Kapitel 5

 

Als Alaïs ihren treuen Schatten abgeschüttelt und wieder ins Chateau Comtal zurückgekehrt war, läuteten schon die Mittagsglocken von Sant-Nasari.

Sie war sehr müde und stolperte mehrmals, als sie die Treppe hinaufstieg, die ihr steiler als sonst vorkam. Sie hatte nur noch den Wunsch, sich ungestört in ihrem Gemach auszuruhen.

Zu ihrer Überraschung war die Tür noch geschlossen. Inzwischen hätte das Zimmer bereits gemacht sein müssen. Die Vorhänge rund ums Bett waren zugezogen. Im Dämmerlicht sah Alaïs, dass François ihrem Wunsch gemäß den panier auf den niedrigen Tisch neben dem offenen Kamin gestellt hatte.

Sie setzte das Brett mit dem Käse auf dem Nachttisch ab, ging dann zum Fenster, öffnete die Läden und machte sie fest. Sie hätten längst zum Lüften geöffnet sein sollen. Das Tageslicht strömte herein, ließ eine Staubschicht auf den Möbeln und die verschlissenen Stellen an den Bettvorhängen sichtbar werden. Alaïs ging zum Bett hinüber und zog die Vorhänge zurück.

Zu ihrer Verblüffung schlief Guilhem noch immer. Erstaunt starrte sie ihn an. Er sah so unglaublich entspannt aus, so schön. Selbst Oriane, die nur selten ein gutes Wort über andere verlor, gab zu, dass Guilhem einer der stattlichsten chevaliers von Vicomte Trencavel war.

Alaïs setzte sich neben ihn auf die Bettkante und fuhr mit der Hand über seine goldbraune Haut. Dann tunkte sie in einer unerklärlich kühnen Anwandlung einen Finger in den weichen, feuchten Ziegenkäse und verrieb ein bisschen davon auf den

Lippen ihres Mannes. Er öffnete nicht die Augen, doch er lächelte träge und hob die Hand.

Alaïs hielt die Luft an. Die Luft um sie schien vor Erwartung und Vorfreude zu vibrieren, als sie sich von ihm herabziehen ließ. Der innige Augenblick wurde vom Geräusch schwerer Schritte auf dem Gang jäh zerstört. Irgendwer brüllte Guilhems Namen, eine vertraute Stimme, vor Zorn verzerrt. Alaïs sprang auf. Schon die Vorstellung, dass ihr Vater eine so vertrauliche Szene zwischen ihnen sehen könnte, war ihr entsetzlich peinlich. Guilhems Augen flogen auf, und im selben Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Pelletier kam ins Zimmer gestürmt, dicht gefolgt von François.

»Ihr seid zu spät, du Mas«, donnerte er, schnappte sich den Mantel, der auf einem Stuhl lag, und schleuderte ihn seinem Schwiegersohn an den Kopf. »Steht auf! Alle anderen sind schon im Großen Saal und warten.«

Guilhem fuhr auf. »Im Großen Saal?«

»Vicomte Trencavel hat seine chevaliers zusammengerufen, und Ihr liegt hier im Bett. Meint Ihr, Ihr könnt einfach tun, was Euch beliebt?« Pelletier stand jetzt vor Guilhem. »Und? Was habt Ihr zu Eurer Entschuldigung zu sagen?«

Plötzlich bemerkte Pelletier seine Tochter auf der anderen Seite des Bettes. Sein Gesicht wurde weicher. »Verzeih mir, Filha. Ich hatte dich nicht gesehen. Geht es dir besser?«

Sie neigte den Kopf. »Danke, Messire, ich fühle mich recht gut.« »Besser?«, fragte Guilhem verwirrt. »Habt Ihr Euch schlecht gefühlt? Ist etwas mit Euch?«

»Steht auf! «, schrie Pelletier, der jetzt wieder seinen Schwiegersohn ansah. »Ihr habt so viel Zeit, wie ich brauche, um die Treppe hinunterzugehen und den Hof zu überqueren, du Mas. Wenn Ihr bis dahin nicht im Großen Saal seid, könnt Ihr was erleben!« Ohne ein weiteres Wort machte Pelletier auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Schlafgemach.

In der peinlichen Stille, die daraufhin entstand, war Alaïs vor lauter Verlegenheit wie festgewachsen, doch sie hätte nicht sagen können, ob sie sich für ihren Mann oder sich selbst schämte. Guilhem fuhr aus der Haut. »Was bildet der sich ein, hier hereinzuplatzen, als ob ich sein Eigentum wäre? Für wen hält er sich?« Mit einem wütenden Tritt beförderte er die Decke zu Boden und sprang aus dem Bett. »Die Pflicht ruft«, sagte er sarkastisch. »Es ziemt sich nicht, den großen Intendant Pelletier warten zu lassen.«

Alaïs sagte nichts, aus Angst, Guilhem noch mehr zu erzürnen. Sie hätte ihm gern erzählt, was am Fluss geschehen war, wenn auch nur, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, aber sie hatte ihrem Vater versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen.

Guilhem war schon durchs Zimmer geeilt und kleidete sich mit dem Rücken zu ihr an. Seine Schultern waren angespannt, als er seinen Wappenrock überzog und den Gürtel umschnallte. »Vielleicht gibt es Neuigkeiten ...«, setzte sie an.

»Das ist keine Entschuldigung«, fauchte er. »Mir hat niemand Bescheid gesagt.«

»Ich ...« Alaïs verstummte. Was sollte sie auch sagen?

Sie hob seinen Mantel vom Bett und reichte ihn ihm. »Werdet Ihr lange fort sein?«, fragte sie leise.

»Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, warum ich überhaupt in den Rat gerufen werde«, sagte er noch immer wütend.

Unvermittelt schien sein Zorn zu verrauchen. Seine Schultern entspannten sich, und er drehte sich zu ihr um. Sein Blick war nicht mehr finster. »Verzeiht mir, Alaïs. Ihr könnt nichts für das Verhalten Eures Vaters.« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über das Kinn. »Kommt. Helft mir bitte.«

Guilhem beugte sich vor, damit Alaïs leichter an den Verschluss des Mantels kam. Trotzdem musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um die runde Brosche aus Silber und Kupfer an seiner Schulter zu befestigen.

»Mercé, mon cor«, sagte er, als sie fertig war. »Also gut. Dann wollen wir sehen, worum es eigentlich geht. Wahrscheinlich nichts Wichtiges.«

»Als wir heute Morgen zurück in die Cité geritten sind, ist ein Bote eingetroffen«, sagte sie, ohne zu überlegen.

Sofort schalt Alaïs sich selbst. Jetzt würde er bestimmt fragen, wo sie so früh schon gewesen war, noch dazu mit ihrem Vater, aber er war damit beschäftigt, sein Schwert unter dem Bett hervorzuholen, und hatte gar nicht richtig hingehört.

Bei dem harten Metallgeräusch, als er die Klinge zurück in die Scheide schob, zuckte Alaïs zusammen. Dieses Geräusch symbolisierte mehr als alles andere seinen Aufbruch aus ihrer Welt in die Welt der Männer.

Als Guilhem sich umdrehte, wehte sein Mantel gegen das Holzbrett, das ein Stück über die Tischkante ragte. Es fiel herab und polterte auf den Steinboden.

»Ist nicht schlimm«, sagte Alaïs rasch, weil sie ihren Vater nicht noch mehr verärgern wollte, indem sie Guilhem noch länger aufhielt. »Ich lasse es sauber machen. Geht nur. Und kommt zurück, sobald Ihr könnt.«

Guilhem lächelte, und fort war er.

 

Als seine Schritte verklungen waren, wandte Alaïs sich wieder um und sah sich das Malheur an. Weiße Käseklumpen, feucht und glitschig, klebten in der Binsenmatte auf dem Boden. Mit einem Seufzer bückte sie sich, um das Brett aufzuheben.

Es stand hochkant, gegen den Holzrahmen gelehnt. Als sie es ergriff, berührten ihre Finger eine Unebenheit auf der Unterseite. Alaïs drehte es um und sah nach.

In die glänzende Oberfläche des dunklen Holzes war ein Labyrinth geschnitzt.

»Meravelhos«, murmelte sie. Wie schön.

Gebannt von den vollkommenen Linien, die in immer kleineren Kreisen verliefen, fuhr Alaïs mit den Fingern über das Muster.

Es war glatt, makellos, eine liebevolle Arbeit, mit großer Sorgfalt und Genauigkeit ausgeführt.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf regte sich eine Erinnerung. Alaïs hielt das Brett hoch, sie war sich jetzt ganz sicher, dass sie so etwas Ähnliches schon einmal irgendwo gesehen hatte, aber sie konnte die Erinnerung nicht fassen, die sich weiter im Dunkeln versteckt hielt. Sie wusste nicht einmal mehr, woher sie das Brett überhaupt hatte. Es wollte ihr nicht einfallen, und schließlich gab sie es auf.

Alaïs rief ihre Dienerin Severine, damit sie im Zimmer sauber machte. Danach widmete sie sich den Pflanzen, die sie morgens im Fluss gesammelt hatte, um nicht ständig daran zu denken, was wohl im Großen Saal vor sich ging.

Sie hätte sich früher um die Pflanzen kümmern müssen. Die Leinenstreifen waren getrocknet, die Wurzeln brüchig, und die Blüten hatten ihre Feuchtigkeit schon fast ganz verloren. In der Hoffnung, doch noch ein wenig retten zu können, besprenkelte Alaïs den panier mit Wasser und machte sich an die Arbeit. Doch während sie die Wurzeln zerstieß und die Blüten in kleine Duftsäckchen einnähte, während sie die Tinktur für Jacques' Bein zubereitete, schweifte ihr Blick immer wieder zu dem Holzbrett, das stumm auf dem Tisch vor ihr lag und sich weigerte, sein Geheimnis preiszugeben.

 

Guilhems Mantel flatterte ihm störend um die Knie, als er über den Hof eilte und über sein Pech schimpfte, ausgerechnet heute ertappt worden zu sein.

Es war ungewöhnlich, dass chevaliers am Rat teilnahmen. Die Tatsache, dass er nicht in den donjon, sondern in den Großen Saal bestellt worden war, ließ etwas Ernstes vermuten.

Sagte Pelletier die Wahrheit? Hatte er wirklich früher am Morgen einen Boten zu Guilhems Schlafgemach geschickt? Er wusste es nicht. Was, wenn François da gewesen war und ihn nicht vorgefunden hatte? Was würde Pelletier wohl dazu sagen?

So oder so, am Ende lief es auf eines hinaus. Er steckte in Schwierigkeiten.

Die schwere Tür zum Großen Saal stand offen. Guilhem hastete die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend.

Als sich seine Augen an die Dunkelheit im Gang gewöhnt hatten, sah er die unverkennbare Silhouette seines Schwiegervaters vor dem Eingang zum Saal stehen. Guilhem holte tief Luft und ging weiter, den Kopf gesenkt. Pelletier hob einen Arm und versperrte ihm den Weg.

»Wo bleibt Ihr denn?«, fragte er.

»Verzeiht, Messire.«

Pelletiers Gesicht war bedrohlich dunkelrot. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch zu verspäten?«, sagte er mit stählerner Stimme. »Denkt Ihr, Befehle gelten für Euch nicht? Dass Ihr ein so ruhmreicher chevalier seid, dass Ihr kommen und gehen könnt, wie es Euch beliebt, und nicht wie Euer Seigneur es von Euch erwartet?«

»Messire, ich schwöre bei meiner Ehre, wenn ich frühzeitig gewusst hätte ...«

Pelletier stieß ein bitteres Lachen aus. »Eure Ehre«, sagte er wütend und stieß Guilhem gegen die Brust. »Verkauft mich nicht für dumm, du Mas. Ich habe meinen Diener in Eure Gemächer gesandt, um Euch persönlich die Nachricht zu überbringen. Ihr hattet reichlich Zeit, Euch bereitzumachen. Und doch muss ich selbst kommen und Euch holen. Und finde Euch im Bett!« Guilhem öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder. Er sah, wie sich in Pelletiers Mundwinkeln und in den grauen Barthaaren Speicheltropfen sammelten.

»Nun seid Ihr wohl nicht mehr ganz so selbstherrlich! Was, habt Ihr nichts zu sagen? Ich warne Euch, du Mas, die Tatsache, dass Ihr mit meiner Tochter verheiratet seid, wird mich nicht daran hindern, an Euch ein Exempel zu statuieren.«

»Sire, ich habe ...«

Ohne Vorwarnung rammte ihm Pelletier die Faust in den Magen.

Es war kein harter Schlag, aber doch kräftig genug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Überrumpelt taumelte Guilhem rückwärts gegen die Wand. Sogleich schloss sich Pelletiers kräftige Hand um seinen Hals, presste seinen Kopf nach hinten gegen den Stein. Aus den Augenwinkeln sah Guilhem, dass der sirjan an der Tür sich vorbeugte, um besser sehen zu können.

»Habe ich mich klar ausgedrückt?«, spuckte Pelletier ihm ins Gesicht und drückte etwas fester zu. Guilhem bekam kein Wort heraus. »Ich höre nichts, gojat«, sagte Pelletier. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Diesmal gelang es Guilhem, die Worte herauszuwürgen. »Oc, Messire.«

Er spürte, wie er dunkelrot anlief. Das Blut hämmerte ihm im Kopf. »Ich warne Euch, du Mas. Ich beobachte Euch. Ich warte. Und wenn Ihr nur einen falschen Schritt macht, werdet Ihr es bereuen. Haben wir uns verstanden?«

Guilhem rang nach Luft. Er konnte nur unter Mühen nicken, wobei seine Wange über die raue Maueroberfläche schabte, dann versetzte Pelletier ihm noch einen letzten wuchtigen Stoß, mit dem er ihm die Rippen gegen den harten Stein presste, und ließ endlich los.

Anstatt zurück in den Großen Saal zu gehen, stürmte Pelletier in die entgegengesetzte Richtung, hinaus in den Hof.

Sobald er fort war, klappte Guilhem nach vorn, hustete und rieb sich den Hals, schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Er massierte sich den Hals und wischte sich das verschmierte Blut von den Lippen.

Allmählich konnte Guilhem wieder normal atmen. Er ordnete seine Kleidung und überlegte schon, wie er Pelletier dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, dass er ihn derart gedemütigt hatte. Gleich zweimal an einem Tag. Die Beleidigung war zu groß, um die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Als er endlich das gleichmäßige Stimmengemurmel wahrnahm,

das aus dem Saal drang, wurde ihm klar, dass er sich besser zu seinen Kameraden gesellte, ehe Pelletier zurückkam und ihn noch immer draußen stehen sah.

Der Wachposten machte keinen Hehl aus seiner Belustigung. »Was glotzt du so?«, schnauzte Guilhem ihn an. »Du hältst den Mund, verstanden, sonst kannst du was erleben.«

Die Drohung zeigte die gewünschte Wirkung. Der Mann schlug die Augen nieder und trat beiseite, um Guilhem vorbeizulassen. »Schon besser.«

Pelletiers Drohungen klangen ihm noch in den Ohren, als Guilhem so unauffällig wie möglich den Saal betrat. Nur sein hochrotes Gesicht und sein heftig pochendes Herz zeugten noch von dem, was geschehen war.


Das Verlorene Labyrinth
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