Kapitel 54
Chartres

 

Am späten Nachmittag kam Alice in Chartres an.

Sie suchte sich ein Hotel, kaufte dann einen Stadtplan und ging geradewegs zu der Adresse, die sie über die Auskunft in Erfahrung gebracht hatte. Erstaunt betrachtete Alice das elegante Haus mit dem glänzenden Türklopfer und dem Briefschlitz aus Messing und den geschmackvollen Pflanzen in den Blumenkästen und Kübeln rechts und links von der Treppe. Alice konnte sich nicht vorstellen, dass Shelagh hier gewohnt hatte.

Und was zum Teufel sagst du, wenn einer aufmacht?

Alice atmete tief durch, ging dann die Stufen hinauf und klingelte. Es kam niemand. Sie wartete, trat ein paar Schritte zurück und blickte zu den Fenstern hoch, versuchte es dann erneut. Sie nahm ihr Handy und wählte die Telefonnummer. Sekunden später hörte sie drinnen ein Telefon läuten.

Es war das richtige Haus, immerhin.

Sie war enttäuscht, aber, wenn sie ehrlich war, auch erleichtert. Die Konfrontation, falls es denn auf eine hinauslief, konnte ruhig noch warten.

 

Der Platz vor der Kathedrale wimmelte nur so von Kamera schwenkenden Touristen und Fremdenführern, die Fähnchen oder bunte Regenschirme in die Luft reckten. Ordentliche Deutsche, verklemmte Engländer, modische Italiener, stille Japaner, begeisterte Amerikaner. Und alle Kinder sahen gelangweilt aus. Irgendwann während der langen Fahrt nach Norden hatte Alice den Gedanken aufgegeben, dass sie dem Labyrinth in Chartres irgendetwas Aufschlussreiches entreißen könnte. Dass es mit der Höhle am Pic de Soularac, mit Grace, mit ihr persönlich zu tun hatte, war einfach offensichtlich - zu offensichtlich. Irgendwie hatte sie den Verdacht, auf eine falsche Fährte gelockt worden zu sein.

Trotzdem kaufte Alice sich eine Karte für eine Führung, die in fünf Minuten vor der Kirche beginnen sollte. Die Fremdenführerin war eine energische Frau mittleren Alters mit überheblicher Ausstrahlung und durchdringender Stimme.

»Für unser zeitgenössisches Auge sind Kathedralen graue, himmelstürmende Bauten der Anbetung und des Glaubens. Im Mittelalter jedoch waren sie ungemein farbenfroh, etwa vergleichbar mit Hindu-Tempeln in Indien oder Thailand. In Chartres wie auch sonst überall waren die Statuen und Tympana, die die prächtigen Portale zierten, vielfarbig gestaltet.« Die Fremdenführerin deutete mit ihrem Schirm auf die Fassade. »Wenn Sie genau hinsehen, können Sie noch immer hellrote, blaue und gelbe Farbreste in den Ritzen der Statuen erkennen.«

Um Alice herum nickten alle pflichtschuldig.

»Im Jahre 1194«, fuhr die Frau fort, »zerstörte eine Feuersbrunst den größten Teil der Stadt Chartres einschließlich der Kathedrale. Zunächst glaubte man, dass auch die heiligste Reliquie der Kathedrale, die Sancta Camisia - die Tunika, die Maria bei der Geburt Jesu getragen haben soll -, vernichtet worden war. Doch nach drei Tagen fand man sie wieder, Mönche hatten sie in der Krypta versteckt. Für die Menschen war das ein Wunder, ein Zeichen, dass die Kathedrale wieder aufgebaut werden sollte. Der heutige Bau wurde 1223 fertiggestellt und 1260 als Kathedrale Unserer Lieben Frau geweiht. Es handelt sich somit um die erste Kathedrale in Frankreich, die der Jungfrau Maria gewidmet wurde.«

Alice hörte nur mit halbem Ohr zu, bis sie zur Nordfassade des Gebäudes kamen. Die Fremdenführerin zeigte auf die unheimliche steinerne Prozession alttestamentarischer Könige und

Königinnen, die über dem Nordportal eingemeißelt worden waren.

Ein nervöses Kribbeln erfasste Alice.

»Hier sehen Sie die bedeutsamsten alttestamentarischen Darstellungen der Kathedrale«, sagte die Fremdenführerin und winkte die Leute näher heran. »Auf der Säule dort befindet sich eine Skulptur, die nach weit verbreiteter Ansicht zeigt, wie Menelik, der Sohn Salomos und der Königin von Saba, die Bundeslade aus Jerusalem fortschafft, obwohl die Geschichte von Menelik nach historischen Erkenntnissen erst im 15. Jahrhundert nach Europa gelangte. Und hier« - sie senkte den Arm ein wenig - »sehen Sie ein weiteres Rätsel. Wer von Ihnen gute Augen hat, kann vielleicht die lateinische Inschrift HIC AMIT1TUR ARCHA CEDERIS erkennen.« Sie ließ den Blick reihum wandern und lächelte selbstgefällig. »Die Lateiner unter Ihnen werden erkannt haben, dass die Inschrift keinen Sinn ergibt. In einigen Reiseführern steht, ARCHA CEDERIS bedeute >Du wirst durch die Lade wirken<, und sie übersetzen die gesamte Inschrift mit: >Hier nehmen die Dinge ihren Lauf: Du wirst durch die Lade wirken.< Wenn sich jedoch hinter AMITITUR eigentlich AMI- CITUR versteckt und CEDERIS eine Verfälschung von FOEDERIS ist, wie manche Kommentatoren glauben, dann könnte die Inschrift heißen: Hier ist die Bundeslade verhüllt.«

Sie sah ihre Zuhörer an. »Dieses Portal ist einer der Gründe, warum sich so viele Mythen und Legenden um die Kathedrale ranken. Ungewöhnlich ist, dass die Namen der Baumeister der Kathedrale nicht bekannt sind. Es wird vermutet, dass aus irgendeinem Grund keine Aufzeichnungen gemacht wurden und die Namen schlicht und ergreifend in Vergessenheit geraten sind. Das Fehlen solcher Informationen wird allerdings von Leuten mit einer, sagen wir, eher finsteren Phantasie anders gedeutet. Das hartnäckigste Gerücht lautet, die >Armen Ritter Christi vom Tempel Salomonis<, also die Templer, hätten die Kathedrale errichtet, und zwar als verschlüsseltes steinernes Buch, ein riesenhaftes Rätsel, das nur von Eingeweihten verstanden werden konnte. Viele glaubten, unter dem Labyrinth seien die Gebeine von Maria Magdalena begraben. Oder sogar der Heilige Gral.«

»Hat schon mal jemand nachgesehen?«, warf Alice ein und bereute die Frage, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Missbilligende Augen richteten sich auf sie wie ein Scheinwerferstrahl. Die Fremdenführerin zog die Augenbrauen hoch. »Selbstverständlich. Und mehr als einmal. Aber es wird die meisten von Ihnen wohl kaum überraschen, dass man nichts gefunden hat. Alles reiner Mythos.« Sie hielt inne. »Folgen Sie mir jetzt bitte ins Innere.«

Betreten ging Alice mit der Gruppe zum Westportal und stellte sich in die Schlange vor dem Eingang. Kaum eingetreten, sprachen alle leise, denn der typische Duft von Stein und Weihrauch entfaltete sogleich seinen Zauber. In den Seitenkapellen und am Haupteingang leuchteten flackernde Reihen von Opferkerzen in der Dunkelheit.

Alice machte sich auf irgendeine Reaktion gefasst, auf Visionen der Vergangenheit, so wie sie es in Toulouse und Carcassonne erlebt hatte. Aber sie spürte nichts, und nach einer Weile entspannte sie sich und genoss den Rundgang. Aufgrund ihrer Recherchen wusste sie, dass die Kathedrale von Chartres angeblich die schönsten Glasfenster der Welt besaß, aber auf die Leuchtkraft war sie dann doch nicht vorbereitet. Die Fenster mit Darstellungen alltäglicher und biblischer Szenen durchfluteten die Kirche mit einem Kaleidoskop schimmernder Farben. Die Rosetten, das Fenster mit der Blauen Jungfrau, das Noah-Fens- ter, das die Sintflut und die Tiere zeigte, die paarweise in die Arche trotteten. Alice wanderte umher und versuchte sich vorzustellen, wie das alles ausgesehen haben mochte, als die Wände mit Fresken und kostbaren Teppichen, mit golddurchwirkten orientalischen Stoffen und seidenen Bannern geschmückt waren. Für mittelalterliche Augen musste der Gegensatz zwischen der Pracht des Gottestempels und der Welt außerhalb davon überwältigend gewesen sein. Der eindeutige Beweis für Gottes Herrlichkeit auf Erden.

»Und schließlich«, sagte die Fremdenführerin, »kommen wir zu dem berühmten, in den Boden eingelegten Labyrinth mit seinen elf Umgängen. Es wurde im Jahre 1200 fertiggestellt und ist das größte in Europa. Das ursprüngliche Mittelstück ist längst verschwunden, doch der Rest ist gut erhalten. Christen im Mittelalter bot es die Möglichkeit zu einer spirituellen Pilgerfahrt, statt extra nach Jerusalem zu reisen. Daher wurden Bodenlabyrinthe - anders als die Labyrinthe an den Wänden von Kirchen und Kathedralen - häufig als der chemin de Jérusalem bezeichnet, also als Weg nach Jerusalem. Die Pilger schritten das Labyrinth bis zur Mitte ab, manchmal mehrmals, was eine wachsende Einsicht oder größere Nähe zu Gott symbolisierte. Büßer absolvierten den Gang auf den Knien, was mitunter mehrere Tage dauerte.«

Mit klopfendem Herzen schob sich Alice unauffällig nach vorn und gestand sich erst jetzt ein, dass sie diesen Moment hinausgeschoben hatte.

Der Augenblick ist gekommen.

Sie holte tief Luft. Die Stuhlreihen auf beiden Seiten des Kirchenschiffes, die mit Blick auf den Altar für die Abendandacht aufgestellt worden waren, zerstörten die Symmetrie. Dennoch, und obwohl sie aufgrund ihrer Recherchen wusste, welche Maße das Labyrinth hatte, war sie von der Größe überwältigt. Es beherrschte die gesamte Kathedrale.

Langsam begann Alice, wie alle anderen auch, das Labyrinth abzugehen, hin und her in sich verengenden und dann wieder weitenden Kreisen, bis sie schließlich nach schier endlosen Umwegen im Zentrum anlangte.

Sie verspürte nichts. Keinen Schauder, der ihr über den Rücken lief, keinen Augenblick der Erleuchtung oder inneren Wandlung. Nichts. Sie ging in die Hocke und berührte den Boden. Der Stein war glatt und kühl, aber er sprach nicht zu ihr.

Alice lächelte gequält. Was hast du denn erwartet?

Sie musste nicht einmal ihre Zeichnung von dem Labyrinth in der Höhle aus dem Rucksack holen, um zu wissen, dass es hier nicht das Geringste gab, das etwas mit ihr zu tun hatte. Alice verabschiedete sich knapp von ihrer Gruppe und ging zum Ausgang.

 

Nach der sengenden Hitze des Midi war die sanfte Sonne des Nordens eine Wohltat, und Alice erkundete in der nächsten Stunde den malerischen historischen Stadtkern, wobei sie auch die Straße suchen wollte, wo Grace und Audric Baillard für das Foto posiert hatten.

Aber die Straße war nicht in ihrem Stadtplan verzeichnet. Vielleicht lag sie außerhalb des Bereichs, den der Stadtplan abdeckte. Die meisten Straßen waren nach dem Handwerk oder Gewerbe benannt, das früher dort ausgeübt wurde: Uhrmacher, Gerber, Stallmeister und vor allem Buchhändler, die von Chartres' Bedeutung als wichtiges Zentrum für Papierherstellung und Buchbinderei im Frankreich des 12. und 13. Jahrhunderts zeugten. Aber keine Rue des Trois Degrés.

Schließlich kam Alice wieder dort an, wo sie losgegangen war, vor dem Westportal der Kathedrale. Sie setzte sich auf die Stufen. Sogleich fiel ihr Blick auf die Straßenecke genau gegenüber. Sie sprang auf und lief hin, um das Schild an der Hauswand zu lesen: RUE DE L'ETROIT DEGRE, DITE AUSSI RUE DES TROIS DEGRES (DES TROIS MARCHES).

Die Straße war umbenannt worden. Lächelnd machte Alice einen Schritt nach hinten, um besser sehen zu können, und stieß mit einem Mann zusammen, der in eine Zeitung vertieft war. »Pardon«, sagte sie und trat beiseite.

»Nein, ich muss mich entschuldigen«, sagte er mit einem angenehmen amerikanischen Ostküstenakzent. »Es war meine Schuld. Ich hab gar nicht auf den Weg geachtet. Haben Sie sich wehgetan?«

»Nichts passiert.«

Zu ihrer Verwunderung starrte er sie aufmerksam an.

»Ist was ... ?«

»Alice, hab ich Recht?«

»Ja?«, sagte sie argwöhnisch.

»Alice, natürlich. Hi«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern durch den struppigen braunen Haarschopf. »Das gibt's nicht!«

»Tut mir Leid, aber ich ...«

»William Franklin«, sagte er und streckte die Hand aus. »Will. Wir sind uns vierundneunzig oder fünfundneunzig in London begegnet. Auf einer Party. Du warst mit einem Typen zusammen, wie hieß er noch ... Oliver. Stimmt's? Ich war auf Besuch bei meinem Cousin.«

Alice erinnerte sich vage an einen Abend in einer engen Wohnung, die mit Olivers Freunden von der Uni überfüllt war. Sie meinte, sich dunkel an einen jungen Amerikaner zu erinnern, charmant, gut aussehend, obwohl sie damals noch bis über beide Ohren verliebt gewesen war und für niemanden sonst Augen hatte.

War er das?

»Du hast ein gutes Gedächtnis«, sagte sie und schüttelte seine Hand. »Ist lange her.«

»Du hast dich nicht sehr verändert«, sagte er lächelnd. »Und, wie geht's Oliver?«

Alice verzog das Gesicht. »Wir sind nicht mehr zusammen.«

»Das tut mir Leid«, sagte er. Es entstand eine kleine Pause, dann sagte er: »Wer ist das auf dem Foto?«

Alice blickte nach unten. Sie hatte vergessen, dass sie es noch in der Hand hielt.

»Meine Tante. Ich hab das in ihren Sachen gefunden, und da ich schon einmal hier bin, hab ich gedacht, ich schau mal, ob ich die Stelle finde, wo es aufgenommen wurde.« Sie grinste. »War schwieriger, als ich gedacht hatte.«

Will sah ihr über die Schulter. »Und der Mann?«

»Ein Bekannter. Ein Schriftsteller.«

Wieder entstand eine Pause, als wollten sie beide das Gespräch in Gang halten, ohne recht zu wissen, was sie sagen sollten. Will blickte wieder auf das Bild.

»Sie sieht nett aus.«

»Nett? Ich finde, sie sieht ziemlich resolut aus, obwohl ich nicht weiß, ob das stimmt. Ich habe sie nie kennen gelernt.«

»Im Ernst? Und wieso trägst du dann ein Foto von ihr mit dir herum?«

Alice schob das Foto zurück in den Rucksack. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich liebe lange Geschichten«, grinste er. »Hör mal ...« Er zögerte. »Hättest du Lust auf einen Kaffee oder so? Falls du nichts Wichtigeres vorhast.«

Alice war überrascht, aber sie hatte den gleichen Gedanken gehabt.

»Ist das deine Masche, um irgendwelche Frauen aufzugabeln?«

»Nicht irgendwelche«, sagte er. »Lässt du dich denn von irgendwelchen Männern aufgabeln?«

 

Alice hatte das Gefühl, als würde sie von irgendwo hoch oben zuschauen, wie ein Mann und eine Frau, die so aussah wie sie, in eine altmodische patisserie gingen, in der Kuchen und Torten in langen Glasvitrinen ausgestellt waren.

Was mache ich hier eigentlich?

Bilder, Gerüche, Klänge. Die Kellner, die zwischen den Tischen umhereilten, das bittere Aroma des gerösteten Kaffees, das Zischen der Milch in der Maschine, das Klappern von Gabeln auf Tellern, alles war ungeheuer intensiv.

Vor allem Will selbst, wie er lächelte, wie er den Kopf hielt, wie sich seine Finger zu dem Silberkettchen um seinen Hals bewegten, wenn er redete.

Sie hatten sich draußen einen Tisch gesucht. Über den Hausdächern lugte der Turm der Kathedrale hervor. Sobald sie Platz

genommen hatten, wurden beide ein wenig verlegen und fingen gleichzeitig an zu reden. Alice lachte, Will entschuldigte sich. Vorsichtig, behutsam begannen sie, einander zu erzählen, wie ihr Leben verlaufen war, seit sie sich vor zehn Jahren zuletzt gesehen hatten.

»Du warst ja völlig in deine Lektüre versunken«, sagte sie und drehte die Zeitung um, damit sie die Schlagzeile lesen konnte. »Ich meine vorhin, als du um die Ecke geschossen kamst.«

Will grinste. »Ja, tut mir echt Leid«, entschuldigte er sich erneut. »Normalerweise ist das Lokalblatt nicht so spannend. Ein Mann ist hier mitten in der Stadt tot aus dem Fluss gefischt worden. Er hatte eine Stichverletzung im Rücken, Hände und Füße waren gefesselt, und die beim lokalen Radiosender drehen vollends durch. Die denken doch tatsächlich, es war ein Ritualmord. Und jetzt stellen sie eine Verbindung her zu einem hiesigen Journalisten, der an einer Story über religiöse Geheimgesellschaften gearbeitet hat und letzte Woche verschwunden ist.«

Das Lächeln auf Alice' Gesicht verschwand. »Darf ich mal sehen?«, sagte sie und griff nach der Zeitung.

»Klar.«

Ihre Beklommenheit wuchs, als sie die Namensliste las. Noublesso Véritable. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. »Alles in Ordnung?«, fragte Will. Alice sah auf und bemerkte, dass er sie betrachtete.

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich war in Gedanken ganz weit weg. Aber ich bin vor kurzem auf etwas Ähnliches gestoßen. Und die Übereinstimmung hat mich ein bisschen erschreckt.« »Übereinstimmung? Klingt spannend.«

»Auch das ist eine lange Geschichte.«

»Ich hab's nicht eilig«, sagte Will, stützte die Ellbogen auf den Tisch und lächelte ihr aufmunternd zu.

Nachdem sie nun schon so lange in ihren Gedanken gefangen war, spürte Alice das Bedürfnis, endlich mit jemandem zu sprechen. Und eigentlich kannte sie ihn ja auch.

Erzähl ihm nur, was du willst.

»Tja, es ist gut möglich, dass sich das alles ziemlich konfus anhört«, begann sie. »Also, vor ein paar Monaten erfuhr ich aus heiterem Himmel, dass eine Tante, von der ich nie im Leben gehört hatte, gestorben war und mir ihren ganzen Besitz hinterlassen hatte, darunter auch ein Haus in Frankreich.«

»Die Dame auf dem Foto.«

Sie nickte. »Sie hieß Grace Tanner. Ich hatte ohnehin vor, nach Frankreich zu reisen, um eine Freundin zu besuchen, die in den Pyrenäen bei einer Ausgrabung mitarbeitete, daher beschloss ich, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.« Sie stockte. »Bei der Ausgrabung, bei der ich mitgeholfen habe, sind dann ein paar Dinge geschehen ... Ich will dich nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber wie es aussah ... Ach, egal.« Sie atmete einmal tief durch. »Gestern war ich erst bei der Anwältin, die den Nachlass regelt, und danach im Haus meiner Tante, und da habe ich ein paar Sachen gefunden ... unter anderem ein eingraviertes Muster, das ich auch bei der Ausgrabung entdeckt hatte.« Sie geriet ins Stottern, fand nicht die richtigen Worte. »Dann war da auch noch ein Buch, von einem Autor namens Audric Baillard, der, und da bin ich mir fast hundertprozentig sicher, der Mann auf dem Foto ist.«

»Lebt er noch?«

»Soweit ich weiß, ja. Ich habe ihn noch nicht ausfindig machen können.«

»Was für eine Beziehung hatte er zu deiner Tante?«

»Ich weiß es nicht. Das wird er mir hoffentlich sagen können. Er ist meine einzige Verbindung zu ihr. Und zu anderen Dingen.« Zum Labyrinth, dem Stammbaum, meinem Traum.

Als sie den Blick hob, sah sie, dass Will zwar verwirrt schien, aber ganz bei der Sache war. »Ich kann nicht behaupten, dass ich jetzt klüger bin«, sagte er grinsend.

»Ich kann's eben nicht so gut erklären«, räumte sie ein. »Reden wir über was anderes, etwas, das nicht so kompliziert ist. Du hast mir noch gar nicht verraten, was du eigentlich in Chartres machst.«

»Was jeder Amerikaner in Frankreich macht. Ich versuche zu schreiben.«

Alice lächelte. »Passiert das nicht eher in Paris?«

»Da hab ich angefangen, aber ich fand es irgendwie zu, na ja, unpersönlich, wenn du verstehst, was ich meine. Meine Eltern haben hier Bekannte. Die Stadt gefällt mir. Und da bin ich eben hier hängen geblieben.«

Alice nickte und dachte, er würde noch mehr dazu sagen. Statt- dessen kam er noch einmal auf das vorherige Thema zu sprechen. »Dieses Muster, das du vorhin erwähnt hast«, sagte er beiläufig. »Das du bei der Ausgrabung und dann im Haus deiner Tante gefunden hast, was war das für eines?«

Sie zögerte. »Ein Labyrinth«, sagte sie und zeigte ihm die Skizze. »Dann bist du deshalb nach Chartres gekommen? Um dir das in der Kathedrale anzusehen?«

»Es ist nicht ganz das gleiche ...« Sie hielt inne, plötzlich auf der Hut. »Auch deshalb, aber vor allem weil ich auf der Suche nach einer Freundin bin. Shelagh. Sie ... könnte in Chartres sein.« Alice kramte den Zettel mit der Adresse aus ihrer Tasche und reichte ihn Will über den Tisch. »Ich bin schon dort gewesen, aber es war keiner da. Also habe ich beschlossen, zuerst meine touristische Pflicht zu erfüllen und es später noch einmal zu versuchen.«

Erschrocken sah Alice, dass Will ganz blass wurde. Er wirkte völlig verdattert.

»Ist was?«, fragte sie.

»Wieso glaubst du, dass deine Freundin da wohnt?«, erkundigte er sich gepresst.

»Na ja, genau weiß ich es nicht«, sagte sie, noch immer ganz verwirrt über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war.

»Ist das die Freundin von der Ausgrabung?«

Sie nickte.

»Und sie hat das Labyrinth-Muster auch gesehen? So wie du?« »Ich denke doch, obwohl sie nichts dazu gesagt hat. Sie war eher auf etwas fixiert, das ich gefunden hatte, das ...« Alice brach ab, als Will unvermittelt aufsprang.

»Was ist denn?«, fragte sie, beunruhigt über seinen Gesichtsausdruck, als er ihre Hand nahm.

»Komm mit. Ich muss dir was zeigen.«

 

»Wohin laufen wir eigentlich?«, fragte sie erneut, während sie neben ihm herhastete.

Dann bogen sie um die Ecke, und Alice sah, dass sie am anderen Ende der Rue du Cheval Blanc waren. Will marschierte auf das Haus zu und sprang die Stufen zur Haustür hinauf.

»Bist du verrückt geworden? Was ist, wenn einer nach Hause kommt?«

»Da kommt keiner.«

»Aber woher willst du das wissen?«

Verwundert sah Alice, wie Will einen Schlüssel aus der Tasche zog und die Tür aufschloss. »Schnell. Bevor uns einer sieht.« »Du hast einen Schlüssel«, sagte sie fassungslos. »Wie wär's, wenn du mir mal erzählst, was zum Teufel hier eigentlich los ist?«

Will kam die Stufen heruntergelaufen und packte ihre Hand. »Da drin ist eine Version deines Labyrinths«, zischte er. »Okay? Kommst du jetzt endlich?«

Und wenn das schon wieder eine Falle ist?

Nach allem, was passiert war, wäre es der reinste Wahnsinn, ihm zu folgen. Ein viel zu großes Risiko. Kein Mensch wusste, dass sie hier war. Doch die Neugier war stärker als der gesunde Menschenverstand. Alice blickte in Wills Gesicht, eifrig und ängstlich zugleich.

Sie beschloss, ihm eine Chance zu geben und ihm zu vertrauen.


Das Verlorene Labyrinth
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