Kapitel 49
Carcassona
Die Vorhut der Kreuzfahrer nahm die Straße von Trebes und gelangte am Festtag von Saint-Nazaire in Sichtweite von Carcassonne. Die Wachen auf dem Tour Pinte entzündeten die Feuer. Die Glocken läuteten Alarm.
Am Abend des darauffolgenden Tages war das französische Lager auf der anderen Seite des Flusses bereits zu einer zweiten Stadt aus mächtigen Zelten und Pavillons gewachsen, mit Fahnen und goldenen Kreuzen, die in der Sonne glänzten. Adelige aus dem Norden, gaskonische Söldner, Soldaten aus Chartres und Burgund und Paris, Sappeure, Langbogenschützen, Priester und Tross.
Als die Vesperglocken schlugen, bestieg Vicomte Trencavel in Begleitung von Pierre-Roger de Cabaret, Bertrand Pelletier und einigen anderen die Brustwehr. Rauchfahnen stiegen in der Ferne auf. Der Fluss war ein silbriges Band.
»Es sind so unglaublich viele.«
»Nicht mehr, als wir erwartet haben, Messire«, entgegnete Pelletier.
»Was glaubt Ihr, wie lange wird es dauern, bis das Hauptheer eintrifft?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Pelletier. »Eine so große Streitmacht kommt nur langsam voran. Die Hitze wird sie zusätzlich bremsen.«
»Bremsen, ja«, sagte Trencavel. »Aufhalten, nein.«
»Wir sind bereit, Messire. Die Ciutat ist mit Vorräten eingedeckt. Die hourds sind fertig und schützen die Mauern gegen die französischen Sappeure. Alle gefährdeten Stellen und Schwachpunkte sind ausgebessert und gesichert worden. Sämtliche Türme sind bemannt.« Pelletier machte eine ausladende Handbewegung. »Die Taue, die die Mühlen im Fluss an Ort und Stelle hielten, sind gekappt worden, das Getreide wurde niedergebrannt. Die Franzosen werden wenig finden, um sich zu ernähren.«
Mit blitzenden Augen wandte sich Trencavel plötzlich de Cabaret zu.
»Wir sollten unsere Pferde satteln und einen Ausfall machen. Noch ehe die Sonne untergeht. Wir nehmen vierhundert unserer besten Männer, die besonders gut mit Lanze und Schwert umgehen, und verjagen die Franzosen von unserem Ufer. Wir überrumpeln sie. Was haltet Ihr davon?«
Pelletier konnte den Wunsch, einen Erstschlag zu führen, gut verstehen. Aber er wusste auch, dass das ein überaus törichter Schritt wäre.
»Auf der Ebene stehen Bataillone, Messire, routiers, kleine Kontingente der Vorhut.«
Auch Pierre-Roger de Cabaret mahnte zur Umsicht. »Opfert Eure Männer nicht, Raymond.«
»Aber mit einem Überraschungsangriff ...«
»Wir sind auf eine Belagerung vorbereitet, Messire, nicht auf eine offene Feldschlacht. Die Garnison ist stark. Die tapfersten, erfahrensten chevaliers sind da und warten auf die Gelegenheit, sich beweisen zu können.«
»Aber?«, seufzte Trencavel.
»Ihr würdet sie sinnlos opfern«, sagte er eindringlich.
»Euer Volk vertraut Euch, liebt Euch«, sagte Pelletier. »Sie werden ihr Leben für Euch geben, wenn es sein muss. Aber wir sollten warten. Bis sie zuerst angreifen.«
»Ich fürchte, dass mein Stolz uns in diese Lage gebracht hat«, sagte Trencavel leise. »Irgendwie hatte ich nicht erwartet, dass es so weit kommen würde, und so bald.« Er lächelte. »Bertrand, wisst Ihr noch, wie meine Mutter das Château immer mit Gesang und Tanz erfüllte? Die größten Troubadoure und Spielmänner kamen, um für sie aufzuspielen. Aiméric de Pegulham, Arnaut de Carcassès, sogar Guilhem Fabre und Bernat Alanham aus Narbonne. Immer haben wir gefeiert und geschmaust.«
»Ich habe gehört, dass es der schönste Hof im Pays d'Oc war.« Er legte eine Hand auf die Schulter seines Herrn. »Und so wird es wieder sein.«
Die Glocken verstummten. Aller Augen waren auf Vicomte Tren- cavel gerichtet.
Als er sprach, hörte Pelletier mit Stolz, dass aller Selbstzweifel aus der Stimme seines Herrn verschwunden war. Er war nicht mehr ein Junge, der in Erinnerungen an seine Kindheit schwelgte, sondern ein Heerführer am Vorabend einer Schlacht. »Lasst die Nebenpforten schließen und die Tore verriegeln, Bertrand, und bestellt den Kommandeur der Garnison in den donjon. Wir werden bereit sein, wenn die Franzosen kommen.« »Vielleicht solltet Ihr auch Verstärkung nach Sant-Vicens entsenden, Messire«, schlug de Cabaret vor. »Wenn sie angreifen, dann von dort. Und wir können es uns nicht leisten, den Zugang zum Fluss zu verlieren.«
Trencavel nickte.
Pelletier blieb noch eine Weile, nachdem die anderen gegangen waren, und starrte auf das Land hinaus, als wollte er sich dieses Bild einprägen.
Die Mauern von Sant-Vicens im Norden waren niedrig und nur spärlich von Türmen bewacht. Falls die Invasoren dort eindrangen, konnten sie sich im Schutz der Häuser bis auf Schussweite den Mauern der Cité nähern. Der südliche Vorort, Sant-Miquel, würde länger standhalten.
Es stimmte, Carcassonne war auf eine Belagerung vorbereitet. Die Vorratslager waren voll mit Brot, Käse, Bohnen, und reichlich Ziegen würden die Milch liefern. Aber es waren zu viele Menschen innerhalb der Mauern, und Pelletier machte sich Sorgen um die Wasserversorgung. Er ließ an jedem Brunnen eine Wache postieren, die das Wasser rationierte.
Als er aus dem Tour Pinte trat und auf den Hof hinausging, kehrten Pelletiers Gedanken erneut zu Simeon zurück. Zweimal hatte er François ins jüdische quartier geschickt, um Erkundigungen einzuziehen, doch er war beide Male unverrichteter Dinge zurückgekehrt, und Pelletier wurde von Tag zu Tag nervöser.
Er sah sich rasch auf dem Hof um und kam zu dem Schluss, dass man ein paar Stunden ohne ihn auskam.
Er ging zu den Stallungen.
Pelletier schlug den direktesten Weg über die Ebene und durch den Wald ein, obwohl ihm bewusst war, dass das Lager des Kreuzheers nicht allzu weit entfernt war.
Im jüdischen Viertel waren viele Menschen auf den Straßen, doch die Stimmung war unnatürlich ruhig und bedrückt. In jedem Gesicht, jung oder alt, standen Angst und Besorgnis. Alle wussten, dass der Kampf bald beginnen würde. Als Pelletier durch die schmalen Gassen ritt, blickten Frauen und Kinder mit ängstlich forschenden Augen zu ihm auf, suchten nach Hoffnung in seinem Gesicht. Er konnte ihnen keine geben.
Niemand hatte irgendetwas von Simeon gehört. Er fand die Unterkunft recht schnell, aber die Tür war verriegelt. Er stieg ab und klopfte an die Tür gegenüber.
»Ich suche einen Mann namens Simeon«, sagte er, als eine furchtsame Frau an die Tür kam. »Kennt Ihr ihn?«
Sie nickte. »Er ist mit den anderen aus Besièrs gekommen.« »Könnt Ihr Euch erinnern, wann Ihr ihn zuletzt gesehen habt?« »Vor einigen Tagen, bevor wir die schreckliche Nachricht über Besièrs gehört haben, ist er nach Carcassona gegangen. Ein Mann hatte ihn aufgesucht.«
Pelletier runzelte die Stirn. »Was für ein Mann?« »Ein höher gestellter Diener. Rote Haare«, sagte sie und zog die Nase kraus. »Simeon schien ihn zu kennen.«
Pelletier war sprachlos. Die Beschreibung passte auf François, aber wie konnte das sein ? Er hatte berichtet, dass er Simeon nicht gefunden habe.
»Soll das heißen, dass Simeon aus Carcassona nicht zurückgekommen ist?«
»Wenn er bei Verstand ist, wird er dort geblieben sein. Da ist er sicherer als hier.«
»Könnte er nicht doch zurückgekommen sein, und Ihr habt ihn nur nicht gesehen?«, fragte er verzweifelt. »Vielleicht habt Ihr geschlafen und seine Rückkehr nicht mitbekommen.«
»Nein, nein, Messire«, entgegnete sie und deutete auf das Haus auf der anderen Straßenseite. »Ihr seht es ja selbst. Vuèg.« Leer.