Kapitel 51
Carcassonne

 

Donnerstag, 7. Juli 2005

 

Alice erwachte, wenige Sekunden ehe der Wecker klingelte, und merkte, dass sie quer auf dem Bett in einem Wust von Unterlagen und Papieren lag.

Der Stammbaum lag vor ihr, zusammen mit ihren Notizen aus der Bibliothek in Toulouse. Sie musste grinsen. Ganz wie in ihrer Studienzeit, als sie ständig am Schreibtisch eingeschlafen war. Aber sie fühlte sich nicht schlecht deswegen. Trotz des Einbruchs vom Vortag war sie heute Morgen guter Dinge. Zufrieden, vielleicht sogar glücklich.

Alice reckte sich herzhaft, dann stand sie auf, um das Fenster und die Läden zu öffnen. Der Himmel war mit hellen Lichtstreifen und flachen weißen Wolken durchsetzt. Die Hänge der Cité lagen im Schatten, und auf dem Gras unterhalb der Mauern schimmerte Morgentau. Über den kleinen und großen Türmen war der Himmel blau wie ein Ballen Seide. Zaunkönige und Lerchen sangen einander über die Dächer hinweg etwas vor. Überall waren Spuren des Unwetters zu sehen. Abfall, der gegen Geländer geweht worden war, aufgeweichte und umgekippte Kartons auf der Rückseite des Hotels, Zeitungen, die sich am Fuße der Straßenlampen auf dem Parkplatz türmten.

Alice war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, Carcassonne zu verlassen, als ob ihre Abreise etwas in Gang setzen würde. Aber sie musste etwas tun, und im Augenblick war Chartres ihre einzige Spur zu Shelagh.

Es war ein guter Tag für eine Reise.

Als sie ihre Papiere zusammenpackte, gestand sie sich ein, dass sie außerdem ganz vernünftig reagierte. Sie wollte nicht wie ein Opfer einfach nur dasitzen und darauf warten, dass der Eindringling vom Vorabend zurückkehrte.

Sie erklärte der Frau am Empfang, dass sie bis zum nächsten Tag verreisen würde, ihr Zimmer aber behalten wolle.

»Sie werden von einer Dame erwartet, Madame«, sagte die junge Frau und zeigte in die Lobby. »Ich wollte Sie gerade an- rufen.«

»Ach ja?« Alice schaute sich um. »Hat sie gesagt, was sie will?« Die Frau hinter der Rezeption schüttelte den Kopf.

»Okay. Danke.«

»Und das hier ist heute Morgen für Sie gekommen«, sagte die Frau und reichte ihr einen Brief. Alice sah auf den Poststempel. Gestern in Foix. Die Adresse in Blockschrift. Sie wollte ihn gerade öffnen, als sie von der Frau angesprochen wurde, die auf sie gewartet hatte.

»Dr. Tanner?«, fragte sie. Sie wirkte nervös.

Alice schob den Brief in die Jackentasche. Sie würde ihn später lesen. »Ja?«

»Ich habe eine Nachricht von Audric Baillard für Sie. Er bittet Sie, sich auf dem Friedhof mit ihm zu treffen.«

Die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor, doch Alice wusste nicht, woher.

»Kennen wir uns?«, fragte sie.

Die Frau zögerte. »Von Daniel Delagarde«, stieß sie hastig hervor. »Notaires.«

Alice betrachtete sie genauer. Sie konnte sich nicht erinnern, sie gestern gesehen zu haben, aber die Kanzlei hatte viele Mitarbeiter.

»Monsieur Baillard erwartet Sie an der Grabstätte Giraud-Biau.«

»Aha?«, fragte Alice. »Warum ist er denn nicht selbst gekommen?«

»Ich muss jetzt gehen.«

Und schon lief die Frau davon und ließ Alice, die verblüfft hinter ihr herblickte, einfach stehen. Sie drehte sich zu der jungen Frau am Empfang um, die mit den Schultern zuckte.

Alice sah auf die Uhr. Eigentlich wollte sie möglichst früh los. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. Andererseits, zehn Minuten machten auch keinen großen Unterschied.

»A demain«, sagte sie zu der Empfangsdame, doch die hatte sich bereits wieder ihren sonstigen Tätigkeiten zugewandt.

Alice ging zu ihrem Auto, um den Rucksack loszuwerden, und eilte dann ein wenig gereizt über die Straße zum Friedhof.

 

Die Atmosphäre änderte sich schlagartig, als Alice durch das hohe Metalltor trat. Die frühmorgendliche Geschäftigkeit der erwachenden Cité wurde von Stille verdrängt.

Rechts von ihr war ein niedriges, weiß getünchtes Gebäude. An der Außenseite hing eine Reihe von schwarzgrünen Gießkannen an Haken. Alice spähte durchs Fenster und sah eine alte Jacke über eine Stuhllehne geworfen und eine aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch, als wäre jemand gerade erst aufgestanden.

Alice ging langsam den mittleren Weg zwischen den Gräbern hindurch und wurde plötzlich kribbelig. Sie fand die Atmosphäre bedrückend. Graue Grabsteine, mit Skulpturen oder Reliefs, weiße Porzellankameen und schwarze Granitinschriften mit den Geburts- und Todesdaten, Ruhestätten, von einheimischen Familien à perpétuité gekauft, um ihrer Geschichte Dauer zu verleihen. Fotos von jungen Verstorbenen neben den Bildern der alten. Auf vielen Gräbern lagen Blumen, manche echt und welk, andere aus Seide, Plastik oder Porzellan.

Alice folgte der Wegbeschreibung, die Karen Fleury ihr gegeben hatte, und fand die Grabstätte Giraud-Biau ohne Schwierigkeiten. Es war ein großes, flaches Grab fast am Ende des Mittelweges und wurde von einem steinernen Engel mit ausgebreiteten Armen und angelegten Schwingen bewacht.

Sie sah sich um. Keine Spur von Baillard.

Alice fuhr mit dem Finger über die Grabplatte. Hier lag der größte Teil der Familie von Jeanne Giraud, einer Frau, von der sie lediglich wusste, dass sie eine Verbindung zwischen Audric Baillard und Grace darstellte. Erst jetzt, als sie auf die eingemeißelten Namen dieser Familie blickte, wurde Alice klar, wie überaus ungewöhnlich es doch war, dass ihre Tante hier die letzte Ruhe gefunden hatte.

Ein Geräusch auf dem Querweg ließ sie aufhorchen. Sie sah sich um und erwartete, den älteren Herrn von dem Foto auf sich zukommen zu sehen.

»Dr. Tanner?«

Es waren zwei Männer, beide in leichten Sommeranzügen, beide dunkelhaarig und die Augen hinter Sonnenbrillen versteckt.

»Ja?«

Der Kleinere von beiden zeigte ihr kurz eine Dienstmarke. »Polizei. Wie müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Alice' Magen zog sich zusammen. »In welcher Angelegenheit?«

»Es wird nicht lange dauern, Madame.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Ausweis mit Foto heraus.

Alice konnte nicht beurteilen, ob der Ausweis echt oder gefälscht war. Doch die Pistole im Halfter unter der Jacke sah verdammt echt aus. Ihr Puls begann zu rasen.

Alice tat so, als studierte sie den Ausweis genau, sah sich aber dabei unauffällig auf dem Friedhof um. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Wege erstreckten sich menschenleer in alle Richtungen.

»Worum geht es denn?«, fragte sie mit bemüht ruhiger Stimme. »Wenn Sie bitte mitkommen würden.«

Am helllichten Tage können sie dir nichts tun.

Zu spät wurde Alice klar, wieso ihr die Frau, die ihr die Nachricht ausgerichtet hatte, bekannt vorgekommen war. Sie sah dem Mann ähnlich, den sie gestern Abend kurz in ihrem Zimmer gesehen hatte. Diesem Mann.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Alice eine Betontreppe, die zu einem frisch angelegten Teil des Friedhofs hinunterführte. Und dahinter war ein Tor.

Der Mann fasste ihren Arm. »Maintenant, Dr. Tan...«

Alice warf sich nach vorn, stürmte los wie eine Sprinterin aus dem Startblock und überrumpelte die Männer. Sie reagierten mit Verzögerung. Ein lauter Ruf erscholl, doch sie war schon die Treppe hinunter und rannte durch das Tor hinaus auf den Chemin des Anglais.

Ein Auto, das den Berg heraufgekeucht kam, machte eine Vollbremsung. Alice blieb nicht stehen. Sie schwang sich über ein wackeliges Gartentor und hastete weiter zwischen Reihen von Weinstöcken hindurch, stolperte über die furchige Erde. Sie spürte die Männer in ihrem Rücken, die allmählich aufholten. Das Blut dröhnte ihr in den Ohren, die Muskeln in ihren Beinen waren angespannt wie Klaviersaiten, aber sie lief weiter.

Am Ende des Weinfeldes war ein engmaschiger Zaun, zu hoch, um einfach drüberzuspringen. Alice sah sich hektisch um, entdeckte ein Stück weiter ein Loch. Sie rannte hin, warf sich auf die Erde und kroch unter dem Zaun durch. Spitze Steine und Kiesel gruben sich ihr in Ellbogen und Knie. Als sie halb unter dem Zaun durch war, verfing sich ihre Jacke an den losen Drahtenden und hielt sie so fest wie ein Fliege im Spinnennetz. Alice zog und zerrte und konnte sich schließlich mit einem Ruck losreißen, wobei ein Fetzen blauer Baumwollstoff am Draht hängen blieb.

Jetzt war sie in einer Art Schrebergarten gelandet. Lange Reihen mit hohen Bambusgestellen, an denen Auberginen, Zucchini und Stangenbohnen reiften, boten ihr Deckung. Geduckt lief Alice im Zickzack zwischen den Beeten hindurch, wollte zu den schützenden Gartenhäuschen. Als sie um die Ecke bog, warf sich ihr ein riesiger Mastiff an einer schweren Eisenkette entgegen, bellte wütend und schnappte mit seinen gefährlichen Fängen nach ihr. Sie unterdrückte einen Aufschrei und sprang zurück.

Durch den Haupteingang zu den Gärten kam sie geradewegs auf die viel befahrene Hauptstraße am Fuße des Berges. Sobald sie auf dem Bürgersteig war, erlaubte sie sich einen Blick zurück. Hinter ihr war alles leer und ruhig. Sie hatten die Verfolgung aufgegeben.

Alice beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Sie keuchte vor Erschöpfung und Erleichterung und wartete ab, bis das Zittern in Armen und Beinen aufhörte. Ihr Verstand lief bereits wieder auf Hochtouren.

Was machst du jetzt? Die Männer würden zum Hotel gehen und dort auf sie warten. Dorthin konnte sie also nicht mehr zurück. Sie tastete in ihrer Hosentasche und merkte erleichtert, dass sie die Wagenschlüssel nicht bei der panischen Flucht verloren hatte. Ihr Rucksack lag unter dem Vordersitz im Auto.

Du musst Noubel anrufen.

Sie sah den Zettel mit Noubels Telefonnummer vor ihrem geistigen Auge — in ihrem Rucksack unter dem Autositz, zusammen mit allem anderen. Alice klopfte sich den Schmutz von der Kleidung. Ihre Jeans war verdreckt und an einem Knie eingerissen. Ihre einzige Chance war die, zurück zum Auto zu gehen und zu hoffen, dass die Männer ihr dort nicht auflauerten.

Alice eilte die Rue Barbacane entlang und senkte jedes Mal den Kopf, wenn ein Auto vorbeifuhr. An der Kirche nahm sie eine Abkürzung nach rechts durch eine kleine Straße, die Rue de La Gaffe hieß.

Wer hatte die Männer geschickt?

Sie ging sehr schnell und hielt sich möglichst im Schatten. Es war schwer zu sagen, wo ein Haus endete und das nächste begann. Plötzlich spürte Alice ein Prickeln im Nacken. Sie blieb stehen, blickte nach rechts auf ein hübsches Haus mit gelben Mauern und rechnete fest damit, dort jemand in der Tür stehen zu sehen, der sie beobachtete. Aber die Tür war zu und die Fensterläden geschlossen. Nach kurzem Zögern ging Alice weiter.

Ist die Fahrt nach Chartres wirklich eine gute Idee?

Aber die Bestätigung, dass sie in Gefahr war - dass sie sich das Ganze nicht bloß einbildete -, bestärkte sie nur in ihrem Entschluss. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Authié hinter allem steckte. Er glaubte, dass sie den Ring gestohlen hatte. Und er war offensichtlich fest entschlossen, ihn zurückzubekommen.

Ruf Noubel an.

Wieder schlug sie ihren eigenen Rat in den Wind. Bislang hatte der Inspektor nichts unternommen. Ein Polizist war tot, Shelagh vermisst. Da verließ sie sich doch lieber auf sich selbst.

Alice hatte die Stufen erreicht, die von der Rue Trivalle zum hinteren Rand des Parkplatzes hinaufführten. Falls ihre Verfolger ihr hier auflauerten, dann wahrscheinlich eher an der Einfahrt.

Die Stufen waren steil, und eine hohe Mauer versperrte ihr die Sicht. Von oben jedoch war die Treppe gut einzusehen. Falls sie da waren, würde Alice es erst merken, wenn es zu spät war. Lässt sich nur auf eine Weise feststellen.

Alice holte tief Luft und rannte die Stufen hoch, das Adrenalin in ihren Adern trieb die Beine zur Höchstleistung an. Oben angekommen, blieb sie stehen und sah sich um. Ein paar Busse und Pkws standen herum, aber nur wenige Menschen waren zu sehen. Der Wagen stand noch da, wo sie ihn abgestellt hatte. Geduckt lief sie zwischen den Parkreihen hindurch. Ihr zitterten die Hände, als sie sich auf den Fahrersitz schob. Noch immer rechnete sie damit, dass die Männer jeden Moment vor ihr auftauchen würden. Noch hallten ihr ihre Stimmen, ihre Rufe in den Ohren. Kaum saß sie im Wagen, verriegelte sie die Türen und rammte den Schlüssel ins Zündschloss.

Ihre Augen huschten in alle Richtungen, und sie hatte die Hände so fest ums Lenkrad gelegt, dass die Handknöchel weiß wurden; trotzdem wartete sie ab, bis ein Campingwagen vom Parkplatz rollte und der Wärter die Sperrschranke hob. Sofort gab sie Gas und brauste viel zu schnell über den Asphalt auf die Ausfahrt zu. Der Wärter schrie irgendwas und sprang zur Seite, doch Alice achtete nicht auf ihn.

Sie fuhr einfach weiter.


Das Verlorene Labyrinth
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