Kapitel 44
Carcassona

 

JULHET 1209

 

Alaïs wurde früh vom Sägen und Hämmern unten im Hof geweckt und stand auf. Sie schaute aus dem Fenster auf die hölzernen Galerien und Wehrgänge, die an die Mauern des Chateau Comtal gebaut wurden.

Das beeindruckende Holzgerüst nahm rasch Gestalt an. Wie ein überdachter Laufsteg am Himmel, war es ein hervorragender Ausguck, von dem aus die Bogenschützen einen Pfeilhagel auf den Feind niederprasseln lassen konnten, sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass die Mauern der Cité selbst überwunden wurden.

Sie kleidete sich rasch an und lief nach unten in den Hof. Die Feuer in der Schmiede tosten. Allenthalben sangen Hammer und Amboss, weil Waffen geschärft und gerichtet wurden; Sappeure riefen einander kurze, bellende Anweisungen zu, während die Winden, Seile und Gegengewichte der pèireras, der Ballistas, bereitgemacht wurden.

Alaïs sah Guilhem vor dem Stall stehen. Ihr Herz zog sich zusammen. Nehmt mich wahr. Er drehte sich nicht um und sah auch nicht auf. Alaïs hob die Hand und wollte seinen Namen rufen, doch dann verließ sie der Mut, und sie ließ den Arm wieder sinken. Sie würde sich nicht selbst demütigen, indem sie um seine Zuneigung bettelte, wenn er nicht gewillt war, sie zu geben.

Die Geschäftigkeit im Innern des Château Comtal setzte sich

auch in der Cité fort. Auf dem Hauptplatz wurden Steine aus den Corbières aufgetürmt, griffbereit, um die Ballistas und Katapulte zu bestücken. Beißender Uringestank drang aus der Gerberei, wo Tierhäute vorbereitet wurden, um die Galerien gegen Feuer zu schützen. Eine unaufhörliche Prozession von Karren rollte durch die Porte Narbonnaise und brachte Nahrungsmittel für die Cité: Pökelfleisch aus La Piège und dem Lauragais, Wein aus Carcassès, Gerste und Weizen aus den Ebenen, Bohnen und Linsen von den Gemüsefeldern von Sant-Miquel und Sant- Vicens.

Hinter all der Betriebsamkeit war ein Gefühl von Stolz und Entschlossenheit spürbar. Nur die düsteren Wolken aus schwarzem Rauch über dem Fluss und dem Marschland im Nordwesten - wo auf Befehl von Vicomte Trencavel die Mühlen verbrannt worden waren und die Ernte vernichtet - erinnerten daran, wie unmittelbar und real die Gefahr war.

Alaïs wartete an dem vereinbarten Treffpunkt auf Sajhë. In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen, die sie Esclarmonde stellen wollte, unstet wie die Vögel am Fluss. Als Sajhë schließlich kam, war sie sprachlos vor gespannter Erwartung.

Sie folgte ihm durch namenlose Straßen in den Vorort Sant- Miquel, wo sie schließlich vor einer niedrigen Tür, die sich ganz nah an der Außenmauer befand, stehen blieben. Das Geräusch der Männer, die Gräben anlegten, damit der Feind sich nicht unter die Mauern hindurchgraben konnte, war sehr laut. Sajhë musste fast schreien, damit sie ihn verstand.

»Menina wartet drinnen«, sagte er mit plötzlich ernster Miene. »Kommst du nicht mit hinein?«

»Sie hat gesagt, ich soll Euch herbringen und dann zurück zum Chateau laufen und Intendant Pelletier holen.«

»Er müsste im Cour d'Honneur sein«, sagte sie.

»Gut.« Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. »Bis später dann.«

Alaïs stieß die Tür auf und rief in freudiger Erwartung Esclarmondes Namen, dann blieb sie wie angewurzelt stehen. In dem Dämmerlicht konnte sie eine zweite Gestalt auf einem Stuhl in der Ecke sitzen sehen.

»Kommt herein, kommt herein«, sagte Esclarmonde mit einem Lächeln in der Stimme. »Ich glaube, Ihr habt Simeon bereits kennen gelernt.«

Alaïs war verblüfft. »Simeon? So schnell?«, rief sie erfreut, lief zu ihm und ergriff seine Hände. »Was habt Ihr für Neuigkeiten? Seit wann seid Ihr in Carcassona? Wo wohnt Ihr?«

Simeon stieß ein tiefes, volles Lachen aus. »So viele Fragen! Was für eine Eile, alles möglichst schnell zu erfahren! Bertrand hat gesagt, dass Ihr schon als Kind unablässig Fragen gestellt habt!« Alaïs bestätigte das mit einem Lächeln. Sie schob sich auf die Bank am Tisch, nahm den Becher Wein, den Esclarmonde ihr an- bot, und hörte zu, während Simeon weiter mit Esclarmonde sprach. Die Nähe und Ungezwungenheit zwischen ihnen war bereits deutlich spürbar.

Er konnte vorzüglich erzählen, verknüpfte Episoden aus seinem Leben in Chartres und Beziers mit Erinnerungen an sein Leben im Heiligen Land. Die Zeit verging wie im Fluge, während er die Berge Judäas im Frühling beschrieb, ihnen von den Ebenen von Sephal erzählte, die mit Lilien, gelben und lila Iris und rosa blühenden Mandelbäumen bedeckt waren wie mit einem Teppich, der sich bis zum Ende der Welt erstreckte. Alaïs lauschte gebannt.

Die Schatten wurden länger. Und allmählich veränderte sich die Atmosphäre, ohne dass es Alaïs richtig wahrnahm. Sie spürte nur ein nervöses Flattern im Magen, eine angespannte Erwartung. Sie fragte sich, ob Guilhem oder ihr Vater am Vorabend einer Schlacht dieses Gefühl empfanden. Als ob die Zeit aufgehoben wäre.

Sie schaute zu Esclarmonde hinüber, die die Hände im Schoß gefaltet hatte und eine heitere Gelassenheit verströmte.

»Mein Vater kommt bestimmt bald«, sagte sie, weil sie sich dafür verantwortlich fühlte, dass er noch immer nicht da war. »Er hat mir sein Wort gegeben.«

»Das wissen wir«, sagte Simeon und tätschelte ihre Hand. Seine Haut war trocken wie Pergament.

»Aber sehr viel länger können wir vielleicht nicht warten«, sagte Esclarmonde mit einem Blick auf die Tür, die unerbittlich geschlossen blieb. »Die Besitzer dieses Hauses werden bald zurückkommen.«

Alaïs bemerkte, dass die beiden einen Blick wechselten. Sie hielt die Anspannung nicht länger aus und beugte sich vor. »Esclarmonde, gestern habt Ihr meine Frage nicht beantwortet.« Sie war selbst erstaunt, wie ruhig sie klang. »Seid Ihr auch eine Hüterin? Ist das Buch, das mein Vater sucht, in Eurem Gewahrsam?«

Einen Moment lang schienen ihre Worte zwischen ihnen in der Luft zu schweben, niemandem zugehörig. Dann lachte Simeon zu Alaïs' Überraschung leise auf.

»Was hat Euer Vater Euch über die Noublesso erzählt?«, fragte er mit einem Funkeln in den dunklen Augen.

»Dass es immer fünf Hüter gab, die geschworen hatten, die Bücher der Labyrinth-Trilogie zu schützen«, sagte sie kühn. »Hat er auch erklärt, warum gerade fünf?«

Alaïs schüttelte den Kopf.

»Der Navigataire, der Oberste, soll stets von vier Eingeweihten unterstützt werden. Gemeinsam repräsentieren sie die fünf Enden des menschlichen Körpers und die Macht der Zahl fünf. Jeder Hüter wird aufgrund seiner Tapferkeit, Entschlossenheit und Treue ausgewählt. Christen, Sarazenen, Juden, entscheidend ist unsere Seele, nicht das Blut oder die Geburt oder die Rasse. Darin spiegelt sich außerdem die Art des Geheimnisses wieder, das zu schützen wir geschworen haben und das zu jedem und keinem Glauben gehört.« Er lächelte. »Die Noublesso de los Seres besteht seit über zweitausend Jahren - wenn auch nicht immer unter diesem Namen und bis heute ist es ihre Aufgabe, das Geheimnis zu wahren und zu beschützen. Manchmal haben wir versteckt gelebt, zu anderen Zeiten sind wir ganz offen aufgetreten.«

Alaïs wandte sich an Esclarmonde. »Mein Vater will nicht akzeptieren, dass Ihr eine Hüterin seid. Er kann es einfach nicht glauben.«

»Es läuft seinen Erwartungen zuwider.«

»Das war bei Bertrand schon immer so«, schmunzelte Simeon. »Er konnte ja auch nicht davon ausgehen, dass einer der Hüter eine Frau ist«, versuchte Alaïs ihren Vater zu verteidigen.

»In früheren Zeiten war das weniger ungewöhnlich«, sagte Simeon. »Ägypten, Assyrien, Rom, Babylon, diese alten Kulturen, von denen Ihr bestimmt schon gehört habt, achteten die Frau höher, als wir das heute tun, in diesen finsteren Zeiten.«

Alaïs dachte kurz nach. »Meint Ihr, Harif hat Recht mit seiner Annahme, dass die Bücher in den Bergen sicherer aufgehoben sind?«, fragte sie.

Simeon hob beide Hände. »Wir sollten uns nicht anmaßen, das, was sein wird oder nicht sein wird, Vorhersagen zu können. Unsere Aufgabe ist es, die Bücher einfach nur zu behüten und vor Schaden zu schützen. Dafür zu sorgen, dass sie bereit sind, wenn sie gebraucht werden.«

»Und deshalb hat Harif Euren Vater ausgewählt, die Bücher wegzubringen, und nicht einen von uns«, schaltete Esclarmonde sich ein. »Seine Position macht ihn zum geeigneteren envoi. Er kann Männer und Pferde aufbieten, er kann ungehinderter reisen als wir.«

Alaïs zögerte, wollte ihrem Vater nicht in den Rücken fallen. »Er möchte den Vicomte nicht allein lassen. Er ist hin- und hergerissen zwischen seinen alten und seinen neuen Pflichten.«

»Derlei Widersprüche kennen wir alle«, sagte Simeon. »Wir alle haben schon schwere Entscheidungen treffen müssen, welcher Weg der beste sei. Bertrand kann von Glück sagen, dass er so lange Zeit hier leben konnte, ohne diese Entscheidung fällen zu müssen.« Er nahm ihre Hände in seine. »Bertrand darf nicht warten. Alaïs. Ihr müsst ihn darin bestärken, seine Aufgabe zu erfüllen. Dass Carcassona noch nie eingenommen wurde, bedeutet nicht, dass es nicht eingenommen werden kann.«

Alaïs spürte die Augen von beiden auf sich. Sie stand auf und ging hinüber zur Feuerstelle. Ihr Herz raste, als ein Gedanke in ihr Gestalt annahm.

»Darf ein anderer an seiner statt handeln?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.

Esclarmonde verstand sofort. »Ich glaube nicht, dass Euer Vater das erlauben würde. Ihr seid ihm zu teuer.«

Alaïs drehte sich um und blickte sie beide an. »Vor seinem Aufbruch nach Montpelhier war er der Meinung, dass ich der Aufgabe gewachsen bin. Im Grunde hat er mir die Erlaubnis schon gegeben.«

Simeon nickte. »Das stimmt, aber die Situation verändert sich täglich. }e näher die Franzosen dem Gebiet von Vicomte Trencavel kommen, desto gefährlicher wird die Lage auf den Straßen, Tag für Tag, das habe ich selbst beobachtet. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist es zu riskant, überhaupt noch zu reisen.« Alaïs blieb hartnäckig. »Aber ich müsste ja in die entgegengesetzte Richtung«, wandte sie ein und blickte von einem zum anderen. »Und Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Falls die Traditionen der Noublesso es nicht untersagen, dass ich meinem Vater diese Last von den Schultern nehme, dann biete ich meine Dienste an seiner statt an. Ich bin durchaus in der Lage, mich zu verteidigen. Ich bin eine vortreffliche Reiterin, im Umgang mit Schwert und Bogen geübt. Niemand würde je vermuten, dass ich ...« Simeon hob die Hand. »Ihr missdeutet unser Zögern, mein Kind. Ich zweifle keineswegs an Eurem Mut oder Eurer Entschlossenheit.«

»Dann gebt mir Euren Segen.«

Simeon seufzte und drehte sich zu Esclarmonde um. »Schwester, was meint Ihr? Natürlich nur, falls Bertrand einwilligt.« »Ich flehe Euch an, Esclarmonde«, bettelte Alaïs, »unterstützt meine Bitte. Ich kenne meinen Vater.«

»Ich kann nichts versprechen«, sagte die alte Frau schließlich, »aber ich werde mich Euch nicht in den Weg stellen.« Ein Lächeln breitete sich auf Alaïs' Gesicht aus. »Aber Ihr müsst seiner Entscheidung folgen«, sprach Esclarmonde weiter. »Wenn er seine Erlaubnis nicht geben will, müsst Ihr es hinnehmen.«

Er kann nicht nein sagen. Ich lasse ihn nicht nein sagen.

»Ich werde ihm gehorchen, natürlich«, sagte sie.

 

Die Tür ging auf, und Sajhë platzte ins Zimmer, gefolgt von Bertrand Pelletier.

Er umarmte Alaïs, begrüßte Simeon mit großer Freude und Zuneigung und verneigte sich dann höflich vor Esclarmonde. Alaïs und Sajhë holten Wein und Brot, während Simeon erklärte, was sie bislang besprochen hatten.

Zu Alaïs' Verblüffung hörte ihr Vater ihm schweigend und ohne irgendwelche Zwischenbemerkungen zu. Sajhë lauschte zunächst mit großen Augen, wurde aber rasch müde und lehnte sich schläfrig gegen seine Großmutter. Alaïs beteiligte sich nicht an dem Gespräch, wohl wissend, dass Simeon und Esclarmonde ihre Sache besser vertreten würden als sie selbst, doch hin und wieder schielte sie zu ihrem Vater hinüber.

Sein Gesicht war grau und zerfurcht, und er wirkte erschöpft. Sie sah ihm an, dass er nicht wusste, was er tun sollte.

Endlich war alles gesagt. In dem kleinen Raum entstand eine gespannte Stille. Alle warteten, unsicher, wie die Entscheidung ausfallen würde.

Alaïs räusperte sich. »Nun, Paire. Wie lautet Eure Entscheidung? Gebt Ihr mir die Erlaubnis?«

Pelletier seufzte. »Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen.«

Ihr Mut sank. »Das weiß ich, und ich bin dankbar für Eure Liebe. Aber ich möchte helfen. Und ich kann es.«

»Ich habe einen Vorschlag, der Euch beide zufrieden stellen könnte«, sagte Esclarmonde leise. »Erlaubt Alaïs, mit der Trilogie aufzubrechen, aber nur ein Stück des Weges zu reisen, sagen wir, bis Limoux. Ich habe dort Freunde, wo sie sicher Unterkommen kann. Wenn Eure Arbeit hier getan ist und der Vicomte Euch entbehren kann, folgt Ihr ihr nach und reist mit ihr gemeinsam weiter in die Berge.«

Pelletier blickte finster. »Darin sehe ich keinerlei Nutzen. Der Irrsinn, in diesen unruhigen Zeiten überhaupt eine Reise zu unternehmen, erregt Aufmerksamkeit, und das wollen wir doch unter allen Umständen vermeiden. Außerdem kann ich nicht sagen, wie lange mich meine Pflichten in Carcassona festhalten werden.«

Alaïs' Augen funkelten. »Das ist leicht. Ich könnte bekannt geben lassen, dass ich ein Gelübde erfülle, das ich aus Anlass meiner Hochzeit abgegeben habe«, sagte sie und überlegte weiter, während sie sprach. »Ich könnte sagen, dass ich dem Abt von Sant-Hilaire ein Geschenk machen möchte. Von dort ist es nur ein Katzensprung bis Limoux.«

»Diese plötzliche Anwandlung von Frömmigkeit wird niemanden überzeugen«, sagte Pelletier mit einem unvermuteten Anflug von Humor, »vor allem nicht deinen Gemahl.«

Simeon hob einen Finger. »Die Idee ist ausgezeichnet, Bertrand. Eine Pilgerfahrt in dieser Zeit würde bei niemandem Misstrauen wecken. Außerdem ist Alaïs die Tochter des Intendanten von Carcassona. Keiner würde es wagen, ihre Absichten anzuzweifeln.«

Pelletier rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und seine Miene war trotzig und hart. »Ich bin noch immer der Auffassung, dass die Trilogie hier, innerhalb der Ciutat, am besten aufgehoben wäre. Harif kann die derzeitige Situation nicht so abschätzen, wie wir das können. Carcassona wird nicht eingenommen werden.«

»Alle Städte, wie stark, wie unbeugsam sie auch sind, können fallen. Das weißt du. Die Anweisungen des Navigataires lauten, die Bücher zu ihm in die Berge zu bringen.« Er fixierte Pelletier mit seinen dunklen Augen. »Ich verstehe, dass du den Vicomte Trencavel in dieser schweren Zeit nicht im Stich lassen willst. Das hast du gesagt, wir akzeptieren es. Aus dir spricht dein Gewissen, wohl oder übel.« Er hielt kurz inne. »Dennoch, wenn du nicht gehst, dann muss es jemand anderer für dich tun.«

Alaïs sah, wie ihr Vater sich quälte, seine widersprüchlichen Gefühle miteinander in Einklang zu bringen. Gerührt streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. Er sagte nichts, aber er dankte ihr für die Geste, indem er den Druck kurz erwiderte. »Aquo es vostre«, sagte sie leise. Lasst mich das für Euch tun. Pelletier stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. »Du bringst dich in große Gefahr, Filha.« Alaïs nickte. »Und du möchtest es trotzdem tun?«

»Es ist eine Ehre, Euch auf diese Weise zu dienen.«

Simeon legte Pelletier eine Hand auf die Schulter. »Sie ist tapfer, deine Tochter. Standhaft. Wie du, mein alter Freund.«

Alaïs wagte kaum zu atmen.

»Mein Herz ist dagegen«, sagte Pelletier schließlich. »Mein Kopf jedoch sagt etwas anderes, also ...«Er hielt inne, als graute ihm vor dem, was er jetzt sagen würde. »Wenn dein Gemahl und Dame Agnès dir die Erlaubnis geben - und wenn Esclarmonde als Anstandsdame mitreist -, dann erlaube ich es.«

Alaïs beugte sich über den Tisch und küsste ihren Vater auf den Mund.

»Du hast weise entschieden«, sagte Simeon strahlend.

»Wie viele Männer könnt Ihr für uns entbehren, Intendant Pelletier?«, fragte Esclarmonde.

»Vier Bewaffnete, höchstens sechs.«

»Und wie bald können alle Vorbereitungen getroffen sein?« »Innerhalb einer Woche«, entgegnete Pelletier. »Zu schnelles Handeln würde Verdacht erregen. Ich muss die Erlaubnis von Dame Agnès einholen und du von deinem Gemahl, Alaïs.« Sie öffnete den Mund, um zu sagen, dass Guilhem ihre Abwesenheit wohl kaum bemerken würde, überlegte es sich dann aber anders. »Wenn dein Plan gelingen soll, Filha, müssen wir die Etikette einhalten.« Jede Spur von Unentschlossenheit war aus seinem Gesicht und seiner Haltung gewichen, als er aufstand, um sich zu verabschieden. »Alaïs, kehre ins Chateau Comtal zurück und suche François. Berichte ihm von unserem Vorhaben, in knappen Worten, und sage ihm, er soll sofort zu mir kommen.« »Kommt Ihr nicht mit?«

»Ich komme gleich nach.«

»Wohl denn. Soll ich Esclarmondes Buch mitnehmen?« Pelletier lächelte gequält. »Da Esclarmonde dich begleiten wird, Alaïs, bin ich sicher, dass das Buch noch ein Weilchen länger bei ihr in guten Händen ist.«

»Ich wollte damit nicht sagen ...«

Pelletier klopfte auf den Beutel unter seinem Mantel. »Aber Simeons Buch wirst du mitnehmen.« Er griff unter den Mantel und holte das Schafslederfutteral hervor, das Alaïs in Besièrs kurz gesehen hatte, als Simeon es ihrem Vater gegeben hatte. »Bring es ins Château. Nähe es in deinen Reisemantel ein. Das Buch der Wörter werde ich später holen.«

Alaïs nahm das Buch und schob es in ihren Beutel, dann hob sie die Augen und sah ihren Vater an. »Ich danke Euch, Paire, für Euer Vertrauen in mich.«

Pelletier wurde rot. Sajhë sprang hastig auf. »Ich pass auf, dass Dame Alaïs sicher nach Hause kommt«, sagte er. Alle lachten. »Tu das, gentilöme«, sagte Pelletier und klopfte ihm auf den Rücken. »All unsere Hoffnungen ruhen auf ihren Schultern.«

»Ich sehe deine guten Eigenschaften in ihr«, sagte Simeon, als sie zu dem Tor gingen, das aus Sant-Miquel ins jüdische Viertel dahinter führte. »Sie ist mutig, hartnäckig, treu. Sie gibt nicht leicht auf. Hat deine älteste Tochter auch so viel von dir?«

»Oriane kommt mehr nach ihrer Mutter«, sagte er knapp. »Sie hat Marguerites Aussehen und ihr Temperament.«

»Das ist häufig so. Manchmal ähnelt ein Kind dem einen Elternteil, manchmal dem anderen.« Simeon zögerte. »Sie ist mit dem escrivain von Vicomte Trencavel verheiratet?«

Pelletier seufzte. »Es ist keine glückliche Ehe. Congost ist nicht mehr jung und hat kein Verständnis für sie. Aber er ist immerhin ein angesehener Mann am Hof.«

Sie gingen schweigend einige Schritte weiter. »Wenn sie Marguerites Aussehen hat, muss sie schön sein.«

»Oriane hat Liebreiz und Anmut und findet viel Bewunderung. Viele Männer würden gern um ihre Gunst werben. Und einige machen keinen Hehl daraus.«

»Deine Töchter sind dir gewiss ein großer Trost.«

Pelletier warf Simeon einen Blick zu. »Alaïs, ja.« Er stockte. »Ich muss sagen, die Schuld liegt bei mir, aber ich finde Orianes Gesellschaft weniger ... Ich versuche, gerecht zu sein, aber leider haben sie nicht viel füreinander übrig.«

»Wie schade«, murmelte Simeon.

Sie waren am Tor angekommen. Pelletier blieb stehen.

»Ich wünschte, ich könnte dich überreden, in der Ciutat zu wohnen. Oder wenigstens in Sant-Miquel. Wenn unsere Feinde da sind, kann ich dich außerhalb der Mauern nicht beschützen und ...«

Simeon legte eine Hand auf Pelletiers Arm. »Du machst dir zu viele Sorgen, mein Freund. Meine Rolle ist jetzt vorbei. Ich habe dir das Buch gegeben, das mir anvertraut war. Auch die anderen beiden Bücher sind innerhalb dieser Mauern. Du hast Esclarmonde und Alaïs, um dir zu helfen. Was soll da noch jemand von mir wollen?« Er betrachtete seinen Freund aus dunkel glimmenden Augen. »Mein Platz ist bei meinem Volk.«

In Simeons Tonfall schwang etwas mit, das Pelletier beunruhigte. »Ich bin nicht bereit, diesen Abschied als etwas Endgültiges zu betrachten«, sagte er heftig. »Ehe der Monat vorüber ist, trinken wir beide wieder gemeinsam unseren Wein, denke an meine Worte.«

»Nicht deinen Worten misstraue ich, mein Freund, sondern den Schwertern der Franzosen.«

»Ich wette, im nächsten Frühjahr ist das alles längst vorüber. Dann sind die Franzosen mit eingekniffenem Schwanz wieder nach Hause gehumpelt, der Comte von Toulouse sucht sich neue Verbündete, und du und ich, wir sitzen am Feuer und schwelgen in Erinnerungen an unsere verlorene Jugend.«

»Pas a pas, se war luenh«, sagte Simeon und umarmte ihn. »Und grüße Harif herzlich von mir. Sag ihm, dass ich noch immer auf die Schachpartie warte, die er mir vor dreißig Jahren versprochen hat!«

Pelletier hob zum Abschied die Hand, als Simeon durch das Tor schritt, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Intendant Pelletier!«

Pelletier schaute weiter auf die Menschenmenge, die sich Richtung Fluss bewegte, aber er konnte Simeon nicht mehr entdecken.

»Messire!«, wiederholte der Bote atemlos und mit erhitztem Gesicht.

»Was ist denn?«

»Ihr werdet an der Porte Narbonnaise gebraucht, Messire.«


Das Verlorene Labyrinth
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