Kapitel 53
Ariege

 

Shelagh spürte, dass jemand im Raum war.

Sie versuchte den Kopf zu heben. Ihr war schlecht. Ihr Mund war trocken, und in ihrem Kopf pochte es dumpf, wie das monotone Brummen einer Klimaanlage. Sie konnte sich nicht bewegen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriffen hatte, dass sie jetzt auf einem Stuhl saß, die Arme fest auf den Rücken gebunden und die Fußknöchel an die Holzbeine geschnallt. Jemand bewegte sich, denn die nackten Fußbodenbretter knarrten.

»Wer ist da?«

Ihre Handflächen waren klebrig vor Angst. Schweiß rann ihr über den Rücken. Shelagh zwang die Augen auf, konnte aber noch immer nichts sehen. Sie geriet in Panik, warf den Kopf hin und her, blinzelte, versuchte das Licht zurückzuholen, bis sie merkte, dass man ihr wieder die Kapuze übergezogen hatte. Sie roch nach Erde und Schimmel.

War sie noch in dem Bauernhaus? Sie erinnerte sich an die Nadel, die Überraschung der raschen Spritze. Derselbe Mann, der ihr etwas zu essen gebracht hatte. Bestimmt würde bald jemand kommen und sie befreien. Oder?

»Wer ist da?« Es kam keine Antwort, obwohl sie jemanden in der Nähe spürte. Der widerwärtige Geruch von Aftershave und Zigaretten lag in der Luft. »Was wollen Sie?«

Die Tür öffnete sich. Schritte. Shelagh spürte, wie sich die Atmosphäre veränderte. Ihr Selbsterhaltungsinstinkt übernahm die Führung, und einen Moment lang versuchte sie verzweifelt, sich zu befreien. Doch der Strick zog sich nur noch fester zu und verstärkte schmerzhaft den Druck auf ihren Schultern.

Die Tür schloss sich mit einem bedrohlichen, schweren Schlag. Sie erstarrte. Einen Moment lang herrschte Stille, dann das Geräusch von jemandem, der immer näher auf sie zukam. Shelagh machte sich ganz klein auf ihrem Stuhl. Er blieb direkt vor ihr stehen. Sie spürte, wie sich ihr ganzer Körper zusammenzog, als zögen Tausende von winzigen Drähten an ihrer Haut. Wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist, ging er ein paarmal um den Stuhl herum, dann ließ er seine Hände auf ihre Schultern fallen.

»Wer sind Sie? Bitte nehmen Sie mir doch wenigstens die Kapuze ab.«

»Wir müssen uns noch einmal unterhalten, Dr. O'Donnell.« Eine Stimme, die sie kannte, kalt und präzise, ging ihr durch und durch, messerscharf. Jetzt wusste sie, dass es der Mann war, den sie erwartet hatte. Den sie gefürchtet hatte.

Plötzlich riss er den Stuhl nach hinten.

Shelagh schrie auf, stürzte machtlos in den leeren Raum. Aber sie schlug nicht auf. Zentimeter vor dem Boden fing er sie ah, so- dass sie fast flach auf dem Rücken lag, den Kopf im Nacken, die Füße in der Luft.

»Sie sind nicht gerade in der Position, irgendetwas zu erbitten, Dr. O'Donnell.«

Er hielt sie, wie es ihr vorkam, schier endlos lange so. Dann riss er den Stuhl urplötzlich wieder nach oben. Shelaghs Kopf schnellte durch die Wucht nach vorn. Sie verlor die Orientierung wie ein Kind beim Blindekuhspiel.

»Für wen arbeiten Sie, Dr. O'Donnell?«

»Ich krieg keine Luft«, flüsterte sie.

Er überging das. Sie hörte ihn mit den Fingern schnippen und dann das Geräusch, wie ein zweiter Stuhl vor sie gestellt wurde. Er setzte sich und zog sie dicht an sich heran, sodass seine Knie gegen ihre Oberschenkel drückten.

»Fangen wir noch einmal am Montagnachmittag an. Warum haben Sie Ihre Freundin ausgerechnet an der Stelle der Ausgrabungsstätte arbeiten lassen?«

»Alice hat nichts damit zu tun«, rief sie. »Ich hab sie nicht dorthin geschickt, sie ist einfach von allein hingegangen. Ich wusste es nicht einmal. Es war einfach ein Zufall. Sie weiß gar nichts.« »Dann erzählen Sie mir, was Sie wissen, Shelagh.« Aus seinem Munde klang ihr Name wie eine Drohung.

»Ich weiß gar nichts«, rief sie. »Ich hab Ihnen am Montag alles gesagt, was ich weiß, ich schwöre.«

Der Schlag kam aus dem Nichts, traf ihre rechte Wange und schleuderte ihren Kopf nach hinten. Shelagh schmeckte Blut im Mund. Es lief ihr über die Zunge und dann die Kehle hinab. »Hat Ihre Freundin den Ring gestohlen?«, fragte er seelenruhig. »Nein, nein, bestimmt nicht, ich gebe Ihnen mein Wort.«

Er wurde lauter. »Wer dann? Sie? Sie waren als Einzige lange genug in der Nähe der Skelette. Das hat Dr. Tanner mir erzählt.« »Warum hätte ich ihn denn nehmen sollen? Er hat keinerlei Wert für mich.«

»Warum sind Sie so sicher, dass Dr. Tanner ihn nicht genommen hat?«

»So was würde sie nicht tun. Ganz sicher nicht«, rief sie. »Es waren viele Leute in der Höhle. Und jeder von ihnen hätte ihn nehmen können. Dr. Brayling, die Polizei ...« Shelagh verstummte abrupt.

»Ganz recht, die Polizei«, sagte er. Sie hielt den Atem an. »Von denen hätte jeder den Ring nehmen können. Yves Biau, zum Beispiel.«

Shelagh erstarrte. Sie hörte ihn ein- und ausatmen, ruhig und ohne Hast. Er wusste es.

»Der Ring war nicht da.«

Er seufzte. »Hat Biau Ihnen den Ring gegeben? Um ihn dann weiterzuleiten?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, brachte sie heraus.

Er schlug erneut zu, diesmal mit der Faust, nicht mit der flachen Hand. Blut spritzte ihr aus der Nase und lief am Kinn herab. »Eines verstehe ich nicht«, sagte er, als wäre nichts passiert. »Wieso hat er Ihnen nicht auch das Buch gegeben, Dr. O'Donnell?«

»Er hat mir gar nichts gegeben«, würgte sie hervor.

»Dr. Brayling sagt, Sie haben das Ausgrabungshaus am Montagabend verlassen, und Sie hatten eine Reisetasche dabei.«

»Er lügt.«

»Für wen arbeiten Sie?«, fragte er sanft, freundlich. »Dann lassen wir Sie in Ruhe. Wenn Ihre Freundin nichts mit der Sache zu tun hat, besteht kein Grund, warum ihr etwas zustoßen sollte.«

»Sie hat nichts damit zu tun«, wimmerte Shelagh. »Alice weiß gar nichts ...«

Shelagh zuckte zusammen, als er ihr eine Hand an die Kehle legte und sie zunächst streichelte, wie eine zynische Liebkosung. Dann begann er zuzudrücken, fester und fester, bis sie das Gefühl hatte, als schlösse sich ein Eisenring um ihren Hals. Sie warf sich hin und her, versuchte nach Luft zu schnappen, aber er war zu stark.

»Haben Sie und Biau beide für sie gearbeitet?«, fragte er.

Genau in dem Moment, als sie spürte, dass sie das Bewusstsein verlor, ließ er los. Er begann, an den Knöpfen ihrer Bluse zu nesteln, einen nach dem anderen zu öffnen.

»Was machen Sie da?«, flüsterte sie und zuckte dann zusammen, als sie seine kalte, klinische Berührung auf der Haut spürte. »Kein Mensch sucht nach Ihnen.« Ein Klicken war zu hören, dann roch Shelagh Feuerzeugbenzin. »Es wird niemand kommen.«

»Bitte, tun Sie mir nicht weh ...«

»Haben Sie und Biau zusammengearbeitet?«

Sie nickte.

»Für Madame de l'Oradore?«

Sie nickte erneut. »Ihr Sohn«, brachte sie heraus. »Francois- Baptiste. Ich hab nur mit ihm gesprochen ...«

Sie spürte die Flamme nahe an ihrer Haut.

»Und was ist mit dem Buch?«

»Ich hab's nicht gefunden. Yves auch nicht.«

Sie spürte, dass er reagierte, dann zog er die Hand zurück. »Warum ist Biau dann nach Foix gefahren? Sie wissen doch, dass er in Dr. Tanners Hotel war?«

Shelagh wollte den Kopf schütteln, aber sogleich tobte eine neue Schmerzwelle durch ihren Körper.

»Er hat ihr irgendwas gegeben.«

»Es kann nicht das Buch gewesen sein«, stammelte sie.

Bevor sie weitersprechen konnte, wurde die Tür geöffnet, und sie hörte gedämpfte Stimmen von draußen. Dann drang ihr die Geruchsmischung von Aftershave und Schweiß in die Nase. »Wie sollte die Übergabe des Buches an Madame de l'Oradore stattfinden?«

»Francois-Baptiste.« Das Sprechen tat weh. »Ein Treffen mit ihm am Pic de - Ich hatte eine Nummer, die ich anrufen sollte.« Sie wich zurück, als sie seine Hand auf der Brust spürte.

»Bitte nicht ...«

»Sehen Sie, wie einfacher alles ist, wenn Sie kooperieren? Also, Sie werden diesen Anruf gleich für mich tätigen.«

Entsetzt versuchte Shelagh den Kopf zu schütteln. »Wenn sie herausfinden, dass ich Ihnen das erzählt habe, bringen sie mich um.« »Und ich bringe Sie und Mademoiselle Tanner um, wenn Sie es nicht tun«, sagte er ruhig. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« Shelagh konnte nicht wissen, ob er Alice hatte oder nicht. Ob sie in Sicherheit war oder auch hier irgendwo.

»Er erwartet, dass Sie ihn anrufen, wenn Sie das Buch haben, ja?«

Sie hatte nicht mehr den Mut zu lügen. Sie nickte. »Es geht ihnen weniger um den Ring als vielmehr um eine kleine Stein- scheibe, etwa so groß wie der Ring.«

Entsetzt begriff Shelagh, dass sie ihm gerade das Einzige erzählt hatte, was er noch nicht wusste.

»Wofür ist die Scheibe?«, fragte er.

»Ich weiß nicht.«

Shelagh hörte sich selbst aufschreien, als die Flamme über ihre Haut züngelte.

»Wofür - ist - sie?«, wiederholte er. Seine Stimme war völlig emotionslos. Shelagh war eiskalt. Ein grässlicher Geruch von verbranntem Fleisch stieg auf, süß und widerlich.

Sie konnte die einzelnen Wörter nicht mehr unterscheiden, als der Schmerz sie davontrug. Sie taumelte, fiel. Sie spürte, wie ihr Hals nachgab.

»Die kippt uns weg. Runter mit der Kapuze.«

Der Stoff wurde hochgerissen, kratzte über die Wunden und aufgeplatzte Haut.

»Passt in den Ring ...«

Ihre Stimme klang, als spräche sie unter Wasser. »Wie ein Schlüssel. Zum Labyrinth ...«

»Wer weiß sonst noch davon?« Er brüllte sie an, aber sie wusste, dass er sie jetzt nicht mehr erreichen konnte. Das Kinn fiel ihr auf die Brust. Er riss ihren Kopf wieder hoch. Ein Auge war zugeschwollen, doch das andere öffnete sich flackernd. Sie sah bloß eine verschwommene Masse Gesichter, die in ihr Blickfeld schwebten und wieder hinaus. »Sie weiß ja nicht ...«

»Wer?«, fragte er. »Madame de l'Oradore? Jeanne Giraud?« »Alice«, flüsterte sie.


Das Verlorene Labyrinth
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