Kapitel 69
Los Seres

 

Alice döste im Schatten unter den Bäumen, als Audric einige Stunden später wieder auftauchte.

»Ich habe uns etwas zu essen gemacht«, sagte er.

Nachdem er geschlafen hatte, sah er besser aus. Seine Haut hatte das wächserne, gespannte Aussehen verloren, und die bernsteinfarbenen Augen leuchteten.

Alice nahm ihre Sachen und folgte ihm ins Haus. Der Tisch war gedeckt mit Ziegenkäse, Oliven, Tomaten, Pfirsichen und einem Krug Wein.

»Bitte. Greifen Sie zu.«

Sobald sie Platz genommen hatten, bestürmte Alice ihn mit den Fragen, die ihr die ganze Zeit durch den Kopf gegangen waren. Ihr fiel auf, dass er wenig aß, beim Wein aber nicht ganz so zurückhaltend war.

»Hat Alaïs versucht, die beiden Bücher zurückzubekommen, die ihre Schwester und ihr Ehemann gestohlen hatten?«

»Schon als sich der allererste Schatten des drohenden Krieges über das Pays d'Oc gelegt hatte, war es Harifs Absicht gewesen, die Labyrinth-Trilogie zu vereinen«, sagte er. »Wie gesagt, dank ihrer Schwester Oriane war auf Alaïs' Kopf eine Belohung ausgesetzt. Deshalb war es für sie gefährlich zu reisen. Die seltenen Male, die sie das Dorf verließ, ging sie verkleidet. Eine Reise in den Norden wäre Wahnsinn gewesen. Sajhë schmiedete mehrmals Pläne, nach Chartres zu gehen. Aber sie scheiterten alle.« »Wollte er das für Alaïs tun?«

»Zum Teil, aber auch für seine Großmutter Esclarmonde. Durch sie empfand er Verantwortung für die Noublesso de los Seres, so wie Alaïs durch ihren Vater.«

»Was geschah mit Esclarmonde?«

»Viele Bons Homes gingen nach Norditalien. Esclarmonde war zu geschwächt für eine so weite Reise. Stattdessen brachten Gaston und sein Bruder sie in eine kleine Gemeinde in Navarra, wo sie bis zu ihrem Tod wenige Jahre später blieb. Sajhë besuchte sie dort, sooft er konnte.« Er hielt inné. »Alaïs war unendlich traurig darüber, dass sie einander nie wiedersahen.«

»Und was war mit Oriane?«, fragte Alice nach einer Weile. »Hörte Alaïs auch von ihr?«

»Nur sehr wenig. Interessanter war das Labyrinth, das in der Kathedrale von Chartres gebaut wurde. Keiner wusste, wer es in Auftrag gegeben hatte oder was es bedeutete. Das war mit ein Grund dafür, warum d'Evreux und Oriane sich dort niederließen und nicht auf seine Besitzungen weiter nördlich zurückkehrten.« »Und die Bücher selbst waren in Chartres gemacht worden.« »In Wahrheit wurde das Labyrinth gebaut, um die Aufmerksamkeit von der Labyrinth-Höhle im Süden abzulenken.«

»Ich habe es mir gestern angesehen«, sagte Alice.

War das wirklich erst gestern?

»Ich habe nichts empfunden. Ich meine, es war sehr schön, sehr beeindruckend, aber sonst nichts.«

Audric nickte. »Oriane bekam ihren Willen. Guy d'Evreux nahm sie als seine Frau mit in den Norden. Dafür gab sie ihm das Buch der Arzneien und das Buch der Zahlen und das Versprechen, ihm auch das Buch der Wörter zu beschaffen.«

»Als seine Frau?« Alice zog die Stirn kraus. »Aber was war denn mit ...«

»Jehan Congost? Er war ein guter Mann. Pedantisch, eifersüchtig, humorlos, mag sein, aber ein treuer Diener. François ermordete ihn auf Orianes Befehl.« Er schwieg kurz. »François hatte also durchaus den Tod verdient. Es war ein schlimmes Ende, aber er hatte kein besseres verdient.«

Alice schüttelte den Kopf. »Ich wollte nach Guilhem fragen«, sagte sie.

»Der blieb im Midi.«

»Aber hatte er sich denn keine Hoffnungen auf Oriane gemacht?«

»Er kämpfte unermüdlich dafür, die Kreuzfahrer aus dem Land zu vertreiben. Im Laufe der Jahre sammelte er in den Bergen eine große Gefolgschaft um sich. Zuerst stellte er sein Schwert in den Dienst von Pierre-Roger de Mirepoix. Später dann, als Vicomte Trencavels Sohn das Land zurückgewinnen wollte, das seinem Vater gestohlen worden war, kämpfte Guilhem für ihn.«

»Er wechselte die Seiten?«, fragte Alice verwundert.

»Nein, er ...« Baillard seufzte. »Nein. Guilhem du Mas hatte Vicomte Trencavel nie verraten. Er war ein Dummkopf, gewiss, aber letztendlich doch kein Verräter. Oriane hatte ihn benutzt. Er wurde zur selben Zeit gefangen genommen wie Raymond- Roger Trencavel, beim Fall von Carcassona. Anders als dem Vicomte gelang Guilhem die Flucht.« Audric holte tief Atem, als fiele ihm das Eingeständnis schwer. »Er war kein Verräter.« »Aber Alaïs hielt ihn für einen«, sagte sie leise.

»Er war seines eigenen Unglücks Schmied.«

»Ja, ich weiß, aber trotzdem ... mit so viel Reue zu leben und zu wissen, dass Alaïs ihn für genauso schlecht hielt wie ...«

»Guilhem verdient kein Mitgefühl«, sagte Baillard barsch. »Er hat Alaïs betrogen, seine Ehegelübde gebrochen, sie gedemütigt. Und dennoch hat sie ...« Er brach ab. »Verzeihen Sie. Manchmal ist es schwer, objektiv zu bleiben.«

Warum wühlt ihn das so auf?

»Hat er nie versucht, Alaïs zu sehen?«

»Er liebte sie«, sagte Audric lapidar. »Er wollte das Risiko nicht eingehen, die Franzosen zu ihr zu führen.«

»Und auch sie unternahm keinen Versuch, ihn zu sehen?« Audric schüttelte langsam den Kopf. »Hätten Sie es getan, an ihrer Stelle?«, fragte er sanft.

Alice überlegte einen Moment. »Ich weiß nicht. Wenn sie ihn geliebt hat, trotz allem ...«

»Hin und wieder drangen Nachrichten von Guilhems Feldzügen bis ins Dorf. Alaïs sagte nichts dazu, aber sie war stolz auf den Mann, der aus ihm geworden war.«

Alice rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Audric schien ihre Ungeduld zu spüren, denn er redete jetzt schneller.

»Nach Sajhës Rückkehr ins Dorf herrschte für einige Jahre lang ein unsicherer Friede. Ihm, Alaïs und Harif ging es gut. Andere aus Carcassona lebten in den Bergen. Auch Rixende, Alaïs' ehemalige Dienerin, hatte sich in den Bergen niedergelassen. Es war ein bescheidenes Leben, aber ein gutes.« Baillard hielt kurz inne. »Im Jahre 1226 wurde alles anders. Ein neuer König bestieg den französischen Thron. Saint-Louis war ein religiöser Eiferer. Die immer noch bestehende Häresie war ihm zuwider. Denn trotz der jahrelangen Unterdrückung und Verfolgung hatte die Katharerkirche im Midi noch immer ähnlich viel Autorität und Einfluss wie die katholische Kirche. Die fünf Katharerbistümer - Tolosa, Albi, Carcassona, Agen, Razes - waren vielerorts angesehener und einflussreicher als ihre katholischen Entsprechungen.

Auf Alaïs und Sajhë wirkte sich das alles zunächst nicht aus. Sie lebten so ziemlich weiter wie zuvor. Im Winter reiste Sajhë nach Spanien, um Geld und Waffen für den Widerstand zu beschaffen. Alaïs blieb hier. Sie war eine gute Reiterin, geschickt mit Bogen und Schwert, und sie hatte großen Mut. Sie brachte Botschaften zu den Anführern des Widerstandes in der Ariege und in den Sabarthès-Bergen. Sie bot parfaits und parfaites Unterschlupf, organisierte Nahrungsmittel und Verstecke und kümmerte sich um die Verbreitung von Informationen, wann und wo Gottesdienste stattfinden würden. Die parfaits waren überwiegend Wanderprediger, die von ihrer eigenen Hände Arbeit lebten. Sie kämmten und spannen Wolle, backten Brot. Sie reisten zu zweit, immer ein erfahrener Lehrer mit einem jungen Anfänger. Normalerweise zwei Männer, natürlich, aber mitunter auch Frauen.« Audric lächelte. »Alaïs machte in etwa das Gleiche, was Esclarmonde, ihre Freundin und Mentorin, früher in Carcassona gemacht hatte.

Die Exkommunizierungen, die Nachsicht bei Übergriffen der Kreuzfahrer, der neue Feldzug, um die so genannte Häresie auszumerzen, all das hätte so weitergehen können wie zuvor auch, hätte es da nicht einen neuen Papst gegeben. Papst Gregor IX. Er gilt heute noch als Vater der Inquisition. Im Jahre 1231 übergab er den Dominikanern die Leitung der Inquisition. Sie betrachteten es als ihre Aufgabe, Häretiker überall und mit allen Mitteln aufzuspüren und zu vernichten.«

»Seltsam, ich bringe die Inquisition immer mit Spanien in Verbindung.«

»Das denken die meisten«, sagte er. »Aber angefangen hat die Inquisition in der Auseinandersetzung mit den Katharern. Jedenfalls, der Terror begann. Inquisitoren zogen von Stadt zu Stadt, erhoben Anschuldigungen, prangerten an und verurteilten. Es wimmelte von Spionen und Spitzeln. Es fanden Exhumierungen statt, um Tote, die in heiliger Erde bestattet worden waren, nachträglich als Ketzer zu verbrennen. Durch den Vergleich von Geständnissen mit halben Geständnissen breitete sich die Inquisition zur Ausrottung des Katharismus über alle Dörfer und Städte aus. Das Pays d'Oc wurde von einer fürchterlichen Flutwelle von Justizmorden überschwemmt. Gute, anständige Menschen wurden verurteilt. Aus Angst wandten sich Nachbarn gegen Nachbarn. Jede größere Stadt hatte ein Inquisitionsgericht, von Tolosa bis Carcassona. Nach der Verurteilung übergab der Inquisitor seine Opfer der weltlichen Gerichtsbarkeit, die sie einkerkerte, prügelte, verstümmelte oder verbrannte. Die Inquisition selbst machte sich die Hände nicht schmutzig. Nur wenige wurden freigesprochen. Und selbst wenn jemand freikam, musste er ein gelbes Kreuz auf der Kleidung tragen, das ihn als Ketzer brandmarkte.«

Eine Erinnerung flackerte in Alice auf. Wie sie durch einen Wald rennt, um Jägern zu entkommen. Wie sie hinfällt. Ein Stofffetzen, wie ein Herbstblatt, das von ihr wegschwebt, durch die Luft. Habe ich das geträumt?

Alice blickte in Audrics Gesicht und sah darin so viel Kummer, dass es ihr fast das Herz zerriss.

»Im Mai 1234 trafen die Inquisitoren in Limoux ein. Ein unglückliches Schicksal wollte es, dass Alaïs sich gerade mit Rixen- de dort aufhielt. In der Verwirrung - vielleicht hielt man sie irrtümlich für parfaites, zwei Frauen, die gemeinsam reisten - wurden sie festgenommen und nach Tolosa gebracht.«

Genau das war meine Befürchtung.

»Sie nannten nicht ihren richtigen Namen, daher dauerte es mehrere Tage, bis Sajhë erfuhr, was geschehen war. Er machte sich gleich auf den Weg zu ihnen, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Doch das Glück war ihm nicht hold. Die Inquisitionsverhöre fanden meist in der Kathedrale von Sant-Sernin statt, also eilte er zunächst dorthin. Alaïs und Rixende waren jedoch nach Sant-Etienne gebracht worden.«

Alice hielt den Atem an, als sie sich an die Geisterfrau erinnerte, die von Mönchen in schwarzen Kutten weggezerrt wurde.

»Ich war dort«, brachte sie heraus.

»Die Gefangenen wurden unter entwürdigenden Bedingungen festgehalten. In dreckigen Kerkern, in die kein Sonnenstrahl drang, konnten sie Tag und Nacht nur an den Schreien der Gefolterten unterscheiden. Viele starben in den Gemäuern, während sie noch auf ihren Prozess warteten.«

Alice wollte etwas sagen, doch ihr Mund war zu trocken.

»Ist sie ...« Sie verstummte, unfähig weiterzusprechen.

»Der menschliche Geist kann viel ertragen, aber ist er einmal gebrochen, dann zerfällt er wie Staub. Und das war das Ziel der Inquisitoren. Sie brachen unseren Geist, so wie die Folterknechte Haut und Knochen zerfetzten, bis wir nicht mehr wussten, wer wir waren.« »Was geschah?«, sagte sie rasch.

»Sajhë kam zu spät«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Aber Guil- hem nicht. Er hatte gehört, dass eine Heilerin, eine Frau aus den Bergen, zur Vernehmung hergebracht worden war, und irgendwie konnte er sich denken, dass es Alaïs war, obwohl ihr Name nicht im Verzeichnis stand. Er bestach die Wachen, damit sie ihn durchließen - bestach sie oder drohte ihnen, ich weiß es nicht. Er fand Alaïs. Sie und Rixende wurden getrennt von den anderen festgehalten, und so gelang es ihm, sie aus Sant-Etienne und Tolosa hinauszuschmuggeln, bevor die Inquisitoren merkten, dass sie geflohen war.«

»Aber ...«

»Alaïs hatte immer den Verdacht, dass Oriane hinter ihrer Verhaftung steckte. Jedenfalls wurde sie nie verhört.«

Alice standen Tränen in den Augen. »Hat er sie ins Dorf zurückgebracht?«, fragte sie und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Kam sie wieder nach Hause?«

Baillard nickte. »Sie kam im agost zurück, kurz vor dem Himmelfahrtsfest, zusammen mit Rixende.« Er stieß die Worte geradezu hervor.

»Guilhem hatte sie nicht begleitet?«

»Nein«, sagte er. »Und sie sahen sich auch nicht wieder, bis ...« Er hielt inne. Alice spürte mehr, als dass sie es hörte, wie er den Atem einsog. »Alaïs' Tochter kam sechs Monate später zur Welt. Alaïs nannte sie Bertrande, zum Andenken an ihren Vater Bertrand Pelletier.«

 

Audrics Worte schienen zwischen ihnen zu schweben.

Ein weiteres Puzzleteilchen.

»Guilhem und Alaïs«, raunte sie vor sich hin. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Stammbaum ausgebreitet auf Grace' Schlafzimmerboden in Salleles d'Aude liegen. Der Name Alaïs PELLETIER-du MAS (1192-) mit roter Tinte hervorgehoben. Als sie ihn sich das letzte Mal angesehen hatte, konnte sie den Namen daneben nicht entziffern, nur Sajhës Namen, der mit grüner Tinte etwas versetzt darunter stand.

»Alaïs und Guilhem«, wiederholte sie.

Eine direkte Abstammungslinie von ihnen zu mir.

Alice brannte darauf zu erfahren, was in den drei Monaten geschehen war, die Guilhem und Alaïs zusammen verbrachten. Warum hatten sie sich wieder getrennt? Sie wollte wissen, was das Labyrinth-Symbol neben Alaïs' Namen und Sajhës Namen zu bedeuten hatte.

Und neben meinem Namen.

Aufgeregt blickte sie auf. Sie wollte gerade eine ganze Salve von Fragen abfeuern, als der Ausdruck auf Audrics Gesicht sie bremste. Instinktiv spürte sie, dass er lange genug von Guilhem gesprochen hatte.

»Und was geschah danach?«, fragte sie leise. »Sind Alaïs und ihre Tochter bei Sajhë und Harif in Los Seres geblieben?«

Das flüchtige Lächeln, das sich auf Audrics Gesicht zeigte, verriet ihr, dass er ihr für den Themenwechsel dankbar war.

»Sie war ein wunderbares Kind«, sagte er. »Freundlich, hübsch, immer gut gelaunt, und sie sang viel. Alle vergötterten sie, vor allem Harif. Bertrande saß oft stundenlang bei ihm und lauschte seinen Erzählungen aus dem Heiligen Land und über ihren Großvater, Bertrand Pelletier. Als sie älter wurde, erledigte sie Botengänge für ihn. Als sie sechs war, brachte er ihr sogar Schach bei.«

Audric verstummte, und seine Miene verdüsterte sich erneut. »Doch die ganze Zeit über griff die schwarze Hand der Inquisition immer weiter um sich. Nachdem die Kreuzfahrer das Flachland erobert hatten, richteten sie ihr Augenmerk auf die bislang uneinnehmbaren Bollwerke der Pyrenäen und Sabarthes-Berge. Trencavels Sohn Raymond kehrte 1240 mit einer Schar von chevaliers aus dem Exil zurück, und fast der gesamte Adel der Corbieres schloss sich ihm an. Ohne Mühe konnte er fast alle Ortschaften zwischen Limoux und der Montagne Noire wiedergewinnen. Das ganze Land unterstützte ihn: Saissac, Azille, Laure, die Châteaux von Quéribus, Peyrepertuse, Aguilar. Doch auch nach einem fast einmonatigen Kampf gelang es ihm nicht, Carcassona zurückzuerobern. Im Oktober zog er sich nach Montréal zurück. Niemand kam ihm zur Hilfe. Schließlich sah er sich gezwungen, nach Aragon zu flüchten.«

Audric atmete einmal tief durch. »Sofort setzte der Terror ein. Montréal wurde dem Erdboden gleichgemacht, Montolieu ebenso. Limoux und Alet kapitulierten. Alaïs war klar, uns allen war klar, dass das Volk den Preis für das Scheitern der Rebellion bezahlen würde.«

Baillard brach unvermittelt ab und sah Alice an. »Waren Sie auf dem Montségur, Madomaisèla Alice?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist ein ganz außergewöhnlicher Ort. Vielleicht ein heiliger Ort. Selbst heute sind dort noch Seelen zu spüren. Er ist auf drei Seiten von schroffen Felswänden geschützt. Gottes Tempel im Himmel.«

»Der sichere Berg«, sagte sie, ohne zu überlegen, und wurde dann rot, als sie merkte, dass sie Baillards Worte zitiert hatte.

»Viele Jahre früher, vor Beginn des Kreuzzuges, hatten die führenden Köpfe der Katharerkirche den seigneur von Montségur, Raymond de Péreille, gebeten, das halb zerfallene castellum neu aufzubauen und seine Festungsanlagen zu verstärken. 1243 war Pierre-Roger de Mirepoix, an dessen Hof Sajhë ausgebildet worden war, Kommandant der Garnison. Aus Angst um Bertrande und Harif glaubte Alaïs in Los Seres nicht mehr in Sicherheit zu sein, daher bot Sajhë sich an, mit ihnen nach Montségur zu gehen. Aber unterwegs konnten sie sich nicht mehr so gut verstecken. Vielleicht hätten sie sich trennen sollen. Alaïs drohte ja jetzt die Inquisition.«

»War Alaïs zur Katharerin geworden?«, fragte Alice unvermittelt, weil ihr auf einmal bewusst wurde, dass sie das noch immer nicht genau sagen konnte.

Er überlegte einen Moment. »Die Katharer glaubten, dass die Welt, die wir sehen, hören, riechen, schmecken und berühren können, vom Teufel erschaffen wurde. Sie glaubten, der Teufel habe reine Geister mit List und Tücke dazu überredet, aus Gottes Reich zu fliehen, und sie hier auf Erden in leiblichen Hüllen gefangen. Sie glaubten, wenn sie ein gutes Leben führten und »ein gutes Ende nahmen«, würden ihre Seelen von dieser Knechtschaft befreit und könnten zu Gottes Herrlichkeit im Himmel zurückkehren. Wenn nicht, würden sie innerhalb von vier Tagen auf der Erde wiedergeboren werden, und der Kreislauf würde erneut beginnen.«

Alice erinnerte sich an die Worte in Grace' Bibel.

»Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.«

Audric nickte. »Sie müssen wissen, dass die Bons Homes von den Menschen, denen sie dienten, sehr geliebt wurden. Sie ließen sich nicht dafür bezahlen, wenn sie Ehen schlossen, Kinder tauften oder Tote bestatteten. Sie erhoben keine Steuern, verlangten keinen Zehnten. Es gibt eine Geschichte, wie ein parfait einen Bauern sieht, der auf seinem Acker kniet. >Was machst du da?<, fragt er den Mann. >Ich danke Gott für die gute Ernte<, antwortet der Bauer. Der parfait lächelt und hilft dem Mann auf die Beine. >Das ist nicht Gottes Werk, sondern dein eigenes. Denn deine Hand hat den Boden im Frühling umgegraben, sie hat ihn bestellte« Er sah Alice fragend an. »Verstehen Sie, was das bedeutet?«

»Ich denke, ja«, sagte sie zögernd. »Die Katharer glaubten, dass der einzelne Mensch Kontrolle über sein eigenes Leben hat.« »Innerhalb der Zwänge und Grenzen der Zeiten und Orte, in die wir hineingeboren werden, ja.«

»Und hat Alaïs sich diese Überzeugung angeeignet?«, fragte sie hartnäckig.

»Alaïs war wie sie. Sie half den Menschen, stellte die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen. Sie tat, was sie für richtig hielt, ungeachtet dessen, was Tradition und Sitte verlangten.« Er lächelte. »Wie die Katharer glaubte sie nicht an das Jüngste Gericht. Sie glaubte, dass das Böse, das sie überall sah, nicht Gottes Werk sein konnte, aber letztendlich, nein. Sie war keine Katharerin. Alaïs war eine Frau, die an die Welt glaubte, die sie anfassen und sehen konnte.«

»Und Sajhë

Audric antwortete nicht direkt. »Heute ist die Bezeichnung Katharer allgemein geläufig, doch zu Alaïs ' Zeiten nannten die Gläubigen sich selbst Bons Homes. In den lateinischen Texten der Inquisition werden sie albigenses oder heretici genannt.«

»Und woher kommt dann der Ausdruck Katharer?«

»Nun, wir können unsere Geschichten doch nicht von den Siegern schreiben lassen«, sagte er. »Den Begriff haben ich und andere ...« Er brach ab, lächelte, als müsste er an einen alten Scherz denken. »Es gibt viele unterschiedliche Erklärungen. Zum Beispiel die, dass catar im Okzitanischen - cathare im Französischen - aus dem griechischen katharos stammt, das >rein< bedeutet. Aber was genau der Ursprung ist, kann keiner wissen.« Alice runzelte die Stirn. Sie merkte, dass ihr irgendwas entging. Aber was?

»Und der Glaube selbst? Wo ist der entstanden? Doch nicht in Frankreich?«

»Die Anfänge des europäischen Katharismus liegen im Bogomilismus, einem dualistischen Glauben, der sich seit dem 10. Jahrhundert in Bulgarien, Mazedonien und Dalmatien ausbreitete. Er war verwandt mit älteren Glaubensformen - beispielsweise dem Zoroastrianismus in Persien oder dem Manichäismus. Die Bogomilen glaubten an Reinkarnation.«

Ein Gedanke nahm allmählich in ihrem Kopf Gestalt an. Die Verbindung zwischen allem, was Audric ihr erzählte, und dem, was sie bereits wusste.

Warte ab und du wirst es erfahren. Hab Geduld.

»Im Palaïs des Arts in Lyon«, fuhr er fort, »findet sich die Handschrift eines katharischen Textes des Johannesevangeliums, eines der ganz wenigen Dokumente, das der Vernichtung durch die Inquisition entging. Es ist in der langue d'Oc verfasst, daher galt sein Besitz damals als strafbare, häretische Handlung. Von allen heiligen Texten der Bons Homes war das Johannesevangelium der bedeutsamste. Es ist das Evangelium, das den größten Wert auf persönliche, individuelle Erkenntnis durch Wissen legt - die Gnosis. Die Bons Homes beteten keine Götzenbilder an, Kreuze oder Altäre, die aus den Steinen und Bäumen der niederen Schöpfung des Teufels gefertigt waren - für sie hatte das Wort Gottes die allerhöchste Bedeutung.«

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

»Reinkarnation«, sagte sie langsam, eigentlich laut denkend. »Wie lässt sich diese Vorstellung denn überhaupt mit der orthodoxen christlichen Lehre in Einklang bringen?«

»In der christlichen Theologie nimmt das Geschenk des ewigen Lebens an diejenigen, die an Christus glauben und durch seinen Opfertod am Kreuz erlöst werden, eine zentrale Rolle ein. Reinkarnation ist nichts anderes als eine Form des ewigen Lebens.«

Das Labyrinth. Der Weg zu ewigem Leben.

Audric erhob sich und trat ans offene Fenster. Als Alice auf seinen dünnen, geraden Rücken blickte, spürte sie in ihm eine Entschlossenheit, die zuvor nicht da gewesen war.

»Verraten Sie mir eines, Madomaisela Tanner«, sagte er und drehte sich zu ihr um. »Glauben Sie an Schicksal? Oder macht uns der Weg, für den wir uns entscheiden, letztlich zu dem, was wir sind?«

»Ich ...«, setzte sie an und hielte dann inne. Sie war nicht mehr sicher, was sie dachte. Hier, in diesen zeitlosen Bergen, hoch oben in den Wolken, kamen ihr die Alltagswelt und ihre Werte belanglos vor. »Ich glaube an meine Träume«, sagte sie schließlich.

»Glauben Sie, dass Sie Ihr Schicksal beeinflussen können?«, fragte er nach.

Alice merkte, dass sie unwillkürlich nickte. »Ansonsten wäre doch alles sinnlos. Wenn wir bloß einen vorbestimmten Weg gehen, dann wären alle Erfahrungen, die uns ausmachen - Liebe, Trauer, Freude, Lernen, Veränderung-, bedeutungslos.«

»Und Sie würden einen anderen Menschen nicht daran hindern, eigene Entscheidungen zu treffen.«

»Das käme auf die Umstände an«, sagte sie langsam, mit zunehmender Unruhe. »Warum?«

»Ich bitte Sie, sich das zu merken«, sagte er leise. »Mehr nicht. Damit Sie sich dran erinnern, wenn es so weit ist. Si es atal es atal.«

Seine Worte brachten etwas in ihr zum Klingen. Alice war sicher, dass sie sie schon einmal gehört hatte. Sie schüttelte den Kopf, doch die Erinnerung wollte nicht kommen.

»Es kommt, wie es kommen wird«, sagte er leise.


Das Verlorene Labyrinth
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