Kapitel 82
Pic de Soularac

 

Freitag, 8. Juli 2005

 

Die dünne Robe schützte kaum gegen die kühle Feuchtigkeit der Kammer. Alice fröstelte, als sie langsam den Kopf drehte.

Rechts von ihr war der Altar. Das einzige Licht kam von einer altertümlichen Öllampe, die mitten auf dem Altar stand und fließende Schatten auf die schrägen Wände warf. Es war hell genug, um das Labyrinth auf der Felswand dahinter zu sehen, groß und imposant in dem engen Raum.

Sie spürte, dass noch andere Menschen in der Nähe waren. Alice schaute zu Boden und hätte fast aufgeschrien, als sie Shelagh entdeckte. Sie lag zusammengerollt auf den Steinen wie ein Tier, dünn, leblos, zerstört, überall auf ihrer Haut die Spuren der Misshandlungen. Alice konnte nicht sehen, ob sie noch atmete.

Lieber Gott, bitte, lass sie am Leben sein.

Allmählich gewöhnte sich Alice an das flackernde Licht. Sie wandte leicht den Kopf und sah Audric an derselben Stelle wie zuvor. Er war noch immer an den Ring im Boden gebunden. Sein weißes Haar umgab seinen Kopf wie ein Heiligenschein. Er stand so reglos wie eine in Stein gehauene Statue auf einem Grab.

Als hätte er gespürt, dass sie ihn ansah, erwiderte er ihren Blick und lächelte.

Für einen Moment vergaß sie, dass er doch böse auf sie sein musste, weil sie einfach hereingestürmt war, obwohl sie versprochen hatte, draußen zu warten, und lächelte ihm schwach zu.

Genau wie Shelagh gesagt hat.

Dann merkte sie, dass irgendwas an ihm anders war. Sie blickte auf Audrics Hände, die er gespreizt vor dem Weiß der Robe gekreuzt hielt.

Der Ring fehlt.

»Shelagh ist hier«, flüsterte sie tonlos. »Sie hatten Recht.«

Er nickte.

»Wir müssen irgendetwas tun«, zischelte sie.

Er schüttelte kaum merklich den Kopf und deutete mit den Augen zur anderen Seite der Kammer.

Sie folgte seinem Blick.

»Will!«, flüsterte sie fassungslos. Erleichterung durchströmte sie, und noch etwas anderes, gefolgt von Mitleid angesichts seines Zustandes. Seine Haare waren blutverklebt, ein Auge war zugeschwollen, und im Gesicht und an den Händen hatte er Schürfwunden.

Aber er ist hier. Bei mir.

Beim Klang ihrer Stimme schlug Will die Augen auf. Er spähte in die Dunkelheit. Dann, als er sie sah und erkannte, verzog ein schwaches Lächeln seine aufgeplatzten Lippen.

Einen Moment lang blickten sie einander tief in die Augen. Mein Geliebter.

Diese Erkenntnis gab ihr Mut.

Das traurige Heulen des Windes im Tunnel wurde stärker und vermischte sich mit dem leisen Murmeln einer Stimme. Ein monotoner Sprechgesang. Alice konnte nicht bestimmen, wo er herkam. Fragmente seltsam vertrauter Worte und Sätze hallten durch die Höhle, bis die Luft ganz von Klang durchdrungen war: montanhas, Berge; Noblesa, Adel; libres, Bücher; graal, Gral. Alice fühlte sich plötzlich leicht benommen, berauscht von den Worten, die in ihrem Kopf hallten, wie die Glocken einer Kathedrale.

Als sie schon glaubte, es nicht mehr länger auszuhalten, hörte der Gesang auf. Die Melodie wurde rasch leiser, verklang und hinterließ bloß noch eine Erinnerung.

In die angespannte Stille hinein ertönte eine einzelne Stimme. Eine Frauenstimme, klar und deutlich.

 

Am Anbeginn der Zeit Im Lande Ägypten Schenkte der Herr der Geheimnisse Wörter und Schriften.

 

Alice riss den Blick von Wills Gesicht los und schaute dahin, wo die Stimme herkam. Marie-Cecile trat wie eine Erscheinung aus der Dunkelheit hinter dem Altar. Wie sie dastand, vor dem Labyrinth, glitzerten ihre grünen Augen, die mit Schwarz und Gold umrandet waren, wie Smaragde im flackernden Licht. Ihr Haar wurde von einem goldenen Reif mit einem Diamanten auf der Stirn zurückgehalten und schimmerte pechschwarz. Bis auf die passenden Amulette aus gebogenem Metall waren ihre eleganten Arme nackt.

Sie hielt die drei Bücher übereinander gestapelt in den Händen. Sie legte sie in einer Reihe auf dem Altar aus, wo schon eine schlichte Tonschale stand. Als sie die Hand hob, um die Öllampe zurechtzurücken, bemerkte Alice fast unterbewusst, dass Marie- Cecile Audrics Ring am linken Daumen trug.

An ihrer Hand sieht er falsch aus.

Alice hatte das Gefühl, tief in eine Vergangenheit eingetaucht zu sein, an die sie sich nicht erinnerte. Das Pergament müsste sich trocken und spröde anfühlen, wie tote Blätter an einem Baum im Herbst. Und sie spürte förmlich die Lederbänder zwischen den eigenen Fingern, weich und biegsam, obwohl sie doch nach so vielen Jahren, in denen sie nicht berührt worden waren, ganz steif sein müssten. Es war, als hätte sich die Erinnerung in ihren Körper, in Haut und Knochen eingeschrieben. Sie erinnerte sich, wie die Einbände schimmerten und je nach Lichteinfall die Farbe wechselten.

Sie konnte das Bild eines kleinen goldenen Kelches sehen, nicht größer als eine Zehn-Cent-Münze, das wie ein Solitär auf dem dicken, cremefarbenen Pergament leuchtete. Auf den folgenden Seiten waren Zeilen in Zierschrift. Sie hörte Marie-Cecile in das Halbdunkel sprechen und sah zugleich vor ihrem geistigen Auge die roten und blauen und gelben und goldenen Lettern. Das Buch der Arzneien.

Bilder von zweidimensionalen Figuren, Tiere und Vögel, fluteten in ihren Kopf. Sie stellte sich ein Pergamentblatt vor, dicker als die anderen Seiten, aber anders - durchscheinend, gelb. Es war Papyrus, die Maserung der Stängel noch sichtbar. Das Blatt war mit den gleichen Symbolen bedeckt wie zu Anfang des Buches, nur diesmal durchsetzt mit winzigen Zeichnungen von Pflanzen, Zahlen und Maßeinheiten.

Jetzt dachte sie an das zweite Buch, das Buch der Zahlen. Auf der ersten Seite war kein Kelch abgebildet, sondern das Labyrinth selbst. Unwillkürlich schaute Alice sich erneut in der Kammer um, und diesmal betrachtete sie den Raum mit anderen Augen, vergewisserte sich unbewusst seiner Form und Proportionen.

Sie sah wieder zum Altar hinüber. Ihre Erinnerung an das dritte Buch war die stärkste. Auf der ersten Seite war das goldschimmernde Anch, das ägyptische Symbol des Lebens, das mittlerweile in der ganzen Welt bekannt war. Zwischen den mit Leder bezogenen Holzdeckeln des Buchs der Wörter waren leere Seiten wie eine weiße Schutzwache um den Papyrus herum, der in der Mitte des Buches verborgen war. Die Hieroglyphen waren kompliziert und sperrig. Dicht gemalte Symbole bedeckten das gesamte Blatt, Reihe für Reihe. Es gab keine Farbtupfen, kein Erkennungszeichen, wo ein Wort endete und das nächste begann.

Dazwischen verborgen war die Beschwörungsformel.

Alice öffnete die Augen und spürte, dass Audric sie ansah.

In dem Blick, den sie wechselten, lag stummes Verstehen. Die Worte kehrten zu ihr zurück, schlüpften lautlos aus den staubigen Winkeln ihrer Erinnerung. Sie wurde kurz aus sich herausgehoben, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und blickte von oben auf die Szene herab.

Vor achthundert Jahren hatte Alaïs diese Worte gesprochen. Und Audric hatte sie vernommen.

Die Wahrheit wird uns frei machen.

Nichts hatte sich verändert, und dennoch fürchtete sie sich plötzlich nicht mehr.

Ein Geräusch am Altar erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Stille war vorüber, und die Welt der Gegenwart stürmte erneut auf sie ein. Und mit ihr die Angst.

Marie-Cecile hob die kleine Tonschale hoch, die zwischen ihre flachen Hände passte. Dann nahm sie ein kleines Messer mit einer stumpfen abgenutzten Klinge und reckte ihre langen weißen Arme über den Kopf.

»Dintrar«, rief sie. Tritt ein.

Francois-Baptiste trat aus der Dunkelheit des Tunnels. Seine Augen glitten wie ein Suchscheinwerfer durch die Kammer, streiften über Audric, dann Alice und verweilten schließlich auf Will. Alice sah den Triumph auf dem Gesicht des jungen Mannes und wusste, dass er Will die Verletzungen beigefügt hatte. Ich werde nicht zulassen, dass du ihm etwas antust.

Dann wanderte sein Blick weiter. Er stockte kurz, als er die drei Bücher in einer Reihe auf dem Altar liegen sah, ob überrascht oder erleichtert, konnte Alice nicht sagen, und schließlich schaute er in das Gesicht seiner Mutter.

Selbst auf diese Entfernung spürte Alice die Spannung zwischen den beiden.

Ein Lächeln huschte über Marie-Ceciles Gesicht, als sie mit der Schale und dem Messer in den Händen vom Altar wegtrat. Ihre Robe schimmerte wie gesponnener Mondschein im tanzenden

Licht der Öllampe, als sie durch die Kammer schritt. Alice roch den zarten Parfümhauch in der Luft, der unter dem kräftigen Aroma des brennenden Öls schwebte.

Francois-Baptiste setzte sich in Bewegung. Er kam die Stufen herab und trat hinter Will.

Marie-Cecile blieb vor ihm stehen und flüsterte Will so leise etwas zu, dass Alice es nicht verstand. Francois-Baptiste lächelte zwar weiter, aber sie sah die Wut in seinem Gesicht, als er sich vorbeugte, Wills gefesselte Hände nahm und sie so hielt, dass Marie-Cecile den nackten Unterarm vor sich hatte.

Alice zuckte zusammen, als Marie-Cecile zwischen Wills Handgelenk und Ellbogen einen Schnitt machte. Will verzog das Gesicht, und sie sah den Schreck in seinen Augen, aber er gab keinen Laut von sich.

Marie-Cecile hielt die Schale so, dass sie fünf Tropfen Blut auffing.

Sie wiederholte die Prozedur mit Audric und blieb dann vor Alice stehen. Die Aufregung stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie die Messerspitze über die weiße Unterseite von Alice' Arm zog, entlang der alten Wunde. Dann legte sie die Klinge mit der Nüchternheit eines Chirurgen an und drückte die Spitze langsam nach unten, bis die Narbe wieder aufplatzte.

Der Schmerz überraschte Alice, es war eher ein Ziehen als ein Stechen. Zuerst hatte Alice ein warmes Gefühl, dann spürte sie rasch Kälte und Taubheit. Gebannt starrte sie auf das Blut, das Tropfen für Tropfen in die seltsam blasse Mischung in der Schale fiel.

Dann war es vorüber. Francois-Baptiste folgte seiner Mutter zum Altar, wo sie mit ihm ebenso verfuhr wie mit den anderen. Danach trat Marie-Cecile zwischen Altar und Labyrinth.

Sie stellte die Schale in der Mitte ab und zog sich das Messer über die eigene Haut, sah zu, wie das Blut am Arm herunterrann. Das Vermischen des Blutes.

Eine jähe Erkenntnis durchzuckte Alice. Der Gral gehörte allen Religionen und keiner. Christen, Juden, Muslime. Fünf Hüter, die aufgrund ihres Charakters, ihrer Taten ausgewählt wurden, nicht wegen ihrer Abstammung. Alle waren gleich.

Alice sah, wie Marie-Cécile aus jedem der Bücher einzelne Blätter nahm, die zwischen den Seiten lagen. Das dritte davon hielt sie hoch. Es war ein Papyrusblatt. Im Licht war die Maserung deutlich zu erkennen. Auch das Symbol darauf.

Das Anch, das Symbol des Lebens.

Marie-Cécile hob die Schale an die Lippen und trank das Blut. Dann stellte sie die Schale mit beiden Händen wieder ab und sah durch die Kammer zu Audric hinüber, fixierte ihn mit bohrendem Blick. Es kam Alice so vor, als forderte sie ihn heraus, ihr Einhalt zu gebieten.

Dann zog sie den Ring vom Daumen und drehte sich so schnell zu dem Steinlabyrinth um, dass ein Luftzug durch die stille Kammer glitt. Das Licht der Lampe auf dem Altar flackerte und ließ Schatten die Wände hinaufhuschen. Plötzlich bemerkte Alice in dem Stein zwei eingemeißelte Formen, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren.

Im Innern des Labyrinths waren das Anch und die Umrisse des Kelches deutlich zu erkennen.

Alice hörte ein Klicken, als rastete ein Schlüssel in ein Schloss ein. Einen Moment lang tat sich nichts. Dann drang aus der Tiefe der Wand ein Geräusch, als bewegte sich Stein gegen Stein. Marie-Cécile trat zurück. Alice sah, dass sich eine kleine Öffnung, nicht größer als die Bücher, in der Mitte des Labyrinths aufgetan hatte. Eine Art Nische.

Worte und Sätze kamen ihr in den Sinn, Audrics Erklärung und die Ergebnisse ihrer eigenen Nachforschungen, alles zusammen. In der Mitte des Labyrinths ist Erleuchtung, in der Mitte liegt Erkenntnis. Alice dachte an die christlichen Pilger, die in der Kathedrale von Chartres den Chemin de Jérusalem beschreiten, in der immer enger werdenden Spirale des Labyrinths nach Erleuchtung suchen.

Hier, im Gralslabyrinth, lag das Licht - wortwörtlich - im Mittelpunkt der Dinge.

Alice sah, wie Marie-Cecile die Lampe vom Altar nahm und in die Nische stellte. Sie schien wie dafür gemacht. Sofort strahlte sie auf, und die Kammer wurde von Licht durchflutet. Marie-Cecile nahm einen Papyrus aus einem der Bücher auf dem Altar und schob ihn in einen Schlitz vor der Nische. Es schluckte ein wenig von dem Licht der Lampe, und die Höhle verdunkelte sich leicht.

Sie fuhr herum und starrte Audric an. Als sie sprach, war der Bann des Augenblicks gebrochen.

»Sie haben gesagt, ich würde es sehen«, schrie sie.

Er richtete seine bernsteinfarbenen Augen auf sie. Alice beschwor ihn innerlich, einfach zu schweigen, aber sie wusste, dass er das nicht tun würde. Aus Gründen, die sie nicht verstand, wollte Audric, dass die Zeremonie ihren Lauf nahm.

»Der richtige Wortlaut der Beschwörung wird erst offenbar, wenn die drei Papyri übereinander gelegt werden. Dann, und nur dann sind im Spiel von Licht und Schatten die Worte sichtbar, die gesprochen werden müssen, im Gegensatz zu denen, die stumm bleiben sollen.«

Alice fröstelte. Sie spürte, dass die Kälte in ihr war, als würde ihr alle Körperwärme entströmen, aber sie konnte sich nicht beherrschen. Marie-Cecile drehte die drei Papyri hin und her. »Wie rum?«

»Binden Sie mich los«, sagte Audric mit seiner ruhigen, leisen Stimme. »Binden Sie mich los und stellen Sie sich in die Mitte der Kammer. Ich werde es Ihnen zeigen.«

Sie zögerte, dann nickte sie Francois-Baptiste zu.

»Maman, je ne pense ...«

»Tu, was ich dir sage!«, fauchte sie.

Wortlos durchtrennte Francois-Baptiste den Strick, mit dem Audric am Boden festgebunden war, dann trat er zurück. Marie-Cecile griff hinter sich und nahm das Messer.

»Keine Tricks«, sagte Marie-Cecile und zeigte auf Alice, während Audric langsam durch die Kammer ging. »Sonst töte ich sie. Verstanden?« Sie deutete schroff auf Francois-Baptiste, der neben Will stand. »Oder ihn.«

»Ich verstehe.«

Er warf einen kurzen Blick auf Shelagh, die reglos am Boden lag, dann flüsterte er Alice mit plötzlich zweifelndem Unterton zu: »Ich habe doch Recht, oder? Der Gral wird nicht zu ihr kommen?«

Obwohl Audric sie ansah, kam es Alice so vor, als hätte er die Frage an jemand anderen gerichtet. An jemanden, mit dem gemeinsam er diese Erfahrung schon einmal gemacht hatte.

Und ohne es sich erklären zu können, spürte Alice, dass sie die Antwort wusste. Sie war sich sicher. Sie lächelte und gab ihm die Gewissheit, die er brauchte.

»Er wird nicht kommen«, hauchte sie.

»Worauf warten Sie noch?«, rief Marie-Cecile.

Audric trat vor.

»Man muss alle drei Papyri zusammen nehmen«, sagte er, »und sie dann vor die Flamme schieben.«

»Nun machen Sie schon.«

Alice sah, wie er die drei durchscheinenden Seiten in einer bestimmten Reihenfolge anordnete und sie dann behutsam in den Schlitz schob. Zuerst begann die Flamme in der Nische zu spucken und schien fast zu erlöschen. Die Höhle wurde sehr dunkel.

Doch dann, als ihre Augen sich an die tiefere Dunkelheit gewöhnten, bemerkte Alice, dass jetzt nur noch eine Hand voll Hieroglyphen zu sehen war, die in einem Helldunkelmuster leuchteten, das den Linien des Labyrinths folgte. Alles Überflüssige war abgedeckt. »Dai Anch dschet...« In ihrem Kopf waren die Worte ganz klar. »Dai Anch dschet«, sagte sie laut, dann den Rest des Satzes, und übersetzte dabei im Stillen die uralten Worte, die sie aussprach.

»Am Anbeginn der Zeit, im Lande Ägypten, schenkte der Herr der Geheimnisse Wörter und Schriften. Schenkte Leben.« Marie-Cecile drehte sich zu Alice um.

»Du hast die Worte gelesen«, sagte sie, kam mit ausladenden Schritten auf sie zu und packte ihren Arm. »Woher weißt du, was sie bedeuten?«

»Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.«

Alice wollte sich losreißen, doch Marie-Cecile zog sie auf die Messerspitze zu, die jetzt so nah war, dass Alice die braunen Flecke auf der alten Klinge sehen konnte. Ihre Augen schlossen sich, und sie wiederholte den Satz.

»Dai Anch dschet...«

 

Plötzlich ging alles ganz schnell.

Audric warf sich auf Marie-Cecile.

»Maman!«

Francois-Baptiste achtete einen Moment nicht auf Will, der die Gelegenheit nutzte. Er holte mit einem Bein aus und trat seinen Bewacher so fest ins Kreuz, dass er nach vorn stürzte. Vor Schreck feuerte Francois-Baptiste einen Schuss mit seiner Pistole ab, der ohrenbetäubend in dem engen Raum hallte. Alice hörte, wie die Kugel gegen die Felsendecke prallte und als Querschläger durch die Höhle zischte.

Marie-Cecile riss die Hand an die Schläfe. Alice sah Blut zwischen ihren Fingern hervorquellen. Sie schwankte einen Moment, dann brach sie zusammen.

»Maman!« Francois-Baptiste war wieder aufgesprungen und lief zu seiner Mutter. Die Pistole schlitterte über den Boden von ihm weg bis vor den Altar.

Audric nahm sich Marie-Ceciles Messer und schnitt Will mit erstaunlicher Kraft die Fesseln durch, dann drückte er ihm das Messer in die Hand.

»Schneiden Sie Alice los.«

Will hörte nicht auf ihn, sondern stürmte zu Francois-Baptiste hinüber, der auf den Knien lag und Marie-Cécile in den Armen wiegte.

»Non, maman. Ne t'en vas pas. Ecoute-moi, maman, réveille- toi.«

Will packte den jungen Mann an den Schultern, riss ihn um und rammte seinen Kopf auf den rauen Steinboden. Dann lief er zu Alice und schnitt den Strick durch, mit dem sie gefesselt war.

»Ist sie tot?«

»Keine Ahnung.«

»Was ist mit ... «

Er küsste sie unverhofft auf den Mund, dann zog er den Strick von ihren Händen.

»François-Baptiste ist vorerst außer Gefecht. Wir haben genügend Zeit, hier rauszukommen«, sagte er.

»Hol Shelagh, Will«, sagte sie und deutete hektisch mit der Hand. »Ich helfe Audric.«

Will hob Shelaghs ausgezehrten Körper hoch und trug sie Richtung Tunnel. Alice lief zu Audric.

»Die Bücher«, sagte sie drängend. »Wir müssen sie wegschaffen, ehe die beiden zu sich kommen.«

Er stand da und blickte auf die reglosen Körper von Marie-Cécile und ihrem Sohn.

»Audric, schnell«, beschwor Alice ihn. »Wir müssen hier raus.«

»Es war nicht richtig, dass ich Sie in diese Sache mit hineingezogen habe«, sagte er leise. »Mein Wunsch, endlich zu wissen, ein Versprechen zu erfüllen, das ich einst gab und nicht halten konnte, hat mich für andere Einsichten blind gemacht. Ich war selbstsüchtig. Habe zu sehr an mich gedacht.«

Audric legte die Hand auf eines der Bücher.

»Sie haben gefragt, warum sie es nicht vernichtet hat«, sagte er unvermittelt. »Die Antwort ist, weil ich sie beschworen habe, es nicht zu tun. Also mussten wir uns einen Plan ausdenken, um Oriane zu täuschen. Nur deshalb sind wir in die Kammer zurückgekehrt. Der Kreislauf von Sterben und Aufopferung ging weiter. Wenn das nicht gewesen wäre, vielleicht wäre dann ...«

Er ging zu Alice, die begonnen hatte, die Papyri von der Lampe zu nehmen. »Sie hätte das nicht gewollt. Es hat zu vielen Menschen das Leben gekostet.«

»Audric«, sagte sie heftig, »darüber können wir später reden. Jetzt müssen wir sie erst mal rausschaffen. Darauf haben Sie doch gewartet, Audric. Auf die Chance, die Trilogie wieder vereint zu sehen. Wir können sie nicht hier bei den beiden zurücklassen.«

»Ich weiß noch immer nicht«, sagte er, und seine Stimme wurde zu einem Flüstern, »was am Ende mit ihr geschehen ist.«

Das Öl in der Lampe war fast ausgebrannt, doch das dämmrige Licht wurde nach und nach heller, als Alice den ersten, dann den zweiten und schließlich den dritten Papyrus herauszog.

»Ich hab sie«, sagte sie und wirbelte herum. Sie raffte die Bücher auf dem Altar zusammen und hielt sie Audric hin.

»Sie nehmen die Bücher. Und jetzt raus hier.«

Sie zog Audric fast mit Gewalt hinter sich her, während sie sich im Halbdunkel ihren Weg durch die Kammer zum Tunnel suchten. Sie stolperten über die Senke im Boden, wo Alice die Skelette gefunden hatte. Plötzlich ertönte in der Dunkelheit hinter ihnen ein lautes Krachen, danach das Geräusch von rutschenden Felsen, und dann knallte es dumpf, zweimal rasch hintereinander.

 

Alice warf sich zu Boden. Das war kein Pistolenschuss, das wusste sie, sondern ein ganz anderer Klang. Ein Grollen aus den Tiefen der Erde.

Adrenalin schoss ihr durch die Adern. Verzweifelt kroch sie vorwärts, die Papyri zwischen den Zähnen, und betete, dass Audric hinter ihr war. Der Stoff der Robe verfing sich zwischen ihren Beinen und behinderte sie. Ihr Arm blutete stark, und sie konnte ihn nicht belasten, doch sie schaffte es trotzdem bis zur unteren Stufe.

Dann vernahm sie ein dumpfes Dröhnen, traute sich aber nicht, sich umzudrehen. Gerade hatten ihre Finger die Buchstaben oben auf der Treppe ertastet, als sie eine laute Stimme hörte. »Bleib, wo du bist. Oder ich knall ihn ab.«

Alice erstarrte.

Das kann sie nicht sein. Sie wurde erschossen. Ich habe sie fallen sehen.

»Umdrehen. Schön langsam.«

Langsam rappelte Alice sich auf. Marie-Cecile stand leicht schwankend vor dem Altar. Ihre Robe war blutbesudelt, und der Kopfschmuck war heruntergefallen, sodass ihre Haare wild und struppig das Gesicht umrahmten. In der Hand hielt sie Francois- Baptistes Pistole und zielte damit auf Audric.

»Kommen Sie schön langsam wieder zurück, Dr. Tanner.«

Alice merkte, dass der Boden sich bewegte. Sie spürte die Vibration des Bebens durch ihre Füße und Beine aufsteigen, ein leises Rumpeln tief unter der Erde, das von Sekunde zu Sekunde stärker und heftiger wurde.

Plötzlich schien auch Marie-Cecile es zu hören. Ratlosigkeit verdunkelte kurz ihr Gesicht. Ein weiterer Schlag erschütterte die Kammer. Diesmal gab es keinen Zweifel mehr, dass es eine Explosion war. Ein kalter Luftstoß fegte durch die Höhle. Hinter Marie-Cecile begann die Lampe zu wackeln, als das Steinlabyrinth Risse bekam und dann auseinander brach.

Alice lief zurück zu Audric. Der Boden löste sich unter ihr auf, zerbröckelte, als fester Stein und jahrhundertealte Erde sich voneinander trennten. Gesteinstrümmer regneten von allen Seiten herab, während Alice den Löchern auswich, die sich im Boden auftaten.

»Her mit den Büchern!«, schrie Marie-Cecile und richtete die Waffe auf Alice. »Dachten Sie wirklich, ich würde zulassen, dass sie sie mir wegnimmt?«

Ihre Worte gingen beinahe unter in dem Lärm von herabstürzenden Felsbrocken und Steinen.

Audric rappelte sich auf und sagte endlich etwas.

»Sie?«, sagte er. »Nein, nicht Alice.«

Marie-Cecile fuhr herum, weil Audric auf einen Punkt hinter ihr starrte.

Und sie schrie auf.

In der Dunkelheit konnte Alice etwas erkennen. Ein Leuchten, ein weißes Leuchten, fast wie ein Gesicht. Entsetzt riss Marie- Cecile die Waffe wieder herum und zielte auf Alice. Sie zögerte, dann drückte sie ab. Aber das Zögern genügte Audric, um sich vor Alice zu stellen.

 

Alles schien sich zu verlangsamen.

Alice schrie auf. Audric sank auf die Knie. Durch den Rückstoß geriet Marie-Cecile etwas aus dem Gleichgewicht und machte einen Schritt nach hinten. Plötzlich griffen ihre Finger in die leere Luft, wedelten, hangelten verzweifelt nach Halt, als sie rückwärts in den tiefen Spalt fiel, der sich hinter ihr im Boden aufgetan hatte.

Audric lag auf dem Boden, und Blut breitete sich von dem Einschussloch mitten in der Brust aus. Sein Gesicht war papierweiß, und Alice konnte die blauen Venen unter dem dünnen Furnier der Haut sehen.

»Wir müssen hier raus«, schrie sie. »Vielleicht gibt es noch mehr Explosionen. Es kann jeden Moment weitergehen.«

Er lächelte.

»Es ist vorbei, Alice«, sagte er leise. »A la perfin. Der Gral hat seine Geheimnisse behütet, so wie schon einmal. Er hat nicht zugelassen, dass sie bekommt, was sie will.«

Alice schüttelte den Kopf. »Nein, jemand hat in der Höhle Sprengladungen versteckt, Audric«, sagte sie. »Vielleicht geht noch eine hoch. Wir müssen raus.«

»Es wird keine Explosion mehr geben«, sagte er. Es lag keinerlei Zweifel in seiner Stimme. »Das war alles nur das Echo der Vergangenheit.«

Alice sah ihm an, dass das Sprechen ihm Schmerzen bereitete. Sie senkte den Kopf zu ihm. Ein leises Rasseln drang aus seiner Brust, und seine Atmung war flach und kraftlos. Sie versuchte die Blutung zu stoppen, musste aber einsehen, dass es hoffnungslos war.

»Ich wollte wissen, wie ihre letzten Augenblicke waren. Verstehen Sie das? Ich konnte sie nicht retten. Sie war drinnen eingeschlossen, und ich konnte nicht zu ihr.« Er keuchte vor Schmerzen auf. Schnappte nach Luft.

»Aber diesmal ...«

Endlich akzeptierte Alice das, was sie instinktiv vom ersten Augenblick an gewusst hatte, als sie nach Los Seres kam und ihn in der Tür des kleinen Steinhauses stehen sah, das sich an den Berg schmiegte.

Es ist seine Geschichte. Es sind seine Erinnerungen.

Sie dachte an den Stammbaum, der mit so viel Liebe und Sorgfalt zusammengestellt worden war.

»Sajhë«, sagte sie schließlich.

Einen Moment lang glomm Leben in seinen bernsteinfarbenen Augen. Ein Ausdruck tiefer Freude strömte über sein sterbendes Gesicht.

»Als ich aufwachte, lag Bertrande neben mir. Irgendwer hatte uns zum Schutz gegen die Kälte mit Mänteln zugedeckt ...«

»Guilhem«, sagte Alice und wusste, dass es stimmte.

»Ein schreckliches Donnern war zu hören. Ich sah den Gesteinssims über dem Eingang zusammenbrechen. Es gab eine kleine Lawine aus Steinen und Geröll, und ein großer Felsbrocken stürzte herab, verschloss den Zugang zur Höhle. Ich konnte nicht zu ihr«, sagte er mit zitternder Stimme. »Zu ihnen.« Er rang um Fassung.

»Dann hörte es auf. Plötzlich war alles still. Ich wusste nicht, was geschehen war«, sagte er gequält. »Ich hatte Alaïs mein Wort gegeben, dass ich das Buch der Wörter in Sicherheit bringen würde, falls ihr irgendwas zustieß, aber ich wusste ja nichts. Ich wusste nicht, ob Oriane das Buch hatte oder wo sie war.« Seine Stimme verklang zu einem Flüstern. »Nichts.«

»Die Skelette, die ich gefunden habe, waren dann also Guilhem und Alaïs«, sagte sie - eine Feststellung, keine Frage.

Sajhë nickte. »Orianes Leiche fanden wir ein Stück weiter unten am Hang. Sie hatte das Buch nicht bei sich. Erst da wusste ich Bescheid.«

»Sie sind gemeinsam gestorben, um das Buch zu retten. Alaïs wollte, dass Sie leben, Sajhë. Dass Sie leben und sich um Bertrande kümmern, um Ihre Tochter, denn das war sie praktisch.« Er lächelte. »Ich wusste, Sie würden es verstehen«, sagte er. Die Worte drangen wie ein Seufzer zwischen seinen Lippen hervor. »Ich habe zu lange ohne sie gelebt. Jeden Tag habe ich sie vermisst. Jeden Tag habe ich mir gewünscht, nicht zum Leben verdammt zu sein, während um mich herum alle, die ich liebe, alt werden und sterben. Alaïs, Bertrande ...«

Er brach ab. Sie empfand tiefes Mitleid mit ihm.

»Sie dürfen sich nicht länger schuldig fühlen, Sajhë. Jetzt, da Sie wissen, was geschehen ist, müssen Sie sich selbst verzeihen.« Alice spürte, wie er ihr entglitt.

Bring ihn zum Reden. Er darf nicht einschlafen.

»Damals gab es im Land des Pay d'Oc eine Prophezeiung«, sagte er. »Dass einer geboren werden würde, dessen Schicksal es sein sollte, von der Tragödie Zeugnis abzulegen, die dieses Land heimsuchte. Wie die anderen vor mir - wie Abraham, Methusalem, Harif - habe ich mir das nicht gewünscht. Aber ich habe es angenommen.«

Sajhë rang um Atem.

Alice zog ihn näher an sich, wiegte seinen Kopf in den Armen. »Wann?«, fragte sie. »Erzählen Sie es mir.«

»Alaïs hat den Gral gerufen. Hier. In dieser Kammer. Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt. Ich war nach Los Seres zurückgekommen, glaubte, dass mein Leben sich ändern würde. Ich glaubte, dass ich Alaïs für mich gewinnen, von ihr geliebt werden könnte.«

»Und sie hat Sie geliebt«, stieß Alice hervor.

»Von Harif hatte sie gelernt, die alte Sprache der Ägypter zu verstehen«, sprach er lächelnd weiter. »Anscheinend lebt noch ein Rest dieses Wissens in Ihnen weiter. Wir kamen hierher, und sie setzte die Fähigkeiten, die Harif sie gelehrt hatte, und ihr Wissen aus den Pergamenten ein. Der Gral wirkte durch sie.«

»Wie ...« Alice suchte nach Worten. »Was geschah dann?«

»Ich erinnere mich noch an das weiche Gefühl der Luft auf meiner Haut, das Flackern der Kerzen, die schönen Stimmen, die sich in der Dunkelheit emporschwangen. Die Worte schienen einfach aus ihrem Mund zu strömen, mussten kaum ausgesprochen werden. Alaïs stand vor dem Altar, Harif neben ihr.«

»Es müssen aber noch andere da gewesen sein.«

»Stimmt, aber ... auch wenn Ihnen das seltsam erscheinen mag, ich erinnere mich kaum daran. Ich hatte nur Augen für Alaïs. Ihr Gesicht, zutiefst konzentriert, die dünne Linie zwischen ihren Brauen, wenn sie die Stirn runzelte. Die Haare fielen ihr über den Rücken wie ein Wasserfall. Ich sah nichts außer ihr, nahm nichts wahr außer ihr. Sie hielt den Becher in den Händen und sprach die Worte. In einem einzigen Moment der Erleuchtung riss sie die Augen auf. Sie reichte mir den Becher, und ich trank.«

Seine Augenlider flatterten rasch, wie das Schlagen von Schmetterlingsflügeln.

»Wenn Ihr Leben so eine schwere Last war, warum haben Sie dann ohne sie weitergelebt?«

»Perqué?«, fragte er erstaunt. »Warum? Weil das Alaïs' Wunsch war. Ich musste doch leben, um erzählen zu können, was den Menschen dieses Landes widerfahren ist, hier in den Bergen und Ebenen. Musste dafür sorgen, dass ihre Geschichte nicht vergessen wurde. Das ist der Sinn des Grals. Denjenigen zu helfen, die Zeugnis ablegen müssen. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, den Lügnern, den Stärksten, den Entschlossensten. Wahrheit findet sich am häufigsten in der Stille, an den leisen Orten.«

Alice nickte. »Sie haben es getan, Sajhë. Sie haben etwas bewirkt.«

»Guilhem de Tudela schrieb eine falsche Chronik des Kreuzzuges gegen uns, im Sinne der Franzosen. Er nannte sein Werk La Chanson de la Croisade. Als er starb, wurde es von einem anonymen Dichter vollendet, einem, dessen Sympathien eher auf Seiten des Pays d'Oc lagen. La Canso. Unsere Geschichte.« Trotz allem musste Alice lächeln.

»Los mots vivents«, flüsterte er. Lebendige Worte. »Es war der Anfang. Ich habe Alaïs geschworen, dass ich die Wahrheit sagen, die Wahrheit schreiben würde, damit zukünftige Generationen von dem Grauen erfahren, das einst in diesem Land in ihrem Namen geschah. Damit die Menschen in Erinnerung blieben.« Alice nickte.

»Harif verstand das. Er war diesen einsamen Weg schon vor mir gegangen. Er hatte die Welt bereist und gesehen, wie Worte verdreht und gebrochen und in Lügen verwandelt wurden. Auch er lebte, um Zeugnis abzulegen.« Sajhë holte zitternd Atem. »Er überlebte Alaïs nur um kurze Zeit. Er war über achthundert Jahre alt, als er starb. Hier, in Los Seres, mit Bertrande und mir an seiner Seite.«

»Aber wo haben Sie all die Jahre gelebt? Wie haben Sie gelebt?«

»Ich habe gesehen, wie das Grün des Frühlings dem Gold des Sommers wich, wie das Kupfer des Herbstes dem Weiß des Winters wich, während ich dasaß und auf das Verblassen des Lichtes wartete. Immer und immer wieder habe ich mich gefragt, warum. Wenn ich gewusst hätte, wie es sein würde, völlig allein zu sein, der einzige Zeuge für den endlosen Kreislauf von Geburt und Leben und Tod, was hätte ich getan? Ich habe dieses lange Leben mit Leere im Herzen erduldet, einer Leere, die mit den Jahren wuchs und wuchs, bis sie größer wurde als mein Herz selbst.«

»Sie hat Sie geliebt, Sajhë«, sagte Alice leise. »Nicht in der Weise, wie Sie sie geliebt haben, aber ebenso treu und innig.«

Ein Ausdruck des Friedens war auf sein Gesicht getreten. »Es vertat. Das weiß ich jetzt.«

»Wenn ...«

Ein Hustenanfall erfasste ihn, und blutiger Schaum quoll ihm aus dem Mundwinkel. Alice tupfte ihn mit dem Saum ihrer Robe ab.

Er versuchte sich aufzusetzen. »Ich habe alles für Sie aufgeschrieben, Alice. Mein letztes Testament. Es wartet in Los Seres auf Sie. In Alaïs' Haus, in dem wir gelebt haben und das ich jetzt Ihnen vermache.«

In der Ferne meinte Alice Sirenengeheul zu hören, das die stille Bergluft durchdrang.

»Sie sind fast da«, sagte sie, kämpfte gegen ihre Trauer an. »Ich habe doch gesagt, dass sie kommen. Bleiben Sie bei mir. Bitte geben Sie nicht auf.«

Sajhë schüttelte den Kopf. »Es ist vorbei. Meine Reise geht zu Ende. Ihre fängt gerade erst an.«

Alice strich ihm die weißen Haare aus der Stirn.

»Ich bin nicht sie«, sagte sie leise. »Ich bin nicht Alaïs

Er stieß einen langen, ruhigen Seufzer aus. »Ich weiß. Aber sie lebt in Ihnen weiter ... und Sie in ihr.« Er stockte. Alice sah ihm an, wie viel Schmerzen ihm das Reden bereitete. »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt, Alice. Aber dass ich Sie kennen lernen durfte, diese gemeinsamen Stunden mit Ihnen hatte. Das ist mehr, als ich mir je erhofft hatte.«

Sajhë verstummte. Der letzte Hauch Farbe wich aus seinem Gesicht, aus seinen Händen, bis nichts mehr übrig war.

Ein Gebet, das vor langer Zeit gesprochen wurde, kam ihr in den Sinn.

»Payre sant, Dieu dreiturier dels bons esperits.« Die altvertrauten Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen. »Heiliger Vater, gerechter Gott guten Geistes, gewähre uns die Gnade, das zu wissen, was du weißt, das zu lieben, was du liebst.«

Alice kämpfte gegen die Tränen an, während sie ihn in den Armen hielt und spürte, wie seine Atmung immer schwächer und leiser wurde, schließlich erstarb.


Das Verlorene Labyrinth
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