus einigen wenigen Häusern stiegen vorsichtig dünne Rauchfahnen auf. Durch die Ritzen der Fensterläden spähten argwöhnische Augen und verschwanden dann gleich wieder. Französische Deserteure waren hier oben in den Bergen zwar eine Seltenheit, aber nicht gänzlich unbekannt. Normalerweise bedeuteten sie Ärger.

Sajhë band sein Pferd neben dem Brunnen an. Guilhem tat es ihm gleich und folgte ihm dann durch das Dorf bis zu einer kleinen Hütte. Im Dach fehlten Schindeln, und die Fensterläden waren reparaturbedürftig, aber die Mauern waren robust. Guilhem dachte, dass es nicht schwer sein dürfte, das Häuschen wieder zum Leben zu erwecken.

Guilhem wartete, während Sajhë gegen die Tür drückte. Sie hatte sich durch Feuchtigkeit verzogen und bebte in den Angeln, da sie so lange nicht benutzt worden waren, doch sie öffnete sich knarrend weit genug, um Sajhë einzulassen.

Guilhem trat hinter ihm ein. Nasskalte, grabähnliche Luft legte sich ihm auf Gesicht und Hände, und bald hatte er kein Gefühl mehr in den Fingern. An der Wand gegenüber der Tür lag ein Berg aus Laub und Reisig, der offenbar vom Winterwind hereingeweht worden war. Eisfinger überzogen die Innenseite der Fensterläden und lagen wie ein zerzauster Fransenbesatz auf der Türschwelle.

Die Überreste eines Mahls standen auf dem Tisch. Ein alter Krug, Teller, Becher und ein Messer. Auf dem abgestandenen Wein schwamm eine Schimmelschicht, wie grüne Wasserpflanzen auf einem Teich. Die Bänke waren ordentlich an der Wand aufgereiht.

»Ist das Euer Heim?«, fragte Guilhem behutsam.

Sajhë nickte.

»Wann seid Ihr fortgegangen?«

»Vor einem Jahr.«

In der Mitte des Raumes hing ein verrosteter Kochtopf über einem Haufen Asche und verkohltem, längst verglimmtem Holz. Guilhem sah gerührt, wie Sajhë sich vorbeugte und den Deckel geraderückte.

Weiter hinten im Raum war ein zerschlissener Vorhang. Sajhë hob ihn an, und dahinter kam ein weiterer Tisch mit je zwei Stühlen auf jeder Seite zum Vorschein. An der Wand waren Regale mit schmalen, fast leeren Brettern. Ein alter Mörser mit Stößel, ein paar Schalen und Tiegel, einige verstaubte Gläser, das war alles, was noch übrig war. Über dem Regal waren in der niedrigen Decke kleine Haken befestigt, an denen ein paar staubige Kräutersträuße hingen. Ein dürrer Zweig Flohkraut und ein Büschel Brombeerblätter.

»Für ihre Arzneien«, sagte Sajhë zu Guilhems Überraschung. Er hatte still dagestanden, die Hände vor dem Körper gefaltet, weil er Sajhë nicht in seinen Erinnerungen stören wollte.

»Die Leute kamen von überall her, Männer wie Frauen. Wenn sie krank waren oder ihre Seele betrübt war oder um ihre Kinder gesund durch den Winter zu bringen. Bertrande ... Sie durfte Alaïs bei der Zubereitung helfen und brachte Lieferungen zu den Familien.«

Sajhë geriet ins Stocken, dann verstummte er. Guilhem merkte, dass er selbst einen Kloß im Hals hatte. Er musste an die Fläschchen und Gläser denken, die Alaïs in ihrem Gemach im Chateau Comtal gesammelt hatte, an ihre stille Konzentration bei der Arbeit.

Sajhë ließ den Vorhang aus der Hand gleiten. Er rüttelte kurz versuchsweise an den Leitersprossen und stieg dann behutsam auf die obere Plattform. Von der Schlafstatt der Familie war nur noch ein Haufen aus alten Decken und verrottetem Stroh geblieben, von Schimmel zerfressen und von Tieren besudelt. Daneben stand eine einsame Kerze in erstarrten Wachsresten, und die verräterischen Rauchspuren zogen sich als ein einziger Fleck an der Wand dahinter hoch.

Guilhem ertrug es nicht, Sajhës Trauer noch länger mit anzusehen, und er ging nach draußen, um dort zu warten. Er hatte kein Recht, ihn zu stören.

Einige Zeit später tauchte Sajhë wieder auf. Seine Augen waren gerötet, aber seine Hände waren ruhig, und er kam geradewegs auf Guilhem zu, der am höchsten Punkt des Dorfes stand und nach Westen blickte.

»Wann wird es morgens hell?«, fragte er, als Sajhë bei ihm war. Die beiden Männer waren gleich groß, doch die Falten in Guilhems Gesicht und die grauen Strähnen in seinem Haar verrieten, dass er dem Grab fünfzehn Jahre näher war.

»Um diese Jahreszeit geht die Sonne in den Bergen spät auf.« Guilhem schwieg einen Moment. »Was habt Ihr vor?«, fragte er, womit er Sajhë das Recht zugestand, von nun an die Führung zu übernehmen.

»Wir müssen die Pferde unterstellen und uns ein Plätzchen zum Schlafen suchen. Ich glaube nicht, dass sie vor morgen früh hier sein werden.«

»Ihr wollt nicht ...«, setzte Guilhem mit Blick auf das Haus an. »Nein«, sagte er rasch. »Dort nicht. Ich kenne eine Frau, die uns Essen und Unterkunft für die Nacht geben wird. Morgen müssen wir weiter den Berg hinauf und irgendwo in der Nähe der Höhle auf sie warten.«

»Ihr denkt, Oriane wird nicht ins Dorf kommen?«

»Sie wird sich inzwischen denken können, wo Alaïs das Buch der Wörter versteckt hat. In den letzten dreißig Jahren hatte sie genug Zeit, die anderen beiden Bücher zu studieren.«

Guilhem warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Und hat sie Recht? Ist es noch immer in der Höhle?«

Sajhë ging nicht auf die Frage ein. »Ich verstehe einfach nicht, wie Oriane Bertrande dazu gebracht hat, mit ihr zu kommen«, sagte er. »Ich habe ihr eingeschärft, dass sie ohne mich nirgendwo hingehen soll. Dass sie warten soll, bis ich sie hole.« Guilhem sagte nichts. Was hätte er auch sagen können, um die Ängste des jüngeren Mannes zu beschwichtigen? Sajhës Zorn war jedoch schnell verflogen.

»Meint Ihr, Oriane hat die anderen beiden Bücher bei sich?«, fragte er unvermittelt.

Guilhem schüttelte den Kopf. »Ich vermute, die Bücher sind sicher in ihren Gewölben irgendwo in Evreux oder Chartres. Warum sollte sie das Risiko eingehen, sie hierher zu bringen?« »Habt Ihr sie geliebt?«

Die Frage kam völlig überraschend. »Ich habe sie begehrt«, sagte Guilhem langsam. »Ich war betört von ihr, kam mir furchtbar wichtig vor, ich ...«

»Nicht Oriane«, unterbrach Sajhë ihn, »Alaïs

Guilhem hatte das Gefühl, als schlösse sich ein eisernes Band um seine Kehle.

»Alaïs«, flüsterte er. Einen Augenblick lang rissen ihn die Erinnerungen mit, doch Sajhës forschender Blick holte ihn zurück in die kalte Gegenwart.

»Nachdem ...« Seine Stimme war unsicher. »Nachdem Carcassona gefallen war, habe ich sie nur noch einmal gesehen. Sie blieb drei Monate bei mir. Sie war von den Inquisitoren verhaftet worden, und ...« »Ich weiß«, schrie Sajhë, dann schien seine Stimme in sich zusammenzufallen. »Ich weiß davon.«

Guilhem war Sajhës Reaktion unbegreiflich, und er hielt den Blick geradeaus gerichtet. Zu seiner eigenen Verwunderung merkte er, dass er lächelte.

»Ja.« Das Wort schlüpfte ganz leicht aus seinem Mund. »Ich habe sie über alles geliebt. Ich habe einfach nicht verstanden, wie kostbar Liebe ist, wie zerbrechlich, bis ich sie mit eigenen Händen zerstört hatte.«

»Habt Ihr Alaïs deshalb gehen lassen? Als sie aus Toulouse hierher zurückkehrte?«

Guilhem nickte. »Nach diesen gemeinsamen Wochen war es bei Gott schwer, ihr fernzubleiben. Sie nur noch einmal zu sehen ... Ich hatte gehofft, wenn das alles vorbei wäre, dass wir dann vielleicht wieder ... Aber sie hat ja Euch gefunden. Und jetzt ...« Guilhems Stimme brach. Seine Augen waren voller Tränen, brannten in der Kälte. Er spürte neben sich, dass Sajhë unruhig wurde. Einen Moment lang schien sich das Licht zwischen ihnen zu verändern.

»Verzeiht mir, dass ich vor Euch die Fassung verliere.« Er atmete tief durch. »Die Prämie, die Oriane auf Alaïs' Kopf ausgesetzt hatte, war hoch und selbst für jene verlockend, die keinen Grund hatten, ihr Übles zu wünschen. Ich habe Orianes Spitzel bezahlt, damit sie ihr falsche Informationen lieferten. So habe ich dreißig Jahre lang mitgeholfen, dass sie ungestört leben konnte.« Wieder stockte Guilhem. Das Bild des brennenden Buches vor dem verkohlten roten Mantel drängte sich wie ein unwillkommener Gast in seine Gedanken.

»Ich wusste nicht, dass ihr Glaube so stark war«, sagte er. »Oder dass ihr Vorsatz, das Buch der Wörter vor Orianes Zugriff zu bewahren, sie so weit treiben würde.«

Er schaute Sajhë an, versuchte die Wahrheit zu erkennen, die in seinen Augen stand.

»Ich wünschte, sie hätte sich nicht für den Tod entschieden«, sagte er einfach. »Ich wünschte es für Euch, den Mann, den sie erwählt hat, und für mich, den Narr, der ihre Liebe einst besaß und sie verlor.« Er zögerte. »Doch am meisten für ihre Tochter. Zu wissen, dass Alaïs ...«

»Warum helft Ihr uns?«, unterbrach Sajhë ihn. »Warum seid Ihr hergekommen?«

»Nach Montsegur?«

Sajhë schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nicht nach Montsegur. Hierher. Jetzt.«

»Rache«, sagte Guilhem.


Das Verlorene Labyrinth
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