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Pic de Soularac

 

Sabarthès-Berge

 

Einen Moment lang ist alles still.

Dann zerschmilzt die Dunkelheit. Alice ist nicht mehr in der Höhle. Sie schwebt in einer weißen, schwerelosen Welt, klar und friedlich und still.

Sie ist frei. In Sicherheit.

Alice hat das Gefühl, aus der Zeit hinauszugleiten, als würde sie von einer Dimension in eine andere fallen. In diesem zeitlosen, endlosen Raum zerfließt die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Dann spürt sie einen jähen Ruck, als hätte sich die Falltür unter einem Galgen geöffnet, und sie fällt, trudelt durch den offenen Himmel nach unten, tiefer und tiefer, auf die bewaldeten Berge zu. Die frische Luft pfeift ihr in den Ohren, als sie immer schneller und unaufhaltsamer gen Erde stürzt.

Der brutale Aufschlag kommt nicht. Kein Zersplittern von Knochen auf schiefergrauem Gestein und Fels. Stattdessen landet Alice im Laufschritt, sobald ihre Füße den Boden berühren, stolpert einen steilen, holprigen Waldpfad entlang, zwischen zwei hohen Baumreihen hindurch. Die Bäume sind dicht und groß und ragen hoch über ihr auf, sodass sie nicht zwischen ihnen hindurchsehen kann.

Zu schnell.

Alice greift nach Zweigen, um ihre ungestüme Flucht zu dem unbekannten Ort zu bremsen, zu stoppen, doch ihre Hände gleiten einfach durch sie hindurch, als wäre sie ein Geist. Kleine Blättchen bleiben büschelweise in ihren Händen hängen, wie Haare aus einer Bürste. Sie kann sie nicht spüren, aber der Saft färbt ihre Fingerspitzen grün. Sie hält sie sich vors Gesicht, um den feinen, säuerlichen Geruch einzuatmen, aber sie kann nichts riechen.

Sie hat jetzt Seitenstechen, aber sie kann nicht stehen bleiben, weil etwas hinter ihr ist und immer näher kommt. Der Pfad unter ihren Füßen ist abschüssig. Alice spürt das Knirschen von Steinen und Geröll, merkt, dass es nicht mehr über weiche Erde, Moos und Zweige geht. Aber es gibt kein einziges Geräusch. Kein Vogel singt, keine Stimme ruft, nichts, nur ihr eigener hechelnder Atem ist zu hören. Der Pfad schlängelt und windet sich, führt sie mal in die eine, mal in die andere Richtung, bis sie schließlich um eine Biegung kommt und die lautlose Feuerwand sieht, die ihr den Weg versperrt. Eine Säule aus zuckenden Flammen, weiß und gold und rot, die ständig die Gestalt verändert.

Instinktiv hebt Alice die Hände vors Gesicht, um sich gegen die sengende Hitze zu schützen, obwohl sie sie nicht spürt. Sie sieht Gesichter in den tanzenden Flammen gefangen, sieht in stummer Qual verzerrte Münder, während das Feuer liebkost und verbrennt.

Sie will stehen bleiben. Sie muss stehen bleiben. Ihre Füße sind blutig und zerkratzt, ihre Röcke lang und nass, und sie bremsen sie, doch der Verfolger ist ihr jetzt dicht auf den Fersen, und etwas, dem sie nicht widerstehen kann, treibt sie weiter in die tödliche Umarmung des Feuers.

Ihr bleibt keine andere Wahl, als zu springen, um nicht von den Flammen verzehrt zu werden. Sie schraubt sich in die Luft wie eine Rauchfahne, schwebt hoch über den Gelb- und Orangetönen. Der Wind scheint sie noch höher zu tragen, sie von der Erde zu befreien.

Jemand ruft ihren Namen, eine Frauenstimme, aber sie spricht ihn seltsam aus.

Alaïs.

Sie ist gerettet. Frei.

Dann spürt sie an den Fußknöcheln den vertrauten Griff kalter Finger, die sie an die Erde fesseln. Nein, keine Finger - Ketten. Jetzt bemerkt Alice, dass sie etwas in den Händen hält, ein Buch, das von Lederbändern zusammengehalten wird. Sie begreift, dass er genau das haben will. Dass sie genau das haben wollen. Dass sie wegen des verlorenen Buches so zornig sind.

Wenn sie nur sprechen könnte, dann könnte sie vielleicht verhandeln. Doch ihr Kopf ist leer, hat keine Worte mehr, und ihr Mund ist unfähig, sie zu bilden. Sie tritt um sich, will sich befreien, doch die eiserne Umklammerung an ihren Beinen ist zu stark. Sie schreit los, als sie nach unten ins Feuer gezerrt wird, doch es kommt nur Stille.

Sie schreit wieder, spürt, wie ihre Stimme tief in ihrem Innern darum kämpft, gehört zu werden. Diesmal stürzen Geräusche auf sie zu. Alice spürt die reale Welt auf sich einstürmen. Klang, Licht, Geruch, Berührung, der metallische Geschmack von Blut in ihrem Mund. Bis sie für den Bruchteil einer Sekunde innehält, plötzlich von einer klaren Kühle umhüllt. Nicht die bekannte Kälte der Höhle, sondern etwas anderes, intensiv und leuchtend. Und darin kann Alice die flüchtigen Umrisse eines Gesichts erkennen, schön, undeutlich. Dieselbe Stimme ruft noch einmal ihren Namen.

Alaïs.

Ruft zum letzten Mal. Es ist die Stimme einer Freundin. Niemand, der ihr schaden will.

Alice versucht die Augen zu öffnen, denn sie weiß, dass sie verstehen würde, wenn sie sehen könnte. Sie kann es nicht. Nicht richtig.

Der Traum verblasst, lässt sie los.

Zeit zum Aufwachen. Ich muss aufwachen.

Jetzt ist eine neue Stimme in ihrem Kopf, anders als die erste. Das Gefühl kehrt in ihre Arme und Beine zurück, die aufgeschlagenen Knie brennen, und die Abschürfungen von dem Sturz tun weh. Sie spürt die Hand an der Schulter, spürt, wie sie unsanft zurück ins Leben gerüttelt wird.

»Alice! Alice, aufwachen!«

 


Das Verlorene Labyrinth
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