Kapitel 56
Carcassona
Agost 1209
Am Montag, dem 3. August, griffen die Franzosen im Morgengrauen Sant-Vicens an.
Alaïs hastete die Leitern des Tour du Major hinauf, um das Geschehen zusammen mit ihrem Vater von den Zinnen aus zu beobachten. Sie hielt im Gedränge nach Guilhem Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken.
Plötzlich hörte sie über das Schwertergeklirr und Kampfgeschrei der auf die niedrigen Schutzmauern einstürmenden Soldaten hinweg Gesang vom Graveta-Berg herab über die Ebene hallen.
»Venz creator spiritus.
Ment es tuorum visita!«
»Die Priester«, sagte Alaïs entsetzt. »Sie singen zu Gott, während sie versuchen, uns niederzumetzeln.«
Die ersten Brände brachen in Sant-Vicens aus. Rauch ringelte sich in die Luft, und hinter den niedrigen Mauern stoben Mensch und Tier in Panik auseinander. Greifhaken wurden schneller über die Brustwehr geschleudert, als die Verteidiger sie wegschlagen konnten. Dutzende von Sturmleitern wurden an die Mauern gelehnt. Die Soldaten traten sie weg, zündeten sie an, doch manche blieben, wo sie waren. Französische Fußtruppen schwärmten herbei wie Ameisen. Je mehr zurückgeschlagen wurden, so schien es, desto mehr kamen nach.
Am Fuße der Festungsanlage wurden auf beiden Seiten Verletzte und Tote übereinander gestapelt, wie Feuerholz. Mit jeder Stunde, die verging, wuchs die Zahl der Opfer.
Die Kreuzfahrer brachten ein Katapult in Stellung und nahmen die Festung unter Beschuss. Die Erschütterungen ließen Sant-Vicens bis in die Grundfesten erbeben, erbarmungslos und unnachgiebig hagelten Pfeile und Geschosse herab.
Die ersten Mauern stürzten ein.
»Sie sind durch«, schrie Alaïs. »Sie haben die Verteidigung durchbrochen ! «
Vicomte Trencavel und seine Männer waren bereit. Schwerter und Streitäxte schwingend, ritten sie zu zweit oder dritt nebeneinander gegen die Belagerer an. Die mächtigen Hufe der Streitrösser trampelten alles nieder, was sich ihnen entgegenstellte. Unter ihren schweren Hufeisen zerplatzten Schädel wie Nussschalen, und Gliedmaßen wurden zu einer einzigen Masse von Haut und Blut und Knochen zermalmt. Straße für Straße tobte der Kampf durch den Vorort, näherte sich unaufhaltsam den Mauern der eigentlichen Cité. Alaïs sah eine Flut entsetzter Bewohner durch die Porte de Rodez in die Cité flüchten, um der brutalen Schlacht zu entkommen. Die Alten, die Gebrechlichen, Frauen und Kinder. Jeder körperlich gesunde Mann war bewaffnet und kämpfte Seite an Seite mit den Soldaten der Garnison. Die meisten wurden auf der Stelle erschlagen, denn ihre Keulen konnten gegen die Schwerter der Kreuzfahrer nichts ausrichten. Die Verteidiger kämpften tapfer, aber sie waren eins zu zehn in der Unterzahl. Wie eine heranbrausende Flutwelle, die sich am Ufer bricht, stürmten die Kreuzfahrer durch die Festungsanlagen und rissen Teile der Mauern ein.
Trencavel und seine chevaliers versuchten verzweifelt, den Zugang zum Fluss zu halten, doch es war hoffnungslos. Der Vicomte ließ zum Rückzug blasen.
Das Jubelgeschrei der Franzosen gellte ihnen in den Ohren, als die schweren Tore der Porte de Rodez geöffnet wurden, um die
Überlebenden zurück in die Cité zu lassen. Während Trencavel seine besiegten Männer durch die Straßen ins Château Comtal zurückführte, starrte Alaïs entsetzt auf die Verwüstung und Zerstörung, die sich ihr darbot. Sie hatte den Tod schon oft gesehen, aber nicht in diesem gewaltigen Ausmaß, und sie fühlte sich wie beschmutzt von der Wirklichkeit des Krieges, seiner sinnlosen Vernichtungskraft.
Und betrogen. Jetzt erkannte sie, wie verlogen die chansons de gestes waren, die sie als Kind so geliebt hatte. Der Krieg war nicht heldenhaft. Er brachte nur den Tod.
Alaïs stieg von den Zinnen herab in den Hof und ging zu den anderen Frauen, die am Tor warteten, betete, dass Guilhem unter den Rückkehrern sein würde.
Sei unverletzt.
Endlich hörte sie Hufe über die Brücke poltern. Alaïs entdeckte ihn sofort, und Erleichterung durchfuhr sie. Sein Gesicht und seine Rüstung waren mit Blut und Asche besudelt, seine Augen spiegelten die Wildheit der Schlacht, aber er war unversehrt. »Euer Gemahl hat kühn gekämpft, Dame Alaïs«, sagte Vicomte Trencavel, als er sie bemerkte. »Er hat den Feinden große Verluste zugefügt und vielen Kameraden das Leben gerettet. Wir sind dankbar für sein Geschick und seinen Mut.« Alaïs wurde rot. »Sagt mir, wo ist Euer Vater?«
Sie zeigte zur nordöstlichen Ecke des Hofes. »Wir haben die Schlacht von den ambans aus beobachtet, Messire.«
Guilhem war abgestiegen und reichte seinem écuyer die Zügel. Alaïs trat schüchtern zu ihm, unsicher, wie er sie begrüßen würde. »Messire.«
Er nahm ihre blasse weiße Hand und führte sie an seine Lippen. »Thierry ist schwer verwundet«, sagte er mit tonloser Stimme. »Sie bringen ihn gerade her.«
»Messire, das tut mir Leid.«
»Wir waren wie Brüder«, fuhr er fort. »Zusammen mit Alzeu.
Vom Alter her liegen wir nur knapp einen Monat auseinander. Wir sind immer füreinander eingetreten, haben gearbeitet, um unsere Kettenhemden und Schwerter zu bezahlen. Wir wurden am selben Osterfest zum Ritter geschlagen.«
»Ich weiß«, sagte sie leise und zog seinen Kopf zu ihrem herunter. »Kommt, lasst mich Euch helfen, dann werde ich sehen, was ich für Thierry tun kann.«
Sie sah Tränen in seinen Augen glitzern. Rasch sprach sie weiter, weil sie wusste, er würde nicht wollen, dass sie ihn weinen sah. »Jetzt kommt«, drängte sie sanft. »Führt mich zu ihm.«
Thierry war in den Großen Saal getragen worden, zusammen mit all den anderen Schwerverwundeten. Die sterbenden oder verletzten Männer lagen in Dreierreihen. Alaïs und die anderen Frauen taten, was sie konnten. Sie hatte sich das Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing, und sah wieder fast aus wie ein Kind.
Die Stunden vergingen, die Luft in dem überfüllten Raum war schier unerträglich und die Fliegen eine immer größere Qual. Die meiste Zeit arbeiteten Alaïs und die anderen Frauen schweigend und mit ruhiger Entschlossenheit, wohl wissend, dass es bis zum nächsten Angriff nur eine kleine Atempause geben würde. Priester nahmen die Beichte ab, erteilten die Letzte Ölung. Im Schutz ihrer schwarzen Kutten erteilten zwei parfaits den gläubigen Katharern das consolament.
Thierry hatte tatsächlich schwere Verletzungen erlitten. Sein Knöchel war gebrochen, und eine Lanze hatte seinen Oberschenkel durchbohrt und den Knochen zertrümmert. Alaïs wusste, dass er schon zu viel Blut verloren hatte, doch Guilhem zuliebe tat sie alles, was in ihrer Macht stand. Sie erhitzte einen Sud aus Beinwellwurzeln und -blättern in heißem Wachs und benutzte ihn, sobald er abgekühlt war, für eine Kompresse.
Dann ließ sie Guilhem mit seinem Freund allein und widmete sich denen, die die besten Überlebensaussichten hatten. Sie löste ein Pulver aus Brustwurzblättern in Distelextrakt auf und bereitete daraus eine Medizin, die sie in Eimern von Küchenjungen in den Großen Saal bringen ließ und allen Verletzten einflößte, die noch schlucken konnten. Wenn es ihr gelang, die Entzündungen einzudämmen, und wenn das Blut rein blieb, dann hatten die Männer vielleicht doch noch eine Chance.
Sooft sie konnte, ging Alaïs zu Thierry, um ihm die Verbände zu wechseln, obwohl sie wusste, dass keine Hoffnung bestand. Er war nicht mehr bei Bewusstsein, und seine Haut hatte die blauweiße Farbe des Todes angenommen. Sie legte Guilhem eine Hand auf die Schulter.
»Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Es dauert jetzt nicht mehr lange.« Guilhem nickte nur.
Alaïs kümmerte sich unermüdlich um alle im Saal. Als sie einmal an einem chevalier vorbeikam, der kaum älter war als sie, schrie der junge Mann auf. Sie blieb stehen und kniete neben ihm nieder. Sein kindliches Gesicht war vor Schmerz und Unsicherheit verzerrt, seine Lippen waren rissig, und in den Augen, die einmal braun gewesen waren, stand die blanke Angst.
»Ganz ruhig«, raunte sie. »Habt Ihr niemanden?«
Er versuchte den Kopf zu schütteln. Alaïs strich ihm mit der Hand über die Stirn und hob das Tuch an, das seinen Schild-Arm bedeckte. Sogleich ließ sie es wieder sinken. Die Schulter des Jungen war zerschmettert. Weiße Knochensplitter ragten durch die zerfetzte Haut, wie ein Schiffswrack bei Ebbe. In seiner Seite klaffte ein Loch. Blut floss in einem steten Rinnsal aus der Wunde und bildete eine Lache, in der er lag.
Seine rechte Hand war um das Heft seines Schwertes gekrampft. Alaïs versuchte ihm die Waffe zu entziehen, doch seine starren Finger wollten sich nicht öffnen. Alaïs riss ein Stück Stoff aus ihrem Rock und legte es auf die tiefe Wunde. Aus einem Fläschchen in ihrem Beutel träufelte sie ihm etwas Baldriantinktur auf die Lippen, um den Todesschmerz zu lindern. Mehr konnte sie nicht für ihn tun.
Der Tod war nicht gnädig. Er kam langsam. Allmählich wurde das Rasseln in seiner Brust lauter, und er atmete mühsamer. Als seine Augen sich verdunkelten, wuchs seine nackte Angst, und er schrie auf. Alaïs blieb bei ihm, sang ihm leise etwas vor und streichelte ihm die Stirn, bis er starb.
»Gott sei deiner Seele gnädig«, flüsterte sie und schloss ihm die Augen. Sie bedeckte sein Gesicht und ging weiter zum Nächsten. Alaïs gönnte sich keine Ruhe; sie trug Salben auf und verband Wunden, bis ihr die Augen brannten und die Hände rot von Blut waren. Als der Tag sich dem Ende zuneigte und die Abendsonne durch die hohen Fenster in den Großen Saal drang, waren die Toten weggebracht worden und die Lebenden so gut versorgt, wie ihre Wunden es zuließen.
Sie war erschöpft, doch die Erinnerungen an die Nacht davor, als sie endlich wieder in Guilhems Armen gelegen hatte, gaben ihr Kraft. Ihre Glieder schmerzten, und ihr Rücken war steif vom vielen Bücken und Niederkauern, aber es machte ihr nicht das Geringste aus.
Oriane nutzte die hektische Betriebsamkeit im übrigen Château Comtal, um sich unbemerkt in ihr Gemach zu schleichen und dort auf ihren Spitzel zu warten.
»Das wurde aber auch Zeit«, zischte sie. »Nun sag schon, was ihr rausgefunden habt.«
»Der Jude ist gestorben, bevor wir ihm viel entlocken konnten, aber mein Herr glaubt, dass er das Buch bereits Eurem Vater zur Aufbewahrung übergeben hatte.«
Oriane lächelte schwach, sagte aber nichts. Sie hatte niemandem anvertraut, was sie in Alaïs' Mantel eingenäht gefunden hatte. »Was ist mit Esclarmonde de Servian?«
»Sie war tapfer, aber am Ende hat sie ihm erzählt, wo das Buch zu finden ist.«
Orianes grüne Augen blitzten. »Und hast du es?«
»Noch nicht.« »Aber es ist innerhalb der Ciutat? D'Evreux weiß Bescheid?« »Er verlässt sich darauf, Herrin, dass Ihr ihm darüber Mitteilung macht.«
Oriane überlegte einen Moment. »Die Alte ist tot? Der Junge auch? Sie kann unsere Pläne nicht mehr stören? Sie kann meinen Vater nicht mehr warnen?«
Er lächelte verkniffen. »Die Frau ist tot. Der Bengel ist uns entwischt, aber ich glaube nicht, dass er irgendwelchen Schaden anrichten kann. Wenn ich ihn finde, töte ich ihn.«
Oriane nickte. »Und du hast d'Evreux erzählt, welches ... Interesse ich habe?«
»Das habe ich, Herrin. Er fühlt sich geehrt, dass Ihr ihm auf diese Weise Eure Dienste antragt.«
»Und meine Bedingungen? Garantiert er sicheres Geleit aus der Ciutat?«
»Das tut er, Herrin, vorausgesetzt, dass Ihr ihm die Bücher übergebt.«
Sie stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Gut, das ist alles sehr gut. Und du erledigst das mit meinem Gemahl?«
»Wenn Ihr mir sagt, wann und wo er zu einer bestimmten Zeit anzutreffen ist, Herrin, dann mit Leichtigkeit.« Er hielt inne. »Das wird jedoch teurer als bisher. Selbst in so unruhigen Zeiten wie diesen ist das Risiko erheblich höher. Vicomte Trencavels escrivain. Er ist ein Mann von Rang.«
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst«, fauchte sie mit kalter Stimme. »Wie viel?«
»Dreimal so viel wie für Raoul«, erwiderte er. »Ausgeschlossen!«, entgegnete sie. »So viel Gold kann ich unmöglich auftreiben.«
»Dennoch, Herrin, das ist mein Preis.«
»Und das Buch?«
Diesmal lächelte er richtig. »Das ist Verhandlungssache, Herrin«, sagte er.